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Heinrich Otto Hesse * 1873
Höxterstraße 14 (Eimsbüttel, Lokstedt)
HIER WOHNTE
HEINRICH OTTO
HESSE
JG. 1873
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
4.12.1938
Otto Heinrich Hesse, geb. am 12.9.1873 in Hamburg, Flucht in den Tod am 4.12.1938 in Hamburg
Höxterstraße 14 (früher: Werderstraße 14 Lokstedt)
Die in der Zeit von 1883 bis 1927 erbaute Hamburger Speicherstadt, war für mehr als dreißig Jahre das geschäftliche Zentrum von Otto Hesse. Seine 1906 gegründete Kaffeeagentur firmierte unter der Adresse Sandthorquai 20 (Sandtorkai).
Otto Hesses Vater David, in Stade geboren, hatte sich Ende der 1850er-Jahre in Hamburg angesiedelt und einen Getreidehandel gegründet, in dem einige Jahre später sein aus Stade zugezogener Bruder Sally mit eingestiegen war. Fortan führten die Brüder das Geschäft gemeinsam. Im Laufe der Jahre erweiterten sie ihre Aktivitäten, ihr Unternehmen diente auch als Lager für die Stader Saline. Erste Bohrungen fanden dort 1870 statt. Drei Jahre dauerte es, bis der erste Sack Salz gefüllt werden konnte. Der Exportverband deutscher Salinen ließ sich 1919 in Stade nieder.
Die Brüder Hesse hatten Familien gegründet bzw. geheiratet. Sally Hesse ehelichte zu einem unbekannten Zeitpunkt Alwine Emilie Olga Issleiber, David Hesse Rachel Rosalia, geb. Lion. Am 17.3.1867 kam deren Tochter Henriette Gertrud zur Welt und sechs Jahre später, am 12.9.1873, ihr jüngerer Bruder Otto. Die Eltern ließen ihre Kinder taufen. Die Familien lebten dort wo sie arbeiteten, am Pinnasberg auf St. Pauli, direkt an der Grenze zu Altona.
Schon in jungen Jahren erlitten Otto und seine Schwester schwere Schicksalsschläge: Die Mutter Rachel starb 1876, als die Kinder gerade drei und neun Jahre alt waren. Nur sieben Jahre später, 1883, fand ihr Vater David den Tod. Danach wuchsen Henriette und Otto vermutlich im Hause von Onkel und Tante auf. Doch wenige Jahre später, 1889, starb Onkel Sally. Zuvor wählte Henriette ihren Onkel als Trauzeugen bei ihrer Hochzeit 1886 mit dem Kaufmann Paul Eichenberg (1859–1927). Möglicherweise lebte Otto Hesse im Hause seiner Schwester.
Otto Hesse absolvierte seine Schulzeit an einem Realgymnasium, das er mit dem "Einjährigen" (Mittlere Reife) abschloss. Nach einer kaufmännischen Lehre zog es ihn zur Weiterbildung für zwei Jahre nach Bordeaux/ Frankreich, anschließend für drei Jahre nach England. Zu Beginn der 1900er-Jahre kehrte Otto Hesse nach Hamburg zurück und lebte in St. Georg. Eine erste Anstellung fand er in der Firma seines Schwagers Paul Eichenberg & Co., am Sandthorquai 1, die Futtermittel und Kaffee importierten. Die Kaffeeabteilung sollte aufgebaut werden und dafür schien Otto Hesse der Profilierteste zu sein. Aus dieser anspruchsvollen Arbeit reifte vielleicht bei ihm der Entschluss, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. So gründete er 1906 seine eigene Importfirma für Kaffee und ließ sich am Sandthorquai 20 nieder. Hamburg galt zu der Zeit als der größte Kaffeemarkt der "Alten Welt" und der Sandthorquai war das Zentrum. In den Speichern gab es die besten Lagermöglichkeiten, bei gleichbleibenden Temperaturen. Nebenan in Nummer 14 befand sich die Kaffeebörse, in der gekauft und verkauft wurde sowie die Räumlichkeiten des "Vereins der am Kaffeehandel beteiligten Firmen", in dem Otto Hesse Mitglied war. Denn an der Kaffeebörse durften nur Mitglieder des 1886 gegründeten "Vereins" handeln. In dieser Institution bündelten sich die Interessen vieler der am Kaffeehandel Beteiligten.
Die Geschäfte liefen gut, sodass Otto Hesse von St. Georg nach Winterhude und wenige Jahre später in die Rothenbaumchaussee zog. Zu diesem Zeitpunkt war er mit der christlichen Elisabeth Syamken verheiratet, deren gemeinsamer Sohn Eberhard Werner Erich Otto am 3.7.1916 zur Welt kam. Zu Elisabeth Hesses weiteren Lebensdaten fanden sich keine Hinweise.
Neben dem Geschäftsleben engagierte sich Otto Hesse ehrenamtlich als Handelsrichter. Dieses Wahlamt übte er in dem Zeitraum von 1917 bis 1922 aus.
Anfang der 1920er Jahre trat eine neue Frau in Otto Hesses Leben. Erika Helene Vogler, die am 19.10.1900 in Hamburg als Tochter von Otto Rudolf (1873–1957) und Olga (1878), geb. Stockfleth, geboren worden war. Die Hochzeit fand Ende Dezember 1922 in Lokstedt statt, welches noch nicht zu Hamburg gehörte. Sein gutes Einkommen versetzte ihn in die Lage, in der Lokstedter Werderstraße ein Grundstück zu erwerben, auf dem er für seine Familie ein Haus erbauen ließ. Zwei Jahre später, am 2.12.1924 erblickte Tochter Karin Vera das Licht der Welt. Im 19. Jahrhundert war Lokstedt noch ländlich geprägt. Die Einwohnerzahl belief sich auf ca. 4300 sowie Rinder und Pferde. Bereits 1891 erhielt Lokstedt als erstes Dorf eine Straßenbeleuchtung und ein Jahr später hielt die Hamburger Straßenbahn auch in Lokstedt. Viele gutsituierte Städter siedelten sich dort an, ließen sich Landhäuser bauen und genossen das vorstädtische Leben. Alles was man zum täglichen Leben benötigte gab es. Verschiedene Handwerksbetriebe zog es ebenfalls in das Dorf. Die guten Nachrichten hatten sich bis zur Stadt Altona herumgesprochen und bevor Lokstedt dort eingemeindet werden konnte, schlossen sich 1927 die Gemeinden Niendorf und Schnelsen zur Großgemeinde Lokstedt zusammen. Die Einwohnerzahl hatte sich weiter entwickelt, Viehzeug wurde nicht mehr gezählt.
Otto Hesse wusste sein Familie gut zu versorgen. So erwarb er unterschiedliche Aktienpakete namhafter Firmen, Obligationen der H.E.W. (Vattenfall) und kleinteilige Geldanlagen, sodass die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren kaum Einfluss auf das Leben der Familie nahm. Zudem gehörte ihm das Grundstück Gravensteiner Straße (Curveystraße), wo seine Schwiegereltern in einem Zweifamilienhaus wohnten. Seine Frau Erika besaß ein Stück Bauland in Klein Flottbek. Die beiden Kinder besuchten mittlerweile die Schule, Eberhard ging in das Heinrich-Hertz-Gymnasium an der Bundesstraße und Karin die Oberrealschule Niendorf.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 sollte sich das Leben der Familie entscheidend zum Negativen verändern. Die zuvor gewählte Gemeindevertretung aus KPD, SPD und Bürgerlichen gab es nicht mehr. Dies galt auch für die in den Jahren 1932 und 1933 gewählten Handelsrichter, u.a. Ludwig Delbanco und Simon Arendt, die zu Ende Juni 1933 aus ihren Ämtern ausschieden. So drängten die Nationalsozialisten nach und nach durch Verschärfungen von Gesetzen, Anordnungen und Verordnungen Juden aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben. Der Schulbesuch von Karin Hesse wurde zum Spießrutenlauf, sodass sie 1938 von der Schule abging und ihre Eltern sie zur Weiterbildung in die Schweiz schickten. Im September 1939 kehrte sie zurück und besuchte für einige Zeit fortbildende Schulen, um später als Stenotypistin tätig zu sein. Ihr Traum, das Abitur zu schaffen und ein Musikstudium aufzunehmen, zerplatzte.
Zuvor jedoch geriet auch der Betrieb von Otto Hesse ins Visier der "Arisierung". Eberhard Hesse, von den Nationalsozialisten als "Mischling ersten Grades" definiert, durfte ab dem 1. November 1937 den Kaffee- handel weiterführen, jedoch mit der Einschränkung, dass zukünftig ein "arischer" Gesellschafter den Betrieb leitete. Diesen fand man in dem Kaufmann Otto Partenheimer. Näheres zum ihm, ist nicht bekannt. Im September 1945 inhaftierte die Britische Militärregierung Otto Partenheimer auf unbestimmte Zeit. Gleichzeitig trat Erika Hesse als Kommanditistin in die Firma ein. Doch Otto Hesse blieb voraus schauend, so schenkte er im Mai 1938 seinem Sohn 4000 RM, seiner Tochter Karin einen Monat später 30.000 RM, woraus das Finanzamt Hamburg-Altstadt eine Vermögensverschiebung konstruierte. Wenige Monate später übertrug er seinen Grundbesitz an seine Frau.
Einhergehend mit dem Pogrom vom 9./10. November 1938 verhafteten Kripobeamte Otto Hesse, so die Aussage eines Augenzeugen (und mit ihm reichsweit ca. 30.000 männliche Juden). Otto Hesse verbrachte die nächsten Wochen im KZ Sachsenhausen. Was er dort erlebte, ist nicht überliefert. Anfang Dezember 1938 kehrte er nach Hause zurück.
Aus seiner Akte "Unnatürliche Todesfälle" erfuhren wir die Abfolge des 3. Dezember 1938: "seine Frau Erika begab sich gegen 22 Uhr in das im ersten Stock gelegene Schlafzimmer und legte sich schlafen. Otto Hesse blieb im Erdgeschoss in der Küche und bereitete seinen Suizid vor. Er öffnete die Gashähne und setzte sich auf einen Stuhl vor den Herd. So wurde er tot am nächsten Vormittag gegen 9.30 Uhr gefunden. Der Tod trat vermutlich in der Nacht gegen 2 Uhr ein". Die alarmierten Schwiegereltern fanden sich bei ihrer Tochter ein, um Beistand zu leisten. Die Gasvergiftung blieb nicht ohne Folgen für die Witwe, sie führte im Laufe der Jahre fast zur völligen Erblindung.
Erika Hesse trug nicht nur den Verlust ihres Mannes, sondern sie verlor auch ihr Zuhause. Dies galt auch für das Grundstück in der Gravensteiner Straße, wo ihre Eltern lebten, beides musste verkauft werden. Zusammen fanden sie eine neue Unterkunft in der Eppendorfer Haynstraße 27. Wenige Jahre später zog Erika Hesse in den Mittelweg 20 um, wo sie bis zu ihrem Tod 1969 lebte.
Nach 1945 stellte Erika Hesse u.a. einen Antrag auf Entschädigung. In diesem Verfahren, welches mit einem positiven Bescheid vom Juni 1956 endete, stellte die Behörde fest: "Es besteht kein Zweifel daran, dass er (Otto Hesse) aus Furcht vor weiteren Verfolgungen den Tod gesucht hat. Sein Tod ist daher ursächlich auf nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen zurück zu führen".
Eberhard Hesse, der als "Mischling ersten Grades" nur mit Ausnahmegenehmigung wegen besonderer Tapferkeit bei der Wehrmacht dienen durfte, war zuletzt als Unteroffizier in Italien stationiert. Während des Zweiten Weltkrieges – Ende 1942 bis Anfang 1943 – bombardierten amerikanische Flugzeuge die süditalienische Stadt Neapel und Umgebung. Möglicherweise fand Eberhard Hesse bei diesen Angriffen den Tod, sein Sterbedatum ist datiert auf den 15. Dezember 1942. Erst 1946 erfuhr die Familie hiervon.
Karin Hesse absolvierte in der Zeit von 1941 bis 1945, dass von den NS-Machthabern eingeführte Pflichtjahr in der Land- oder Hauswirtschaft. Hiervon waren alle Frauen unter 25 Jahren betroffen. Es sollte die Frauen auf ihre zukünftige Hausfrauen- und Mutterrolle vorbereiten. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus fand Karin Hesse eine Tätigkeit in der Gesundheitsabteilung der Britischen Militärregierung. Aus gesundheitlichen Gründen ging sie 1947 erneut in die Schweiz. Dort lernte sie ihren späteren Mann Arnold Gilbert kennen. Sie heirateten, bekamen zwei Kinder und lebten später in Portugal.
Welche Spuren fanden sich zu dem weiteren Lebensweg von Otto Hesses Schwester Henriette Gertrud Eichenberg? Die sechsfache Mutter lebte mit ihrer Familie in Groß Flottbek. Ihre Kinder kamen im Zeitraum von 1886 bis 1894 zur Welt. Der Vater, Paul Eichenberg, starb 1927 an Magenkrebs. Fünf derr Kinder konnten rechtzeitig in unterschiedliche Länder emigrieren. Die 1891 geborene Auguste Elisabeth, genannt Tüt, verheiratete Heymann, setzte ihrem Leben ein Ende. Sie starb am 26. Oktober 1941 im Krankenhaus. In Erinnerung an sie liegt vor ihrer letzten Adresse in Nienstedten ein Stolperstein (www.stolpersteine-hamburg.de).
Henriette Gertrud Eichenberg zog zunächst von Groß Flottbek in die Rothenbaumchaussee, später fand sie in der Winterhuder Agnesstraße bei Hertz eine neue Unterkunft. Auch Henriette Eichenberg blieb es nicht erspart, einen sogenannten Heimeinkaufsvertrag für Theresienstadt zu unterzeichnen und für angeblich gute Unterbringung sowie Verpflegung zu bezahlen. Am 19. Juli 1942 wurde Henriette Gertrud Eichenberg zusammen mit ihrer Vermieterin Anna Hertz und deren Sohn Artur nach Theresienstadt deportiert. Sammelstelle für diesen Transport war die Volksschule in der Schanzenstraße. Henriette Gertrud Eichenberg überlebte, denn im Rahmen der Intervention des Schweizer Bundesratsvorsitzenden, konnte sie am 5. Februar 1945, zusammen mit 1199 Häftlingen, durch einen vom Roten Kreuz organisierten Transport in die Schweiz gelangen. Dort blieb sie zunächst in einem Hotel in Quarantäne und unter ärztlicher Kontrolle. Ihr jüngster Sohn Kurth, der in Schweden verheiratet war, übernahm die Fürsorge und am 7. Oktober 1945 reiste Henriette Gertrud Eichenberg nach Stockholm.
Stand: August 2017
© Sonja Zoder
Quellen: 1; 2; 4; 5; 9; StaH 241-1 I 2276 Justizverwaltung 1816-1950, Verzeichnisse der Handelsrichter; 332-5 Standesämter 8522-74/1886 (Heiraten); 332-5 Standesämter 13283-2343/1900 (Geburten); StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 1142, 11682, 23490, 46466; div. Hamburger und Altonaer (Lokstedt) Adressbücher; Bürgerhaus Lokstedt "Lokstedter Abende 1991–2015", Hamburg 2015; Bajohr, "Arisierung in Hamburg", S. 360, Hamburg 1997; Lorenz, "Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933–1939, Bd. IV Dokumente", S. 66, Göttingen 2016; Gewehr, Stolpersteine in Hamburg-Altona, S. 401–405; URL: http://www.stolpersteine-hamburg.de; https://www.tracingthepast.org/minority-census; http://www.online-ofb.de/famreport.php?ofb=juden_nw&ID=I82749&nachname=HESSE&modus=&lang=de; https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Salinen_Deutschlands#Niedersachsen; https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_B%C3%B6rse#Kaffeeb.C3.B6rse jeweils am 1.6.2017; https://de.wikipedia.org/wiki/Neapel#Stadtumland am 19.6.2017; www.lexikon-drittes-reich.de/Pflichtjahr am 27.6.2017.