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Charlotte Heyne * 1896
Angerstraße 38 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)
HIER WOHNTE
CHARLOTTE HEYNE
JG. 1896
EINGEWIESEN 1943
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
‚HEILANSTALT‘
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 17.11.1944
Margarethe Charlotte Heyne, geb. 12.8.1896 in Charlottenburg (heute Berlin), aufgenommen im Hamburger Versorgungsheim Averhoffstraße 5 am 25.1.1943, verlegt in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 1.4.1943, abtransportiert am 16.8.1943 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof"), dort gestorben am 17.11.1944
Angerstraße 38 (Hohenfelde)
Margarethe Charlotte (Rufname Charlotte) Heyne kam am 12. August 1896 in Charlottenburg (heute ein Stadtteil von Berlin) zur Welt. Sie war das jüngste Kind des Friseurs und Dentisten (damalige Berufsbezeichnung für Zahnheilkundige ohne akademische Ausbildung) Waldemar Richard Heyne, geboren am 4. November 1866 in Schleitz (Thüringen), und seiner Ehefrau, der Schneiderin Emma Rosalie Margarethe, geborene Klinzmann, geboren am 22. Dezember 1869 in Magdeburg. Das Paar hatte am 12. Januar 1889 in Magdeburg geheiratet und dort auch zwei Söhne bekommen: Willi, geboren am 8. Juli 1889, und Kurt Leander, geboren am 14. September 1890. Die Tochter Elfriede Margarete kam am 26. Februar 1892 in Berlin zur Welt, wahrscheinlich auch die Söhne Fritz, geboren am 10. Januar 1903, und Friedrich, dessen Geburtsdatum wir nicht kennen. Elfriede Margarete starb im Alter von vier Monaten. Friedrich soll als Kleinkind gestorben sein. Fritz setzte 1919 seinem Leben ein Ende. Über die Hintergründe ist uns nichts bekannt.
Die Familie verlegte ihren Wohnsitz wahrscheinlich in den 1930er Jahren von Berlin nach Hamburg. Im Hamburger Adressbuch von 1937 war Waldemar Heyne als Dentist in der Straße Holsteinischer Kamp 110, Haus 3, in Barmbek, seit 1938 in der Angerstraße 38, Hinterhaus, in Hohenfelde eingetragen.
Die Eltern hatten bei Charlotte seit ihrer frühesten Kindheit gesundheitliche Beeinträchtigungen wahrgenommen. Wir wissen nicht, ob sie Charlotte auch schon ärztlich hatten untersuchen lassen. Jedenfalls scheint sie immer zu Hause gewohnt zu haben.
Am 4. Dezember 1942 starb Charlotte Heynes Mutter an Herzschwäche. Wahrscheinlich war ihr inzwischen 76 Jahre alter Witwer nun nicht mehr in der Lage, angemessen für seine Tochter zu sorgen. Seit dem 25. Januar 1943 lebte die 46jährige Charlotte Heyne im Versorgungsheim der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten Hamburg in der Averhoffstraße 5 im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Nur einen Monat später wandte sich das Versorgungsheim an die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) mit dem Ziel, Charlotte Heyne nach dort zu verlegen. Zur Begründung schrieb das Versorgungsheim: "Nach einem ärztlichen Gutachten unseres Arztes, Herrn Dr. Rose, ist unsere Insassin Charlotte Heyne, geb. 12.8.1896 zu Charlottenburg, nicht für die Anstalt Averhoffstrasse geeignet. Es handelt sich um eine hochprozentig schwachsinnige Patientin, deren Weiterbehandlung von dort übernommen werden soll. Gez. Unterschrift, Versorgungsheim Averhoffstraße."
Am 1. April 1943 wurde Charlotte Heyne in die Alsterdorfer Anstalten verlegt. Dort wurde die Diagnose Mikrocephalus und Imbezillität gestellt. (Mikrozephalie ist eine Entwicklungsstörung, bei der der Kopf eine vergleichsweise geringe Größe aufweist; sie geht für den/die Betroffenen mit einer geistigen Behinderung einher, deren Intensität vom Ausmaß und von den Begleitfehlentwicklungen abhängt. Imbezillitätist ein nicht mehr gebräuchlicher Ausdruck für eine mittelgradige geistige Behinderung).
Während ihres nur 4 ½ Monate dauernden Aufenthalts in den Alsterdorfer Anstalten wurde Charlotte Heyne als "ruhig und ordentlich" wahrgenommen. Sie habe sich in ihrer neuen Umgebung sofort eingefügt und kein Befremden gezeigt. Charlotte Heyne wurde als "im Wesen sehr anschmiegsam und liebebedürftig" beschrieben. Mit den Mitpatientinnen sei sie gut ausgekommen. Ihre Sprache sei jedoch so undeutlich gewesen, dass häufig habe nachgefragt werden müssen, bis der Sinn ihrer Worte verstanden wurde.
Durch die schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") in Wien "verlegt". Unter ihnen befand sich Charlotte Heyne.
Ihr Vater, der nach den Bombenschäden in Hamburg eine Unterkunft in Dersau am Plöner See gefunden hatte, erhielt mit Datum vom 13. August 1943 [!] folgendes kurzes Schreiben: "Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass infolge Bombenschadens in unserer Anstalt ihre Tochter Charlotte am 16.8.1943 in die Pflegeanstalt Wagner v. Jauregg in Wien verlegt worden ist."
Kurz nach ihrer Ankunft in Wien wurde Charlotte Heyne am 29. August 1943 angeblich wegen "Rotlaufs" in den Infektions-Pavillon 19 gebracht. ("Rotlauf" ist eine bakterielle Infektion der Haut, die über kleine Verletzungen an der Körperoberfläche in tiefere Hautschichten eindringt). Charlotte Heyne verbrachte die meisten Tage im Bett. Ihre Krankenakte enthält die Bemerkung, sie sei vollkommen stumpf und teilnahmslos, spreche unverständlich und müsse zu allem angehalten werden.
Im März 1944 füllten die Wiener Anstalten den "Meldebogen I" aus, mit dem die Anstalten während der ersten Euthanasiephase von 1939 bis 1941 wichtige Daten der Insassinnen und Insassen an die Euthanasiezentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, hatten melden müssen. Die Angaben auf diesen individuellen Meldebögen bildeten die Entscheidungsgrundlage dafür, ob Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Krankheiten in einer der sechs Gasmordanstalten getötet werden sollten. Über Charlotte Heyne wurde eingetragen, sie sei seit der Geburt schwachsinnig, vollkommen ungeordnet, unrein, spreche nichts, müsse zu allem angehalten werden. Für Arbeit sei sie "unverwendbar". Die Krankenakte gibt keinen Aufschluss darüber, welches Ziel mit diesem Meldebogen lange nach der zentralen Steuerung der Krankenmorde verfolgt wurde, ob er nach Berlin geschickt wurde, bzw. ob er auf Charlotte Heynes weiteres Schicksal Einfluss hatte.
Charlotte Heynes Körpergewicht, das in Alsterdorf zuletzt 38 kg betragen hatte, war im Mai 1944 auf 33 kg und im November 1944 auf 26 1/2 kg zurückgegangen.
Waldemar Heyne erkundigte sich mehrmals nach seiner Tochter. Anfang Oktober 1944 erhielt er folgende Nachricht: "Auf Ihre Karte vom 22. v. M. wird Ihnen mitgeteilt, dass bei dem hochgradigen Schwachsinn ihrer Tochter nicht anzunehmen ist, dass ihr die Überführung in eine andere Anstalt überhaupt zum Bewusstsein gekommen ist. Im Anschluss einer Erkrankung an Rotlauf hat die Patientin einige Kilogramm Körpergewicht abgenommen, befindet sich sonst aber wohl. Gezeichnet Doktor Wunderer".
Über eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Charlotte Heyne, die zu ihrem Tod hätte führen können, findet sich nichts in ihrer Krankenakte.
Sie starb am 17. November 1944 angeblich an Lungenentzündung.
Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.
Es kann davon ausgegangen werden, dass auch Charlotte Heyne keines natürlichen Todes starb.
Stand: Juli 2024
© Ingo Wille
Quellen: Adressbuch Hamburg; StaH 332-5 Standesämter, Standesamt Hamburg 05, Sterberegister, Nr. 903/1942 (Margarethe Rosalie Heyne); Standesamt Magdeburg, Geburtsregister, Nr. 2564/1890 (Kurt Leander Heyne), Heiratsregister, Nr. 16/1889 (Richard Heyne/Emma Rosalie Margarethe Klinzmann); Landesarchiv Berlin, Standesamt IX, Geburtsregister Nr. 514/1892 (Elfriede Margarethe Heyne), Standesamt Berlin X A, Sterberegister Nr. 866/1892 (Elfriede Margarethe Heyne); Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 202 (Charlotte Heyne). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff..