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Marie Jeworek (geborene Groth) * 1885
Wetternstraße 6 (Harburg, Harburg)
HIER WOHNTE
MARIE JEWOREK
GEB. GROTH
JG. 1885
EINGEIWESEN 1937
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
HEILANSTALT AM STEINHOF
ERMORDET 24.1.1945
Marie Jeworek, geb. Groth, geb. am 9.5.1885 in Harburg, eingewiesen in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission am 2.5.1918, aufgenommen in die "Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg" am 4.5.1926, überwiesen in die Alsterdorfer Anstalten am 29.4.1937, "verlegt" in die "Landesheilanstalt Am Steinhof" in Wien am 14.8.1943, ermordet am 24.1.1945
Wetternstraße 6, Stadtteil Harburg-Altstadt
Marie Groth kam als Tochter des Arbeiters Heinrich Groth (18.4.1859–3.11.1932) und seiner Frau Anna Groth, geb. Rosenbrok, (9.12.1857–13.8.1936) zur Welt. Seit ihrem 4. Lebensjahr litt sie an Krämpfen, die von Jahr zu Jahr zunahmen. Außerdem war sie leicht reizbar. Es ist nicht bekannt, ob und wie Heinrich und Anna Groth versuchten, diese gesundheitlichen Probleme ihrer Tochter zu beheben.
Diese waren offenbar nicht mehr so belastend, als Marie Groth den Arbeiter Hermann Jeworek kennen lernte und mit ihm eine Familie gründete. Mit der Geburt der drei Brüder Hermann (*2.7.1906), Friedrich (*9.2.1908) und Kurt Jeworek begann bald ein neuer Lebensabschnitt für die jungen Eltern.
Warum der spätestens im Mai 1917 jäh endete, konnte bisher nicht geklärt werden. Am 19. Mai 1917, so bescheinigte die Polizeidirektion der Stadt Harburg, bezog Marie Jeworek als neue Bewohnerin das städtische Armenhaus in der Wetternstraße 6. Was sich hinter dieser kurzen polizeilichen Ummeldung verbirgt, lässt sich nur erahnen. Für Marie Jeworek brach offensichtlich im Alter von 32 Jahren eine Welt zusammen. Wir wissen nicht, wo ihr Mann und ihre Kinder sich befanden, als sie sich wohl in einer aussichtslosen privaten Situation an die Armenfürsorge der Stadt Harburg wandte und in der Herberge in der Wetternstraße eine neue Bleibe fand.
Am 2. Mai 1918 wurde Marie Jeworek in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen. Nach einer eingehenden Untersuchung lautete die Diagnose der Ärzte: Epilepsie mit Seelenstörung. Außerdem stellte das Pflegepersonal bald fest, dass sie aus nichtigem Anlass immer öfter "ausrastete" und in dieser Situation ihre Kleidung zerriss. Einige spontane Fluchtversuche wurden schnell unterbunden. In der Anstalt beschäftigte sie sich weitgehend mit sich selbst und nahm kaum Kontakt zu anderen auf. Sie galt als unfreundlich und war deshalb weder bei ihren Mitpatientinnen noch bei den Betreuerinnen besonders beliebt.
Am 4. Mai 1926 wurde sie aus unbekanntem Grund in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg überführt. Bei der Aufnahme hinterließ sie zunächst einen guten Eindruck. Doch schon wenige Stunden später sorgte sie für ein anderes Bild, als sie mit einer Pflegerin aneinandergeriet und anschließend ihr Bettzeug zerriss.
In den folgenden Wochen und Monaten erlebte das Personal sie als sehr widersprüchlich: Mal zeigte sie sich als fleißige Person, mal als zänkische Patientin, die sich gern mit ihresgleichen und dem Pflegepersonal anlegte. Die epileptischen Anfälle traten jetzt öfter und mit stärkerer Wirkung auf. Manchmal verletzte sie sich dabei, so dass sie anschließend ärztlich versorgt werden musste. Auch ihr Umfeld war davon betroffen. Viele Mitpatientinnen gingen ihr aus dem Weg. Hin und wieder überraschte sie mit gespielten Selbstmordszenen und laut vorgetragenen Selbstmordgedanken alle, die gerade in ihrer Nähe waren. Wie ernsthaft sie sich mit diesen Überlegungen befasste, konnte keiner genau sagen.
Am 29. April 1937 wechselte sie erneut ihren Aufenthaltsort. Jetzt waren die Ärzte und das Pflegepersonal der Alsterdorfer Anstalten gefordert. Die Hintergründe dieser Verlegung bleiben im Unklaren. Wollte die Hamburger Fürsorgebehörde mit diesem Umzug die Unterhaltskosten reduzieren? Oder hatten die Angehörigen, die sich in Lüneburg so gut wie gar nicht hatten sehen lassen, einen entsprechenden Wunsch geäußert, um ihren Anfahrtsweg zu verkürzen? Oder versprachen alle Beteiligten sich von dieser Verlegung eine bessere Heilungsperspektive? Wir kennen die Antwort nicht.
Wenn die Angehörigen auf eine Besserung der Lage gehofft haben sollten, wurden sie enttäuscht. Auch die Alsterdorfer Ärzte konnten Marie Jeworek nicht heilen. Ihr Befinden schwankte weiterhin. Es gab Tage, an denen sie fleißig in der Gemüsestube mithalf, und andere, an denen sie bei einem Anfall nicht wusste, wie ihr geschah, und dabei wild um sich schlug. Auch danach war sie oft lange nicht ansprechbar.
Als im Sommer 1943 unter dem fadenscheinigen Vorwand, dass die Alsterdorfer Anstalten wegen schwerer Bombenschäden nur noch bedingt funktionsfähig seien, der Exodus eines Großteils der "Zöglinge" begann, gehörte Marie Jeworek am 16. August 1943 zu den 228 Patientinnen, die in die Landesheilanstalt Am Steinhof in Wien abtransportiert wurden. Ausschlaggebend für die Auswahl der Betroffenen waren für Pastor Friedrich Lensch und Oberarzt Gerhard Kreyenberg in erster Linie negative Beurteilungen dieser Patientinnen, auf die sie in den entsprechenden Krankenakten stießen.
Von den 228 Frauen und Mädchen dieses Alsterdorfer Transports lebten Ende 1945 nur noch 32. Im Steinhof regierte der Tod. Das Massensterben in dieser Einrichtung geschah systematisch durch Überdosierung von Medikamenten, durch mangelhafte Zuwendung und durch die Nichtbehandlung von Krankheiten, aber vor allem durch Hunger. Diese absolut unzureichende Verpflegung hatte auch für Marie Jeworek fatale Folgen. Als sie am Steinhof ankam, wog sie 42 kg, Ende 1944 waren es nur noch 28 kg.
Am 24. Januar 1945 schloss sie an diesem Ort des Grauens – wie so viele vor ihr und so viele nach ihr – für immer die Augen.
Stand: Juni 2019
© Klaus Möller
Quellen: Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939–1945, Hamburg 2017; Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf; 100 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg. Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg (Hrsg.), Lüneburg 2001; Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933–1945, Rotenburger Anstalten d. I. M. (Hrsg.), Rotenburg 1992; Harburger Adressbücher.