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Gertrud Becker * 1895
Braamkamp 42 (Hamburg-Nord, Winterhude)
HIER WOHNTE
GERTRUD BECKER
JG. 1895
EINGEWIESEN 1931
ALSTERDORF
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 15.9.1944
Gertrud Clara Edith Becker, geb. 31.7.1895 in Hamburg, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 4.2.1931, "verlegt" am 16.8.43 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 15.9.1944
Braamkamp 42 (Winterhude)
Gertrud Clara Edith Becker kam am 31. Juli 1895 in Hamburg als jüngstes von acht Kindern zur Welt. Sie wurde evangelisch-lutherisch getauft. Die Eltern, der Kaufmann Carl Johann Julius (auch: Carlos Juan Julio) Becker und seine Ehefrau Agathe, geb. Schmitz, geboren am 16. Mai 1855 in Hamburg, hatten am 26. Mai 1881 in Caracas, Venezuela, geheiratet. Der Ehemann soll während des Ersten Weltkrieges gestorben sein. Sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort, den Todestag, und die Todesursache kennen wir nicht.
Das älteste der acht Kinder, Enriqueta Luise Agata, war am 6. Mai 1882 in Caracas zur Welt gekommen. Bei ihrer Eheschließung im Jahre 1905 in Hamburg mit dem Kaufmann Jürgen Nagel lebte ihr Vater in Caracas, ihre Mutter in Hamburg.
Das zweitgeborene Kind, Kurt, dessen Geburtsdaten wir nicht kennen, soll später als Kaufmann in Amerika gelebt haben.
Martha Friederike Johanna Becker, geboren am 27. Juli 1887 in Caracas, heiratete 1912 in Hamburg den 1880 in Hamburg geborenen "Kommis" (Handlungsgehilfen) James Archibald Hosie. Sie soll 1926 an Lungentuberkulose gestorben sein.
Die Kinder Hans und Ella starben angeblich mit sieben Jahren bzw. mit sechs Monaten jeweils an Grippe.
Paul, das sechste der Becker-Kinder, soll im Ersten Weltkrieg umgekommen sein.
Der am 15. Juni 1891 in Hamburg geborene Johann Carl Benno verlor sein Leben am 20. Januar 1943 wahrscheinlich als Kriegsteilnehmer in Metz.
Die Familie lebte um 1895 mehrere Jahre in Hamburg-Harvestehude, Mittelweg 57. Sie verlegte ihren Wohnsitz zeitweise nach Caracas, wie die Geburtsorte der Kinder erkennen lassen. Auch Gertrud Becker lebte eine gewisse Zeit in Venezuela. Genaue Daten kennen wir nicht.
Gertrud Beckers Geburt soll normal verlaufen sein. Einer Narkose zur operativen Entfernung eines Blutschwamms, die im Alter von drei Monaten vorgenommen worden sein soll, wurden bleibende, nicht näher bestimmte Schädigungen zugeschrieben. Das Kind konnte – wie die Mutter bei einer Untersuchung durch die Hamburger Fürsorgebehörde berichtete – mit einem Jahr laufen und begann mit zwei Jahren zu sprechen.
Von diesem Alter an lebte Gertrud Becker in Venezuela. Sie nahm dort stark zu und wurde auffallend korpulent. Das Mädchen war nicht so lebhaft wie andere Kinder in dem Alter, soll aber mit zwei Jahren "sauber" gewesen sein. 1899 – Gertrud war jetzt vier Jahre alt – soll sich die Familie wieder in Hamburg niedergelassen haben. (Im Hamburger Adressbuch aus dieser Zeit waren entsprechende Eintragungen jedoch nicht zu finden.) Ein Arzt in Hamburg führte Gertrud Beckers Korpulenz auf ihren Tropenaufenthalt zurück. Gertrud wurde als heiter, aber in ihrer Entwicklung zurückgeblieben, beschrieben. Weil das Mädchen in seiner "Sprachfähigkeit behindert" war, erhielt es bis 1914 Hausunterricht. Ein niedergelassener Arzt hatte bei ihr "Mongolismus" (Trisomie 21) erkannt. Diese Diagnose wurde jedoch später nicht mehr erwähnt. Demgegenüber äußerte der Anstaltsarzt, SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg 1938 gegenüber der Hamburger Fürsorgebehörde, Gertrud Becker leide an "Kretinismus mit Schwachsinn".
Seit 1914 lebte Agathe Becker mit Gertrud bei der Tochter Enriqueta Luise Agata Nagel, die mit dem Inhaber einer Alkoholfabrik verheiratet war. Die Familie wohnte bis 1927 in einer Villa in Groß Flottbek in wirtschaftlich guten Verhältnissen. Als das Unternehmen dann infolge der stark rückläufiger Geschäftsentwicklung "unter Aufsicht" (gemeint ist vermutlich Konkursverwaltung) gestellt wurde, musste die Villa verkauft werden. Die Familie hatte sich einzuschränken und mietete eine kleine Vier-Zimmer-Wohnung, in der für Agathe und Gertrud Becker kein Platz war. Sie zogen nun zu einer der verheirateten Schwestern im Senator Erich Soltow Stift im Braamkamp 42 in Winterhude.
Die 1930 inzwischen 75 Jahre alte Agathe Becker sorgte sich um Gertruds Zukunft, sollte sie versterben. Sie stellte Gertrud der Fürsorgebehörde mit dem Ziel vor, sie in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) aufnehmen zu lassen. Gertrud Becker wurde aber am 30. Juli 1930 zur Beobachtung zunächst in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg eingewiesen.
Die Anstalt äußerte sich gegenüber Gertruds Mutter wie folgt: "Ihre Tochter, Fräulein Gertrud Becker, leidet an einem Schwachsinn mit Neigung zu leichten Erregungszuständen, der auf eine von früher Kindheit an bestehende Unterentwicklung der Schilddrüse zurückzuführen ist. Ihre Tochter kann ohne weiteres in der hiesigen Anstalt bleiben; sie wird aber auch für eine entsprechende Abteilung der Alsterdorfer Anstalten für geeignet gehalten, wodurch geringere Kosten für ihre Unterbringung entstehen. Sicher ist die Kranke nicht imstande, sich draußen im Leben allein zu halten und zu besorgen." (Als Schwachsinn wurde eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche bezeichnet. Der Begriff wird nicht mehr verwendet).
Am 4. Februar 1931 wurde Gertrud Becker in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Sie wog bei ihrer Aufnahme 68 kg. In ihrer Patientenakte ist vermerkt, dass sie bei ihrer Aufnahme zeitlich und örtlich gut orientiert war, ihre persönlichen Daten und die Jahreszeiten kannte, die Konfessionen katholisch/evangelisch unterscheiden und einfache Aufgaben der Grundrechenarten lösen konnte.
Gertrud Becker litt in Alsterdorf unter starkem Heimweh. Sie verhielt sich laut Akteneintragung still und freundlich, beteiligte sich aber nicht am Anstaltsleben und lehnte den Kirchgang mit der Begründung ab: "Ich bin für so etwas nicht zu haben, ich bin es nicht gewohnt." Im Juni sei sie zutraulicher geworden und habe einige Lieder auf ihrer Waldzither gespielt.
1932 und 1933 wurde Gertrud Becker weiterhin als freundlich beschrieben. Sie gäbe keinen Anlass, sie zu tadeln, wurde mit leichter Hausarbeit beschäftigt und stopfte Strümpfe. Für Geselligkeit soll sie weiterhin kein Interesse gezeigt haben.
Im September 1933 bestimmte die Hamburger Wohlfahrtsbehörde, dass Gertrud Becker in die Staatlichen Wohlfahrtsanstalten zu verlegen sei. Die Alsterdorfer Anstalten drängten darauf, Gertrud in Alsterdorf zu belassen: "Die sehr besorgte Mutter weiß sie hier gut geborgen und freut sich, sie hier zu wissen. Eine Verlegung in das Versorgungsheim würde, wie die Verhältnisse liegen, eine sehr große Härte bedeuten, besonders für ihre Mutter, die früher in sehr guten Verhältnissen lebte und sehr viel Kummer hat durchmachen müssen. Da wir dies nicht übers Herz bringen können, erklären wir uns bereit, wenn die Behörde es nicht kann, unsererseits ein Opfer zu bringen und Gertrud Becker fortan zu einem Kostgeldsatz von RM 1,-- täglich zu verpflegen, obgleich dadurch unsere Selbstkosten nicht gedeckt sind." Gertrud Becker blieb in Alsterdorf.
1934 veränderte sich der Ton der Akteneinträge. Gertrud Becker wurde nun - wie auch in den Folgejahren - als zänkisch und als unfreundlich gegenüber den Mitpatientinnen beschrieben, von denen sie sich getrennt gehalten habe.
Ihre Mutter bat oft um Besuchserlaubnis. Auch ihre Schwester Enriqueta Luise Agata, die sich selbst Luisita nannte, war um Gertrud Becker bemüht.
Agathe Becker starb am 27. März 1943. Sie hatte zuletzt bei ihrer Tochter Luisita in der Straße Pilatuspool 3 gewohnt.
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") ab. Unter ihnen befand sich Gertrud Becker.
Soll es Gertrud Becker im Juni 1944 noch "recht gut" gegangen sein, so änderte im September 1944 die gesundheitliche Beurteilung dramatisch. "Leidet an starken Durchfällen, Patient verfällt rasch."
Wenig später starb Gertrud Becker am 15. September 1944, angeblich an Gastroenteritis (Magen-Darm-Entzündung).
Als Luisita Nagel um Mitteilung über die Umstände bat, unter denen ihre Schwester verstorben sei, erhielt sie als Antwort: "Ihre Schwester Gertrud Becker ist sehr rasch an einer akuten infektiösen Darmerkrankung gestorben. Sie war nur einige Tage bettlägerig. Ihr Geburtstagspakerl hat ihr noch Freude gemacht. Durch Fliegerangriffe wurde sie nicht beunruhigt. Das Eigentum der Patientin wird Ihnen zugesandt. Gez. Dr. Wunderer".
Die Anstalt in Wien war während der "Aktion-T4" (Tarnbezeichnung für das "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten, so genannt nach dem Sitz der Berliner Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4) Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten im August 1941 wurde in den bisherigen Zwischenanstalten, auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Dies lässt sich auch an dem Schicksal der Hamburger Patientinnen erkennen. Von den 228 Mädchen und Frauen aus Alsterdorf starben 196, von den 72 Mädchen und Frauen aus Langenhorn kamen 61 ums Leben. Gertrud Becker war eine von ihnen.
Stand: August 2021
© Ingo Wille
Quellen: Adressbuch Hamburg, div. Jahrgänge; StaH 332-5 Standesämter 1472 Geburtsregister Nr. 1472/1895 Gertrud Clara Edith Becker, 6362 Geburtsregister Nr. 1516 Carl Julius Johann Becker, 9064 Geburtsregister Nr. 827/1891 Johann Carl Benno Becker, 9520 Heiratsregister Nr. 297/1905 Jürgen Nagel/Enriqueta Luisa Agata Becker, 9546 Heiratsregister Nr. 400/1912 James Archibald Hosie/Martha Friederike Johanna Becker, 1166 Sterberegister Nr. 179/1943 Agathe Becker; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 386 Gertrud Becker.