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Hella Beer * 1923
Eißendorfer Straße 26 (Harburg, Harburg)
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HELLA BEER
JG. 1923
FLUCHT 1940 BELGIEN
INTERNIERT MECHELEN
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ
Hella Beer, geb. am 16.9.1923 in Harburg, deportiert aus dem Sammellager Mechelen (Belgien) nach Auschwitz am 19.4.1943, ermordet
Eißendorfer Straße 26, Harburg-Altstadt
Hella Beer wurde als zweites Kind ihrer jüdischen Eltern Robert (*24.12.1894) und Salka Beer, geb. Stapelfeld, (*10.11.1897) geboren, die beide aus Osteuropa auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Harburg gelangt waren. Ihr Bruder Julius hatte ein Jahr vor ihr das Licht der Welt erblickt.
Ihre Eltern führten zusammen mit ihrem Onkel David Linden (22.10.1886–12.4.1940) und seiner Frau Klara Linden, geb. Stapelfeld, (31.3.1891–22.8.1941) das Manufakturwarengeschäft und Möbelhaus Stapelfeld in der Lindenstraße 50 (heute: Julius-Ludowieg-Straße), das ihr Großvater Josef Stapelfeld vor dem Ersten Weltkrieg in Harburg eröffnet hatte.
Hella und Julius Beer verlebten eine unbeschwerte Kindheit in ihrer Geburtsstadt, wie Julius Beer erinnerte, als er als Besucher an diesen Ort im Jahre 1990 nach all dem Leid, das ihm und seiner Familie in der NS-Zeit widerfahren war, im Alter von 68 Jahren, ohne lange zu überlegen, sagte: "You can get a man out of Harburg, but you can´t get Harburg out of a man.”
Ein großer Tag im Leben der Familie Beer war sicherlich der 4. Dezember 1928, als Robert Beer vom Lüneburger Regierungspräsidenten in einer Feierstunde offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Robert und Salka Beer waren nun endgültig mit ihren Kindern in ihrer neuen Heimat "angekommen". Sie waren Deutsche wie ihre Nachbarn und ihre Freundinnen und Freunde, mit denen sie zusammenlebten und zusammenspielten. Sie hatten zwar noch Verwandte, die in Osteuropa geblieben waren, aber Osteuropa war ihnen fremd geworden. Ihr neues Zuhause war die preußische Industriestadt Harburg a. d. Elbe.
Mit 10 Jahren wechselte Hella Beer von der Grundschule zur nahen Harburger Mittelschule für Mädchen in der Eißendorfer Straße, dem heutigen Domizil der Goethe Schule Harburg. Ihr Bruder Julius besuchte inzwischen das Stresemann-Realgymnasium am Postweg in Heimfeld.
Der 30. Januar 1933, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg den Vorsitzenden ("Führer") der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannte, wurde zu einem Wendepunkt im Leben der Familie Beer. Die Nationalsozialisten vor Ort ließen nach der Vertreibung des Harburger Oberbürgermeisters Walter Dudek (SPD) aus seinem Amtssitz keinen Zweifel daran, dass die einheimischen Juden nichts Gutes von ihnen zu erwarten hatten. Von Stund an nutzten sie jede Gelegenheit, um noch stärker als bereits in den Jahren davor laut und offen gegen Juden zu hetzen.
Am 1. April 1933 war auch das "Manufakturwarengeschäft und Möbelhaus Stapel-feld" von dem reichsweiten Boykott betroffen, zu dem die NSDAP aufgerufen hatte. Wie alle anderen Menschen in Deutschland sollten auch die Harburgerinnen und Harburger davon abgehalten werden, jüdische Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen zu betreten. Wie in den "Harburger Anzeigen und Nachrichten" zu lesen war, begannen "die Maßnahmen der Nationalsozialisten ... mit dem Glockenschlag 10 Uhr. Eine Fahrkolonne mit Schildern, die auf den Boykott hinwiesen, durchfuhr mit Hakenkreuzfahnen die Stadt. Gleichzeitig setzten sich von der [Schwarzen-] Bergstraße große Abteilungen der SS und der SA in Bewegung. Bald standen vor allen jüdischen Geschäften die Posten, die darauf aufmerksam machten, dass der Inhaber des Geschäftes ... Jude" war.
Bald darauf erhielt Robert Beer die Aufforderung, seine Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg zurückzugeben. Tief verletzt in seiner Ehre, kehrte er wenige Tage später aus dem Harburger Rathaus zurück, nachdem er diese entwürdigende Anweisung hatte befolgen müssen.
Doch die Entrechtung der Juden nahm auch für die Familie Beer kein Ende. Die beiden Kinder trauten ihren Augen nicht, als ihr Vater am 9. Mai 1935 mit Tränen in den Augen, was sie bis dahin nie erlebt hatten, von einem weiteren Besuch des Harburger Rathauses zurückkehrte, wo ihm ohne Vorankündigung die sieben Jahre zuvor erworbene deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt worden war. Alle Mitglieder der Familie galten danach als staatenlos.
Noch unfassbarer war für Hella und Julius Beer das Geschehen, das sich in den Abendstunden des 10. November 1938 vor ihren Augen abspielte. An diesem Abend holte die Harburger NSDAP das nach, was andernorts schon einen Tag zuvor geschehen war. Die Ausschreitungen begannen damit, dass Mitglieder der Harburger SA und der Hitlerjugend die Leichenhalle auf dem Jüdischen Friedhof am Schwarzenberg unter großem Gejohle, begleitet von lautem Trommelwirbel und ungestört von Feuerwehr und Polizei, in Brand setzten.
Anschließend zog das "Rollkommando" zur Synagoge der Harburger Jüdischen Gemeinde in der Eißendorfer Straße und verschaffte sich mit Gewalt Zugang. Im Innern des Jüdischen Gotteshauses ergriffen die Akteure mehrere Gebetsbücher, Gebetsschals und andere kultische Gegenstände, die sie ins Freie schleppten und dort an andere verteilten oder einfach auf die Straße warfen. Ein SA-Mann verkleidete sich als Rabbiner und belustigte das "Publikum". Zwei jüdische Frauen, die in der Kellerwohnung entdeckt wurden, mussten ihr Versteck unter lauten und unmissverständlichen Drohungen verlassen.
Was die Nationalsozialisten in dem Geschäft seiner Eltern anrichteten, schilderte Julius Beer, der das Geschehen völlig verängstigt vom Fenster im I. Stock eines Nachbarhauses mitverfolgt hatte, später mit folgenden Worten. "Am 9. [10.] November 1938 tobte sich der Mob in dem Geschäft meiner Mutter aus. Der größte Teil der Ware [wurde] zerschlagen und zerschnitten … und [anschließend] auf die Straße geschleppt und dort entweder geraubt oder von der Menge zertrampelt. … Die vier großen Ladenfenster [wurden] vollständig zertrümmert. Auch die Theken und Kassen [wurden] in der Pogromnacht schwer beschädigt." Der Schaden war so groß, dass seine Eltern nicht an eine Wiedereröffnung des Geschäfts denken konnten. Wenig später mussten sie es einem Treuhänder übergeben, der es auf der Grundlage der "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" in "arischen" Besitz überführte. Der Erlös wurde auf Anordnung des Hamburger Oberfinanzpräsidenten auf ein Sperrkonto überwiesen, von dem die Familie in regelmäßigen Abständen nur einen genehmigten Betrag für ihren Lebensunterhalt abheben durfte.
Als die Lage immer bedrohlicher wurde, ging es für die Eltern und ihre Kinder nur noch darum, Deutschland auf schnellstem Wege zu verlassen, um das nackte Leben zu retten. Eine Auswanderung in die USA, wie eigentlich geplant, kam unter diesen Umständen nicht mehr in Frage. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs floh die Familie Hals über Kopf bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze in das benachbarte neutrale Belgien.
Weder Robert und Salka Beer noch ihre Kinder Julius und Hella erhielten eine Arbeitserlaubnis. Unter diesen Umständen verarmten sie zusehends, auch wenn sie hier und da Hilfe fanden. Nach der Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 wurden die Flüchtlinge wieder zu Gejagten. Jetzt galten die Anordnungen der deutschen Militärverwaltung, und sie erlebten abermals, wie die Rechte und Lebensbedingungen der Juden durch antijüdische Maßnahmen Schritt für Schritt eingeschränkt wurden. Im Oktober 1940 mussten sich alle jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner des Landes registrieren lassen, ein Jahr später durften sie nur noch in vorgeschriebenen Orten wohnen. Im Mai 1942 wurde auch in Belgien die Kennzeichnungspflicht für alle jüdischen Männer, Frauen und Kinder eingeführt, und bald danach wurden alle, die arbeitslos waren, in Lager eingewiesen und zur Zwangsarbeit für die Organisation Todt verpflichtet.
Am 3. Februar 1943 wurden Hella Beer und ihre Eltern im zentralen belgischen Sammellager für Juden in der Kleinstadt Mechelen (Malines) zwischen Antwerpen und Brüssel als neue Bewohner registriert. Dort hausten sie wie alle anderen Inhaftierten in einer alten Kaserne, die die deutsche Militärverwaltung inzwischen zu einem Massenquartier für Juden umfunktioniert hatte.
Aber dieser unfreiwillige Aufenthaltsort war für die Verlorenen nur eine Durchgangsstation auf der Reise in den Tod. Als Hella Beer mit ihren Eltern dort ankam, hatten bereits 19 Deportationstransporte mit 18.492 belgischen und nach Belgien geflohenen Juden das Lager verlassen. Da Kinder und alte Menschen keineswegs davon verschont geblieben waren, wuchsen bei den Internierten schnell die Zweifel an der offiziellen Version, dass die Menschen in Arbeitslager im Osten gebracht würden.
Am Abend des 17. April 1943 erfuhren die inzwischen über 1.500 in den letzten Monaten neu registrierten Internierten des Durchgangslagers Mechelen, dass der 20. Transport in ein "Arbeitslager in Polen" für Montag, d. 19. April, geplant war. Am Morgen des besagten Tages rollte ein Güterzug in das Sammellager. Er war so lang, dass die Deportierten weder Anfang noch Ende des Zuges sahen. Im Innern der Waggons war Stroh aufgeschichtet. In einer Ecke der Wagen stand ein Eimer, den sich fünfzig bis sechzig Insassen für ihre Notdurft teilen mussten. Frische Luft gelangte nur durch eine kleine vergitterte Luke in das Innere der Wagen. Nachdem der letzte Passagier eingestiegen war, wurde die schwere Schiebetür quietschend zugeschoben und anschließend von außen fest verriegelt. Es dauerte den ganzen Tag, bis alle Wagen besetzt waren. Eine Überlebende erinnert sich an die Stunden vor der Abfahrt: "Die Angst der Menschen war an diesem 19. April fast körperlich zu spüren. Wir wussten nicht, was uns erwartete. Würde es sich zum Besseren wenden? Vielleicht ginge es tatsächlich zur Arbeit. Oder würde alles noch schlimmer werden?"
Um 22 Uhr verließ der Zug Nr. 801 mit 30 Waggons, wie geplant, das Lager Mechelen. Eine Stunde später wurde er zwischen Hacht und Boortmeerbeek von Joura Livchitz, einem jüdischen Studenten, mit einer großen roten Taschenlampe gestoppt, die der Lokführer für ein Haltesignal hielt. Nachdem der gut bewachte Zug zum Stehen gekommen war, stürmten zwei weitere Studenten – Jean Franklemon und Robert Maistriau – auf den Bahndamm, um im Schutz der Dunkelheit und im ersten Augenblick der Verwirrung der Wachmannschaft möglichst viele Wagentüren zu öffnen und den Gefangenen die Flucht zu ermöglichen.
Die Wachposten, die offenbar zunächst damit gerechnet hatten, dass diesen drei Angreifern weitere folgen würden und deshalb einige Minuten mit entsprechenden Gegenmaßnahmen gewartet hatten, zwangen die Studenten erst mit einiger Verspätung zum Abbruch ihrer Aktion. Die drei Freunde zogen sich daraufhin in das Gebüsch am Bahndamm zurück und rührten sich ebenso wie die Flüchtlinge erst vom Fleck, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte.
Bevor sie die Flüchtlinge dazu aufforderten, sich allein oder zu zweit in alle Winde zu zerstreuen, überreichten sie jedem von ihnen einen 50-Franken-Schein, verbunden mit besten Wünschen für die anschließende, keineswegs einfache Suche nach einem geeigneten Versteck.
Hella Beer und ihre Eltern zählten nicht zu denen, die von den drei belgischen Studenten befreit wurden. Auch als der Zug danach noch weitere Male gestoppt wurde und wieder einigen Passagieren die Flucht gelang, blieb ihnen dieses Glück versagt. Als der Transport nach drei Tagen und einigen weiteren ungeplanten Aufenthalten endlich in Auschwitz-Birkenau eintraf, wurden 879 Menschen sofort in die Gaskammern geschickt.
Julius Beer war bereits ein halbes Jahr vorher mit dem 17. Transport von insgesamt 1.937 Personen von Mechelen nach Auschwitz verfrachtet und dort als Häftling Nr. 72 316 in das Lager aufgenommen worden. Als Zwangsarbeiter musste er, solange er konnte, dazu beitragen, die Leistungskraft der deutschen Kriegswirtschaft zu erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den 85 Überlebenden dieses 17. Transports.
Lange wartete er vergebens nach dem Ende seiner Odyssee durch mehrere nationalsozialistische Konzentrationslager nach der Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau im Januar 1945 auf ein Wiedersehen mit seiner Schwester und seinen Eltern.
Am 4. Februar 1952 wurden Hella, Robert und Salka Beer vom Amtsgericht Hamburg-Harburg auf den 31.12.1945 für tot erklärt.
Als Julius Beer im September 1990 noch einmal auf Einladung des Hamburger Senats und der Harburger Bezirksversammlung in seine Geburtsstadt zurückkehrte, rief er alle Harburgerinnen und Harburger dazu auf, diese drei ermordeten Menschen und alle anderen Harburger Opfer des Holocaust nicht zu vergessen.
Stand: Juni 2019
© Klaus Möller
Quellen: Staatsarchiv Hamburg, 552-1, Jüdische Gemeinden, 992b Kultussteuerkartei der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg; Staatsarchiv Hamburg 314-15, Akten des Oberfinanzpräsidenten F 105, R 1939/2869, V 206; Staatsarchiv Hamburg, Amt für Wiedergutmachung 351-11 Abl. 2008/1, 101196, 241294, 160622, 160923; Staatsarchiv Hamburg, 430-5 Dienststelle Harburg, 1810-08, 430-74 Polizeipräsidium Harburg-Wilhelmsburg II, 60, 40; Staatsarchiv Hamburg 430-5 Dienststelle Harburg, Ausschaltung jüdischer Geschäfte und Konsumvereine, 1810-08, Bl. 89ff; Staatsarchiv Hamburg, 332-5 Standesämter; Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch, Jürgen Sielemann, Paul Flamme (Hrsg.), Hamburg 1995; Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victims´ Names: www.yadvashem.org; Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Bundesarchiv (Hrsg.), Koblenz 2006; Harburger Adressbücher; Matthias Heyl, Harburger Opfer des Nationalsozialismus, Bezirksamt Harburg (Hrsg.), Hamburg-Harburg 2003; Matthias Heyl, Vielleicht steht die Synagoge noch. Ein virtuelles Museum zur Geschichte der Harburger Juden, CD-ROM, Hamburg 1999; Shalom Harburg! Nicht nur ein Besuch. Jüdische ehemalige Harburgerinnen und Harburger in ihrer alten Heimatstadt, Jürgen Ellermeyer, Matthias Heyl, Günter Heymann (Hrsg.), Hamburg-Harburg 1992; Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz 1939–1945, Reinbek 1989; Eberhard Kändler, Gil Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof Harburg, Hamburg 2004; Marion Schreiber, Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz, Berlin 2002; Serge Klarsfeld, Maxime Steinberg, Le Mémorial de la deportation des Juifs de Belgique, New York 1982.