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Margarethe von Zerssen
Margarethe von Zerssen
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Margarethe von Zerssen * 1897

Tönsfeldtstraße 7 (Altona, Ottensen)


HIER WOHNTE
MARGARETHE
VON ZERSSEN
JG. 1897
EINGEWIESEN 1925
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 4.5.1945

Margarethe von Zerssen, geb. am 5.2.1897 in Altona, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 13.2.1925, "verlegt" nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 4.5.1945

Tönsfeldtstraße 7, Altona

Margarethe von Zerssen kam am 5. Februar 1897 in der Wohnung ihrer kurz vorher verwitweten Mutter in der damals selbstständigen preußischen Stadt Altona, Behnstraße 20, zur Welt. Ihre Eltern, Sophie, geb. Thorning, geboren am 19. Juni 1866 in Altona, und der Kaufmann Christian Johann Herrmann Ludwig von Zerssen, geboren am 10. Juni 1853 in Altona, waren evangelisch. Sie hatten am 21. Mai 1889 in Altona geheiratet. Vor Margarethe hatte das Ehepaar drei Kinder bekommen: Otto Hermann, geboren am 16. Februar 1891, Hermann Heinrich Carl, geboren am 17. Februar 1892, und Elisabeth Sophie, geboren am 18. Oktober 1894.

Margarethes Vater starb am 15. Dezember 1896 an einer Rippenfellentzündung. Ihre Mutter musste die vier Kinder nun allein großziehen. Wir wissen nicht, wie ihr dies gelang, ob sie auf Vermögen zurückgreifen konnte oder ob sie aus der Verwandtschaft unterstützt wurde.

Seit frühester Kindheit war bei Margarethe von Zerssen eine geistige Behinderung beobachtet worden. Sie hatte erst im zweiten Lebensjahr Gehen und Sprechen gelernt. Die neunklassige Höhere Mädchenschule in Altona besuchte sie bis zur fünften Klasse mit mittelmäßigem Erfolg. Sie lebte wahrscheinlich zusammen mit den Geschwistern in der Familie der Mutter, denn über einen Aufenthalt in einer Einrichtung während dieser Zeit ist in staatlichen Akten nichts vermerkt. Bei der späteren Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) berichtete ihre Mutter, Margarethe sei als Kind "sehr stark" gewesen. Während des Ersten Weltkrieges habe sie allerdings 50 Pfund abgenommen.

Margarethe von Zerssen wurde am 13. Februar 1925 Bewohnerin der damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Der einweisende Arzt hielt die Aufnahme wegen "Idiotie" für erforderlich, als deren Ursache eine "fötale Keimschädigung" vermutet wurde ("Idiotie" ist ein veralteter Begriff für eine schwere Form der Intelligenzminderung). Bis dahin hatte sie bei ihrer Mutter in der Von der Tannstraße 7 in Ottensen (heute Tönsfeldtstraße) gelebt.

Bei der Aufnahme in Alsterdorf wurde die 28jährige Margarethe wie folgt beschrieben: "Schulwissen dem 13. Jahre entsprechend. Kindisch, albern. Leicht erregt und doch nicht laut oder gewalttätig. Zieht sich an. Kämmt sich. Schreibt gern Briefe. Strickt und stopft unter Aufsicht. Hausarbeit sehr minderwertig. Ohne Ausdauer. Geräuschvoll, ungeschickt. Macht sich gern bemerkbar. Wünscht mit ‚gebildeten‘ Leuten zu verkehren." Aus der Patientenakte ergibt sich, dass Margarethe in den folgenden Jahren in gleicher Weise wahrgenommen wurde.

Ende 1929 strebte sie die Entlassung aus der Anstalt an und wollte aus diesem Grunde aus einem Fenster springen. Auch in den Jahren danach wurde immer wieder über starke Erregungsphasen berichtet. Im April 1931 wurde erstmals vermerkt, dass sie einen Urlaub bekommen hatte, von dem sie unzufrieden zurückgekommen sei und alle Mitpatientinnen in Erregung gebracht habe. Auch nach weiteren Urlauben sei sie immer erregt zurückgekehrt, oft in Konflikte mit Mitpatientinnen geraten und zeitweise völlig unkooperativ, auch gewalttätig gegen andere und sich selbst gewesen sein. Entsprechende Berichte in ihrer Patientenakte wiederholen sich bis 1943. Therapeutische Maßnahmen sind nicht erwähnt, offenbar war Margarethe von Zerssen ausschließlich ein "Bewahrfall".

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, sich nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Verlegung in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") ab. Unter ihnen befand sich Margarethe von Zerssen.

Bei ihrer Ankunft in Wien wog sie 50 kg, im März 1945 nur noch 36 kg. Auf ein besorgtes Schreiben von Elisabeth Peters, der inzwischen verheirateten Schwester von Margarethe von Zerssens, an die Anstaltsleitung in Wien vom 14. Februar 1945, erhielt sie am 9. März die Antwort: "Das Befinden Ihrer Schwester ist zufriedenstellend. Sie hat auch durch die Luftangriffe [auf Wien] nicht gelitten."

Wenig später, am 21. April, wurde in Margarethe von Zerssens Akte notiert: "Psychisch und körperlich stark verfallen, liegt im Bett, leidet an Durchfall, liegender Dekubitus."
Und dann am 4. Mai: "Gestorben um 12 Uhr. Marasmus […], Gastroenteritis."

Erst auf ihre Nachfrage im Januar 1946 erfuhr Elisabeth Peters vom Tod ihrer Schwester.

Die Anstalt in Wien war während der "Aktion-T4" (Tarnbezeichnung für das "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten, so genannt nach dem Sitz der Berliner Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4) Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in den bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen bis Ende 1945 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: Juli 2022
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Altona 1894 bis 1925, StaHH 332-5 Standesämter, 6268 Geburtsregister Nr. 558/1891 Otto Hermann von Zerssen, 6274 Geburtsregister Nr. 655/1892 Hermann Heinrich Carl von Zerssen, 6278 Geburtsregister Nr. 3176/1894 Elisabeth Sophie von Zerssen, 6298 Geburtsregister Nr. 388/1897 Margarethe von Zerssen, 5027 Sterberegister Nr. 479/1896 Christian Johann Herrmann Ludwig von Zerssen, 5908 Heiratsregister Nr. 450/1889 Christian Johann Herrmann Ludwig von Zerssen/Sophia Thorning; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 210 (Patientenakte Margarethe von Zerssen). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283 ff., 331 ff.

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