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Sophie Bergundthal (geborene Hartig) * 1888

Beim Grünen Jäger 2 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
SOPHIE BERGUNDTHAL
GEB. HARTIG
JG. 1888
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
11.3.1939

Sophie Bergundthal, geb. Hartig, geb. 18.11.1888 in Hamburg, Suizid 11.3.1939 in Hamburg

Beim Grünen Jäger 2

Im polizeilichen Protokoll zu Sophie Bergundthals Selbstmord am 11. März 1939 in ihrer Wohnung Beim Grünen Jäger 2 in St. Pauli fehlt jeder Hinweis auf ihre jüdische Herkunft. Ihr Familienname und die Namen ihrer Eltern – Hartig und Schreiber - ließen diese auch nicht vermuten. Sophie Bergundthal war zudem zu einem uns nicht bekannten Zeitpunkt zum Christentum konvertiert, und der Kennzeichnungspflicht als Jüdin durch Kennkarte und Zwangsnamen war sie bis zu ihrem Tod nicht nachgekommen.

Sophie Bergundthal, geb. Hartig, hatte portugiesisch-jüdische Vorfahren. Sie war die einzige Tochter von Moritz Hartig und seiner Ehefrau Baszion, geb. Schreiber, und wuchs mit zwei Brüdern in einem künstlerisch wie kaufmännisch geprägten Umfeld auf.

Ihr Großvater väterlicherseits, Julius Hartig, war Küster der jüdischen portugiesischen Gemeinde in Altona und verheiratet mit Eva Hannchen, geb. Italiener. Zur Familie gehörten außer dem Erstgeborenen Moritz (geb. 13.2.1857) die Söhne Jacob (geb. 28.8.1859) und Philipp (geb. 19.1.1862). Ausweislich des Adressbuches von 1885/86 wohnten Julius Hartig mit den Söhnen Moritz, der eine Leihbibliothek betrieb, und Philipp, der als Journalist und Annoncenexpediteur arbeitete, gemeinsam in der Großen Wilhelminenstraße 12 in Altona.

Als Julius Hartig 1891 starb, gab es die jüdisch-portugiesische Gemeinde Altona nicht mehr, und der Friedhof an der Königstraße in Altona war geschlossen. So wurde er auf dem Friedhof Bornkampsweg beerdigt, ebenso zwei Jahre später seine Ehefrau Eva Hannchen wie fünf Jahre später der Sohn Jacob, gestorben am 14. März 1898. Eine von Jacob Hartigs wenigen Spuren ist die Anzeige des Todes seiner Mutter beim Standesamt. Bis zu ihrem Tod am 31. Mai 1893 hatte sie bei ihrem Sohn Jacob gelebt. Jacob Hartig findet sich im Altonaer Adressbuch von 1893 als Kaufmann für Zuckerwaren, Special-Artikel, Agentur- und Commisionsgeschäft in der Bäckerstraße 6.

Mütterlicherseits stammte Sophie von Lasi Lazarus Schreiber ab, geb. 1826 in Hamburg, einem Musiker, der mit der etwa gleichaltrigen Sophie, geb. Halle, verheiratet war und in Hamburg wohnte, zuletzt am Großneumarkt 45. Sein Name und die Namen ihrer Kinder lassen darauf schließen, dass sie orthodoxe Juden waren: Baszion, eigentlich BasZion, was Tochter Zions bedeutet, und der Name ihres Bruders Benzion oder BenZion, was entsprechend Sohn Zions heißt. Lasi Lazarus und Sophie Schreiber starben beide 1885, bevor ihre Söhne heirateten. Sie waren die ersten Vorfahren Sophie Hartigs, die auf dem 1883 eröffneten jüdischen Friedhof an der Ihlandkoppel in Ohlsdorf beigesetzt wurden.

Sophie Bergundthals Eltern hatten am 18. Juni 1886 in Hamburg geheiratet und blieben dort auch zunächst im Neuen Steinweg 69 wohnen. Moritz hatte bereits einen Namen, der einen Schritt auf dem Weg in die Assimilation bedeutete, den er mit vielerlei Schwierigkeiten bis zu seinem selbst gewählten Ende im Alter von 68 Jahren ging.
Baszion Hartig brachte am 1.5.1887 als erstes Kind den Sohn Leopold zur Welt, als zweite wurde am 18.11.1888 Sophie geboren. Im Juni 1889 wurde Moritz Hartig mit der Adresse Mathildenstraße 3 in St. Pauli registriert. Dort kam der jüngere Sohn Julius am 12.1.1895 zur Welt. Leopold setzte später die kaufmännische Linie der Familie fort, Julius als Pianist die künstlerische, Sophie schlug beide Richtungen ein, wenn auch nicht als professionelle Pianistin.

Benzion Schreiber, geb. 16.1.1860, entfernte sich ebenfalls einen Schritt von der Tradition, als er 1892 die Ehe mit Bertha Rothschild, geb. 1.6.1866, einging und ihre Kinder Namen wie die ihrer Cousine Sophie und ihres Cousins Leopold Hartig erhielten – Sophie (sie wurde nur sieben Monate alt), Elsa, Hertha, Leopold, doch blieben sie Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Die längste Zeit ihres Lebens wohnten Benzion und Bertha Schreiber in St. Pauli, wie überhaupt St. Pauli den Lebensmittelpunkt von Sophie Bergundthal-Hartigs großer Familie bildete.

Inzwischen, am 5. Juni 1890, hatte auch Philipp Hartig geheiratet, und zwar die am 29.11.1866 in Callao/Peru geborene Johanna, geb. Schwartz aus Leipzig, während Philipp immer noch in Altona wohnte. Dort kamen zwischen 1891 und 1900 vier Cousins von Sophie Hartig und die Cousine Hannchen zur Welt.

Im Frühjahr 1895 begann Sophies Schulzeit. Vermutlich wurde sie in der jüdischen Gemeindeschule in Altona eingeschult und beendete sie 1903. Belege über diese Zeit liegen nicht vor. Sie wurde Verkäuferin. Ihr Vater Moritz Hartig war im Laufe seines Lebens in verschiedenen Berufen tätig, zunächst als Commis (Handlungsgehilfe), dann als Lotteriekollekteur, als Reklamevertreter, als Reisender. Die Mutter Baszion hatte keine Berufsausbildung.

Am 3. März 1909 wurden Moritz und Baszion erstmals Großeltern, Sophie brachte eine Tochter zur Welt, die jedoch nur einen Tag lebte. Der Vater des Kindes war der Reisende Friedrich Bergundthal, geb. 20.11.1886 in Altona, den sie ein Jahr später heiratete. Er war Auslandsschweizer und evangelisch. Durch ihre Heirat erwarb Sophie die Schweizer Staatsangehörigkeit.

Unter seinen Geschwistern nimmt Friedrich Bergundthal (II) einen besonderen Platz ein. Seine Eltern, der Stereotypeur Friedrich Bergundthal (I), geb. am 20.2.1855 in Schüpfen bei Bern, und Emilie, geb. Michaelis, geb. 22.3.1853 in Hamburg, hatten am 4. Januar 1877 in Hamburg geheiratet. Friedrich Bergundthal (I) war seit 1876 als Stereotypeur (Drucker) in Hamburg ansässig. Er (I) wohnte bei seiner Heirat Alter Steinweg 58, seine Braut Emilie Hafenstraße 65 bei ihrem Vater, dem Commis Fritz Hermann Adolph Claus Michaelis. Von Friedrich und Emilie Bergundthals Kindern sind uns neun bekannt.

Bereits am 3. Mai 1877 kam in ihrer Wohnung Alter Steinweg 58 der erste Sohn, Friedrich Emil Max, zur Welt. Das Verhältnis zwischen Friedrich Bergundthal (I) und seinem Schwiegervater F.H.A.C. Michaelis verschlechterte sich nach kurzer Zeit derart, dass Friedrich Bergundthal seinem Schwiegervater jeden Kontakt mit seiner Tochter Emilie und seinem Enkelsohn untersagte. Einzelheiten des Zerwürfnisses sind nicht bekannt, aber Friedrich Bergundthal wurde beschuldigt, seinen Sohn Max zu misshandeln. Der Großvater F.H.A.C. Michaelis beantragte im Juli 1878, als seine Tochter Emilie gerade die Tochter Frieda zur Welt gebracht hatte, seine Einsetzung als Vormund für seinen Enkelsohn Max. Das Vormundschaftsgericht entschied gegen ihn, aber für eine Vormundschaft durch einen Verwandten, J.A.M. Michaelis, und einen offiziellen Mitvormund. Das Verfahren wurde am 21. September 1878 mit einem Freispruch Friedrich Bergundthals beendet. Die Begründung lautete: "Da die Mutter das Kind schon bei sich habe, so sei es vor künftigen Misshandlungen geschützt." Max wurde später Bäcker und verließ Hamburg am 17. Juli 1903, womit sich seine Spur verliert.

Tochter Frieda starb im Säuglingsalter, wie auch zwei ihrer Brüder. 1879 wurde ein Sohn geboren, der den Vornamen Friedrich (III) erhielt und womöglich als Stammhalter gedacht war. Es folgten zwei Schwestern, Ella und Minna, die später Dienstmädchen wurden und nach London auswanderten. Friedrich (III) wurde nur sechs Jahre alt, er starb am 27. November 1885. Als ein Jahr später, am 20.11.1886, ein weiterer Sohn zur Welt kam, erhielt er den Namen dieses verstorbenen Bruders. Das letztgeborene uns bekannte Kind war Johannes Gustav, geboren am 27.11.1891 in Altona. Er wurde später Kaufmann und Reisender wie sein Vater.

Nach 20 Jahren verließen Friedrich Bergundthal (II) und seine Ehefrau Emilie mit den beiden Söhnen Friedrich und Gustav Altona und zogen im März 1902 in den Eppendorferweg 5 in Hamburg-Eimsbüttel. Friedrich Bergundthal und seine Nachkommen behielten stets ihre Schweizer Staatsangehörigkeit.

Bei ihrer Heirat am 10. Mai 1910 waren Friedrich und Sophie Bergundthal in Hamburg gemeldet, Friedrich bei seinen Eltern Eppendorferweg 5, Sophie bei ihren Eltern Mathildenstraße 3 in St. Pauli. Ihre Trauzeugen waren ihre Väter. Friedrich wurde als Reisender eingetragen, Sophie ohne jede Berufsangabe, obwohl sie Verkäuferin war. Als Religionszugehörigkeit hieß es bei Friedrich Bergundthal "lutherisch", bei Sophie "mosaisch". Am 14.10.1910 wurde ihr Sohn Friedrich geboren. Zweieinhalb Jahre lang lebten die Eheleute getrennt. Sophie blieb bei ihren Eltern in der Mathildenstraße, aber auch besuchsweise bei ihren Schwiegereltern in Alt-Rahlstedt, wohin sie 1910 gezogen waren.

Leopold Hartig, Sophies älterer Bruder, geb. 1.5.1887 in Hamburg, heiratete noch im selben Jahr wie seine Schwester und ging wie sie eine "Mischehe" ein, trat aber nicht zum christlichen Glauben über. Am 27. Dezember 1910 wurde er mit Dorothea/Dora Häusler, geb. 4.5.1887 in Hamburg, getraut. Am 2.1.1911 kam der Stammhalter Leopold zur Welt, ein Jahr später der Sohn Franz (geb. 19.2.1912). Ihm folgte die Tochter Gretl.
Ein schwerer Schlag traf die Familie, als der jüngere Bruder Julius in die "Irrenanstalt Friedrichsberg" aufgenommen und als Dauerpatient in die Anstalt Langenhorn verlegt wurde. Dort starb er am 19. August 1918 im Alter von 23 Jahren. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Ihlandkoppel in einem Einzelgrab beerdigt.

Ab 1. Dezember 1913 lebte Sophie bei ihrem Mann an uns unbekannter Adresse. Seine Eltern, Friedrich und Emilie Bergundthal, kehrten 1914 wieder nach Altona zurück und zogen nach einer kurzen Wohnungssuche als Untermieter in die Waterloostraße 36.
Friedrich Bergundthal nahm als Schweizer nicht am Ersten Weltkrieg teil, aber Sophies Bruder Leopold wurde Soldat.

Friedrich und Sophie Bergundthal waren 1916 in der Kleinen Gärtnerstraße 71 B (heute: Stresemannstraße) gemeldet, als sie ihren Sohn Friedrich am 4. Dezember 1916 in der Friedenskirche in St. Pauli taufen ließen. Die Eltern wurden dabei noch mit ihrer ursprünglichen Religionszugehörigkeit angegeben. Friedrich war sechs Jahre alt und schulpflichtig und sollte vielleicht als Schweizer wenigstens von vornherein zur evangelischen Religionsgemeinschaft gehören. Wann genau, wo und warum Sophie Bergundthal zum Christentum übertrat, ist uns nicht bekannt. Sie muss bald nach Friedrichs Taufe konvertiert sein, denn am 3. Juni 1918 wurde sie im Altonaer Melderegister mit der Adresse Wohlersallee 18 als lutherisch eingetragen. Acht Wochen später zog sie in die Kleine Gärtnerstraße 73.

Friedrich (IV) wurde im Kriegsjahr 1917 eingeschult. Im selben Jahr starb der Großvater Friedrich Bergundthal (II), 62 Jahre alt, am 24. Dezember 1917 im Altonaer Krankenhaus. Seine Witwe Emilie blieb jahrzehntelang in der Waterloostraße wohnen. Über ihre Versorgung und ihr Verhältnis zu ihrer Schwiegertochter Sophie ist uns nichts bekannt.

Am 7. Januar 1919 war Friedrich Bergundthal an der Adresse Beim Grünen Jäger 2, erste Etage, gemeldet, drei Monate später zog Sophie mit ihrem Sohn Friedrich zu ihm. Es handelte sich um ein dreigeschossiges Mehrfamilienhaus, in dessen Erdgeschoss und erster Etage der Eigentümer eine tierärztliche Klinik betrieb. Sophies vermutliche Hoffnung, dass nun ein beständigeres Leben beginne, wurde auf die Probe gestellt, als ihr Ehemann am 16. August 1919 in die Schweiz reiste, von wo er erst ein Jahr später, am 1. September 1920, zurückkehrte.
Über den Schulbesuch ihres Sohnes Friedrich und seine Konfirmation ist uns nichts bekannt. Nach dem Schulabschluss erhielt er offenbar eine kaufmännische Ausbildung.

Leopold Hartig kehrte erst 1922 aus dem Ersten Weltkrieg ins Zivilleben zurück. Es gelang ihm, eine Existenz als Reisender aufzubauen, die ihm ein gutes Einkommen sicherte. 1925 zog er mit seiner Familie in Sophies und seiner Mutter Nähe in die Kleine Gärtnerstraße 87 (die in der NS-Zeit in General Litzmannstraße und nach deren Ende in Stresemannstraße umbenannt wurde). Er wurde steuerpflichtiges Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg.

1922 heiratete die Cousine Hannchen Hartig den kaufmännischen Angestellten Carl W.E. Scholinus, einen Christen. Aus ihrer Ehe ging eine Tochter hervor, die am 17.10.1925 geborene Margot. Als einzige aus der Familie gelangte sie mit einem Kindertransport nach England.

Ein halbes Jahr zuvor war Sophies Vater Moritz Hartig in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Er hatte sich erhängt und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf in einem Doppelgrab beigesetzt. Sophies Mutter lebte die nächsten zwei Jahre im Haushalt ihrer Tochter, bis sie in die Nachbarschaft zog. Sie überlebte ihren Ehemann um neun Jahre und wurde schließlich an seiner Seite beigesetzt.

Im Leben von Sophies Onkel Benzion und seiner Ehefrau Bertha Schreiber wechselten Zeiten von Krankheit und solche von gering bezahlter Arbeit, so dass sie auf Hilfe angewiesen waren. 1925 beantragten sie erstmals Wohlfahrtsunterstützung. Obwohl ihre Tochter Hertha, verheiratete Behrend, zum Haushaltseinkommen beitrug und Benzion eine Anstellung als Hilfsankleider am Staatstheater hatte, gelang es ihnen nicht, sich bis zu seinem Tod im Jahr 1935 aus dieser Lage zu befreien. Mit der Tochter Elsa Lütten, die ebenfalls in einer "Mischehe" lebte, hatten sie sich derart entzweit, dass von ihr keinerlei Hilfe kam. Wie sein Schwager Moritz Hartig wurde Benzion Schreiber auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf in einem Doppelgrab beerdigt. Das für seine Ehefrau Bertha vorgesehene Grab würde leer bleiben.

Nach dem Boykottaufruf der nationalsozialistischen Regierung im Frühjahr 1933 gerieten Sophie Bergundthals Ehemann Friedrich ebenso wie ihr Bruder Leopold und sie selbst in berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dass diese Notlage nicht außergewöhnlich war, geht aus dem Geschäftsbericht des Schweizerischen Konsulats in Hamburg für das Jahr 1936 hervor, wo es heißt: "Im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Kolonie ist das Kontingent der besser Situierten nach wie vor leider ein viel zu kleines." Nur der Sohn Friedrich hatte als kaufmännischer Angestellter ein regelmäßiges Einkommen. Sein Cousin Franz Hartig, Leopolds Sohn, konnte als Steward auf See ab 1933 nur noch auf jüdischen Schiffen fahren. Im August 1935 wurde er zwölf Wochen lang im Stadthaus festgehalten, weil er jüdischen Auswanderern auf ihrer Überfahrt verbotene Dinge zugesteckt habe. Er verlobte sich mit einer Christin, Klara Techentin, wurde zur Trennung von ihr aufgefordert, führte die Beziehung aber heimlich weiter und heiratete sie nach Kriegsende.

Die Cousine Hannchen Scholinus und ihr Ehemann zogen 1932 von der Lübeckerstraße, wo sie jahrelang gewohnt hatten, ins Grindelviertel und lebten ab 1936 in der Heinrich-Barth-Straße 15. Sophie und Friedrich Bergundthal pflegten regelmäßigen Kontakt mit ihnen.

Die Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze im September 1935 machte nicht nur Beziehungen zwischen Juden und Nichtjüdinnen und umgekehrt strafbar, sondern ließ auch Sophie befürchten, dass sie nicht durch ihre Taufe geschützt war. Sie konnte jedoch auf ihre Staatsangehörigkeit und den Status ihrer Ehe mit einem Schweizer hoffen. Um diese Zeit erhielt das Wohnhaus Beim Grünen Jäger 2 eine vierte Etage, die die Familie Bergundthal bezog. Inzwischen war auch ein Hinterhaus errichtet worden, in dem der Stabsarzt d. D. Ferber eine tierärztliche Klinik betrieb und wo das städtische Hundeheim mit einer Tötungsanlage seinen Sitz hatte.

Sophies Sohn Friedrich Bergundthal, nach nationalsozialistischer Rassenideologie "Mischling ersten Grades", verlobte sich ebenfalls mit einer "Arierin", Olga Stegen. 1935 wurde Sophies erstes Enkelkind, Friedrich/Fred, geboren, ihm folgte 1937 Brigitte. Olga Stegen gab ihre Arbeit auf und wurde von ihrem Verlobten unterhalten. Unter Hinweis auf seine Schweizer Staatsangehörigkeit stellte Friedrich Bergundthal einen Antrag auf Genehmigung der Heirat, der jedoch abgelehnt wurde. Für "Mischlinge" galt eigentlich das Verbot der Eheschließung mit "Deutschblütigen" nicht, dennoch wurde eine Heirat in der Regel nicht erlaubt, auch wenn der Betreffende ausländischer Staatsbürger war. Warum sie nicht in die Schweiz gingen und dort heirateten, ließ sich bisher nicht klären. Die Schweizer Regierung vertrat allerdings auch eine restriktive Politik gegen Schweizer wie deutsche Juden in Anlehnung an die deutsche Gesetzgebung.

In den Jahren 1936 bis 1939 starben etliche Verwandte von Sophie, unter ihnen ihre Tante Johanna "Nanny" Hartig, Philipp Hartigs Witwe. Sie war psychisch erkrankt, konnte sich nicht mehr allein versorgen und wurde in der Staatskrankenanstalt Langenhorn aufgenommen. Dort erlag sie am 21. September 1936 einer Lungenentzündung. Sie wurde bei ihrem Ehemann auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beigesetzt.

Olga Stegen sah sich in zweierlei Bedrängnis: Da sie und ihr Verlobter nicht heiraten durften, die Kinder aber ein Zeugnis ihrer intimen Beziehung waren, drohte ihnen ein Verfahren wegen "Rassenschande", zudem wurde Olga im September 1938 erneut schwanger. Da Friedrich im Haushalt seiner Eltern lebte, blieben ihnen seine und Olgas Nöte nicht verborgen. Olga konnte sich nicht vorstellen, dass Friedrich sie und ein drittes Kind, zumal er auch seine Eltern unterstützte, würde versorgen können. Sie versuchte deshalb, eine Fehlgeburt einzuleiten. Das gelang ihr auch, diese hatte aber eine fieberhafte Reaktion zur Folge, weshalb sie ins Hafenkrankenhaus überwiesen wurde. In solchen Fällen schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein und erhob Anklage wegen eines Vergehens nach § 218 Abs. 1 StGB. Die auf den 21. Juli 1939 anberaumte Hauptverhandlung erlebte Sophie nicht mehr.

Im Zuge des Novemberpogroms wurden Leopold Hartig, Kaufmann, und sein Cousin Leopold Schreiber, Hausdiener, am 11. November 1938 zunächst im KZ Fuhlsbüttel, dann im KZ Sachsenhausen/Oranienburg inhaftiert und im Dezember 1938 bzw. Januar 1939 entlassen, offenbar ohne die sonst übliche Auflage, umgehend das Deutsche Reich zu verlassen. Leopold Hartig kehrte zu seiner Frau Dorothea in die General Litzmannstraße zurück, Leopold Schreiber, der ledig geblieben war, kam bei seiner Schwester Elsa Lütten in der Grindelallee 178 unter. Um diese Zeit wurden auch die Kennzeichnungspflicht der Ausweise mit einem J und die Zwangsnamen "Sara" für Frauen und "Israel" für Männer eingeführt.

Inzwischen war Sophie Bergundthals Status als "privilegierte Mischehe" definiert worden, wodurch sie einen gewissen Schutz vor Verfolgung genoss. Jedoch verunsicherte sie, was sie an antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen erlebte. Sie hatte ihren kleinen Zeitungsverlag aufgeben müssen, aber keine neue Erwerbsmöglichkeit gefunden, weshalb sie auch nicht krankenversichert war. Sie war nervenkrank und litt an Diabetes, für eine gute ärztliche Behandlung und Medikamente fehlte das Geld. Friedrich Bergundthal verdiente als Vertreter etwa 50 RM monatlich und erhielt 20 RM für ein vermietetes Zimmer, aber er hatte auch Mietschulden. Ihr Sohn Friedrich unterstützte sie nach Kräften, zugleich belastete seine Situation die Familie. Sophie trug sich mit Selbstmordabsichten, die sie gegenüber ihrem Ehemann wiederholt äußerte.

Für den Abend des 11. März 1939 hatten sich Friedrich und Sophie Bergundthal wie für jeden Sonnabendabend mit Sophies Cousine Hannchen Scholinus bei ihr verabredet. Friedrich verließ am späten Vormittag die Wohnung, um sich am Abend mit seiner Ehefrau in der Heinrich-Barth-Straße 15 zu treffen. Ihr Sohn Friedrich kam gegen 14 Uhr nach Hause und verabschiedete sich ins Wochenende. Sophie legte einen Briefumschlag mit zwei Schlüsseln für ihren Ehemann bereit. Dann legte sie sich in der Küche auf eine Bank und öffnete den Gashahn. Nachdem Friedrich vergeblich bis 22.30 Uhr bei den Verwandten auf seine Ehefrau gewartet hatte, ging er nach Hause und fand sie dort tot vor. Der herbeigerufene Arzt Zapf stellte ihren Tod fest. Der Leichentransporteur brachte sie gar nicht erst in ein Krankenhaus, sondern gleich in die städtische Leichenhalle in der Weidenstraße, ihr Ehemann regelte die Beerdigung, die Sozialverwaltung übernahm die Kosten, d.h. sie erhielt eine Feuerbestattung. Wo Sophie Bergundthals Urne beigesetzt wurde, ist uns nicht bekannt.

Vier Tage nach ihrem Tod wurde im Sterberegister eingetragen: Sophie Bergundthal, geb. Hartig, Todesursache Selbstmord durch Gasvergiftung am 11. März 1939. Eine Beischrift vom 27. März 1939 lautet: "Hinter dem Wort "evangelisch" sind die Worte "früher mosaisch" einzufügen. Mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde berichtigt." Sophie Bergundthal starb einen Monat vor ihrem 51. Geburtstag.

Sophie Bergundthals Sohn Friedrich wurde im Juni 1939 wegen "Rassenschande" angeklagt, das Verfahren aber mit der Begründung, er sei Schweizer, Christ und Mischling 1. Grades, am 22. Juni 1939 eingestellt. Er verließ Deutschland und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2004 in der Schweiz, ohne sich je wieder bei seiner ehemaligen Verlobten und ihren Kindern zu melden oder sie zu unterstützen.

Im Juli 1939 wurde Olga Stegen von der Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Hamburg wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen § 218 Abs. 1 StGB vernommen. Die Hauptverhandlung fand am 21. Juli 1939 statt. Sie schilderte ihr Vorgehen, gestand das Vergehen und erläuterte ihre Notsituation. Dieses Verhalten und dass sie keine Vorstrafen hatte wurde als strafmildernd angesehen, so dass sie statt zu zwei Monaten zu sechs Wochen Gefängnis und Zahlung der Kosten des Verfahrens verurteilt wurde. Am 4. September 1939 erhielt Olga Stegen die Aufforderung zum Haftantritt binnen acht Tagen. Am 6. September richtete sie ein Gnadengesuch an den Reichsstatthalter Karl Kaufmann, in dem sie unter Hinweis auf die Versorgung der Kinder um Begnadigung zur Bewährung bat. Dem Gesuch wurde nicht stattgegeben. Sie trat am 12. September 1939 im Frauengefängnis Fuhlsbüttel die Haft an, wurde aber amnestiert und bereits eine Woche später entlassen.

Nur zehn Monate nach dem Tod seiner Ehefrau Sophie starb auch Friedrich Bergundthal. Er erlag am 27. Januar 1940, 53 Jahre alt, im Universitätskrankenhaus Eppendorf einem Gallenleiden und wurde auf dem städtischen Friedhof Ohlsdorf in einem Reihengrab beerdigt. Seine Mutter Emilie überlebte ihn um fast drei Jahre und starb im Alter von 87 Jahren am 16. November 1942 im Hilfskrankenhaus Hohenzollernring eines natürlichen Todes.

Sophie Bergundthals Enkelin Brigitte Stegen erlebte das Kriegsende bei Nürnberg, wohin sie im Rahmen der Kinderlandverschickung gelangt war, und kehrte nicht nach Hamburg zurück.
Ihre Tochter, Sophie Bergundthals Urenkelin Barbara Biegel, begann 2014, mit der Spurensuche ihrer Urgroßmutter und veranlasste die Verlegung eines Stolpersteins Beim Grünen Jäger 2 in St. Pauli.

Sophie Bergundthal entging durch ihren selbst gewählten Tod einer möglichen Deportation.
Als Erster ihrer Verwandten wurde Leopold Schreiber zum angeblichen Aufbau im Osten abtransportiert, und zwar am 25. Oktober 1941 ins Getto von Litzmannstadt/Lodz, wo er am 7. Juli 1942 starb. Ob seine Mutter, Bertha Schreiber, je von seinem Tod erfuhr, ist unwahrscheinlich. Sie, die Witwe von Benzion Schreiber, wurde am 19. Juli 1942 zusammen mit ihrer Schwester Ernestine, geb. 24.5.1862, verheiratete Wolff, in das "Altersgetto" von Theresienstadt deportiert, wo beide 1944 starben. Bertha Schreiber wurde 78 Jahre alt.

Obgleich eine Generation jünger, wurde Sophie Bergundthals Cousine Hannchen Scholinus am 19. Januar 1944 ebenfalls nach Theresienstadt deportiert, wo sie Bertha Schreiber noch getroffen haben könnte, bevor sie weiter nach Auschwitz transportiert und vermutlich gleich ermordet wurde. Hannchen Scholinus wurde 47 Jahre alt. (Siehe auch die Biographie von Hannchen Scholinus im Opferverzeichnis der Website.)

Mit dem letzten Transport Hamburger Jüdinnen und Juden am 14. Februar 1945 wurden
Leopold Hartig und Elsa Lütten "zu einem auswärtigen Arbeitseinsatz" nach Theresienstadt deportiert. Elsa Lütten war am 8. Dezember 1944 im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert und von dort in das KZ Neuengamme überführt und aus der Haft heraus abtransportiert worden. Beide wurden in Theresienstadt befreit und kehrten im Juni 1946 nach Hamburg zurück.

Stand: Oktober 2017
© Hildegard Thevs mit Barbara Biegel

Quellen: 1; 4; 5; 7; 9; Hamburger Adressbücher; JFHH A 11-167/168, O 3-180, ZX 11-65/66, 12-39, ZZ 10-552/553; StaH 213-11 StA LG Strafsachen, 3588/39; 232-1 Vormundschaftsakten, Serie II 8810 1878; 331-5 Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, 1045/39; 332-5 Geburts-, Heirats- und Sterberegister; 332-8 Melderegister; 351-11 AfW, 1051, 9330, 9451, 14804, 52736, 352-5 Todesbescheinigungen, 1925, Sta2a, Nr. 155; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2/1995, 23019; 552-1 Jüdische Gemeinden, 230 Band I; 992 e 2, Deportationslisten, Band 5; Persönliche Mitteilungen von Prof. em. Dr. Francois E. Cellier Mai/Juni 2017; https://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz_im_Zweiten_Weltkrieg; http://www.hagalil.com/archiv/98/10/schweiz-0.htms.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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