Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Stolpersteine in der Erikastraße 79
© Christof Hansen

Helene Bielefeld (geborene Cohn) * 1878

Erikastraße 79 (Hamburg-Nord, Eppendorf)

1941 Minsk
ermordet

Weitere Stolpersteine in Erikastraße 79:
Alfred Bielefeld

Erinnerungen an die Familie Bielefeld

Alfred Bielefeld * 31.01.1874 in Hamburg, deportiert nach Minsk 18.11.1941
Helene Bielefeld, geb. Cohn * 29.06.1878 in Hamburg, deportiert nach Minsk 18.11.1941
Kurt Bielefeld * 06.09.1913, deportiert nach Minsk 08.11.1941
Marion Bielefeld, geb. Siemon * 15.02.1918 in Hamburg, deportiert nach Minsk 18.11.1941
Hella Bielefeld * 09.03.1938, deportiert nach Minsk 18.11.1941
Mathel Bielefeld * 10.03.1941, deportiert nach Minsk 18.11.1941

Die ersten fünf Jahre meines Lebens verlebte ich in Hamburg-Eppendorf im Hause Erikastraße 90. Mein Vater hatte dort nach langer Arbeitslosigkeit ein winziges Fischgeschäft eröffnet. Während mein Vater (anfangs mit dem Fahrrad) auf dem Altonaer Fischmarkt einkaufte, "schmiss" meine Mutter den Laden.

Uns gegenüber in der Erikastraße 79 betrieb Herr Alfred Bielefeld ein kleines Elektrogeschäft. Mit seinem Sohn Kurt befreundete sich mein Vater aufgrund eines gemeinsamen Hobbys, des Motorradfahrens. Dass die Bielefelds Juden waren, habe ich nicht gewusst. Das war in unserer Familie kein Thema. Erst als die Judenverfolgung begann, weihten meine Eltern mich ein. An Alfred Bielefeld kann ich mich noch sehr gut erinnern, während seine Frau Helene im Geschäft nicht in Erscheinung trat und sich wohl ganz auf ihre Hausarbeit beschränkte. Aus diesem Grunde ist sie mir nur selten begegnet, und ich habe nur eine schemenhafte Erinnerung an sie.

Im Dezember 1936 kaufte mein Vater ein größeres Geschäft, und so zogen wir um in die Alsterdorfer Straße in Winterhude. Danach verlor ich die Familie etwas aus den Augen, aber meine Eltern waren weiterhin mit Kurt Bielefeld befreundet. Anfangs hatte Kurt eine nicht-jüdische Freundin, von der er sich allerdings trennen musste, wegen so genannter "Rassenschande"

Er lernte später Marion Siemon kennen, die er dann heiratete. Marion war eine bildhübsche junge Frau und meine Eltern schlossen auch sie ins Herz.

Anfang 1938 wurde ihre Tochter Hella geboren. Zu der Zeit wohnten sie in einer Erdgeschoßwohnung in der Wrangelstraße 32. Entsetzt berichteten die Eltern, dass Mieter aus den oberen Etagen versucht hatten, den Kinderwagen, der im Hintergarten stand, mit einem Blumentopf zu bewerfen. Dieser unglaubliche Vorgang hat uns die Augen geöffnet, welche Ausmaße der Judenhass schon genommen hatte, dem bereits kleine Babys ausgesetzt waren. Im März 1941 wurde die zweite Tochter Mathel geboren. Die kleine Hella habe ich als Baby gelegentlich gesehen, aber Mathel leider nie zu Gesicht bekommen.

Meine Eltern haben mir erzählt, dass Kurt die Nationalsozialisten und somit Hitler selbst gewählt hat. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Juden so gefährdet waren, hatte doch sein Vater im ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Die Möglichkeit, sich Verwandten seiner Frau anzuschließen, die Schuten im Hamburger Hafen besaßen, und damit nach England auszuwandern, hat er nicht genutzt. Sie fühlten sich ganz einfach als Deutsche.

Nach der Ermordung des deutschen Botschafters von Rath und der darauf folgenden Pogromnacht ("Reichskristallnacht" im November 1938) wurde unser Freund nachts aus seiner Wohnung heraus verhaftet und gemeinsam mit vielen anderen jüdischen Männern vermutlich nach Sachsenhausen verfrachtet. Dort mussten sie einen Tag und eine Nacht auf einem Kasernenhof stehend verbringen, bevor sie wieder nach Hause zurückkehren durften. Wörtlich sagte er später meinen Eltern: "Die Männer fielen um wie die Fliegen." Er war so geschockt, dass er meinen Vater beschwor: "Tritt ein, wo Du eintreten kannst!" Daraufhin wurde mein Vater Mitglied bei der DAF (Deutsche Arbeitsfront).

Seit Sept. 1941 waren alle Juden gezwungen, sichtbar einen gelben Davidstern mit der Aufschrift "Jude" zu tragen. Das machte es natürlich doppelt gefährlich, einen privaten Verkehr aufrecht zu erhalten. Ich erinnere mich sehr genau an das Gesicht des Herrn Alfred Bielefeld, der an wartenden Kunden vorbei durch den Laden in unsere Privaträume ging. Unglücklicherweise hatte unsere Wohnung keinen Privateingang, so dass jeder Besuch durch unseren Laden musste. Er bekam von meinen Eltern ein Paket mit Fischwaren zugesteckt, denn Juden hatten inzwischen kaum noch Möglichkeiten, an Lebensmittel heranzukommen.

Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, wie gefährlich diese Besuche waren. Wie leicht hätte einer unserer Kunden wegen des hochgeschlossenem Mantelkragens den Verdacht schöpfen können, dass da wohl ein Jude seinen Judenstern verstecken wollte. Schließlich waren Denunziationen an der Tagesordnung. Immer wieder wurde ich deshalb von meinen Eltern beschworen, keiner Seele von unseren jüdischen Freunden zu erzählen. Damals hatte ich das Gefühl, nur von Nazis umgeben zu sein. Lange nach dem Krieg erst habe ich mit meinen Schulfreundinnen darüber gesprochen, und ich war überrascht zu erfahren, dass es auch in anderen Familien verboten war, über ihre Ablehnung des Nazi-Regimes etwas verlauten zu lassen.

Als die Familie Kurt Bielefeld im Herbst 1941 den Deportationsbefehl erhielt, tauschten sie in aller Heimlichkeit mit meinen Eltern die Steppdecken. Die Bielefelds wollten unsere dicken Wollsteppdecken mitnehmen, während wir ihre seidenen Steppdecken bekamen. Kurt lebte in der "Hoffnung", dass sie in Sibirien, dem vermeintlichen Ziel, ein neues Leben beginnen könnten. Er packte deshalb auch sein Werkzeug u. ä. ein.

Seit der Deportation haben wir uns immer wieder gefragt, welches entsetzliche Schicksal unsere Freunde wohl ereilt haben könnte. Erst über unseren Kontakt zur Aktion "Stolpersteine" erfuhren wir, dass alle Mitglieder der Familie Bielefeld im November 1941 nach Minsk deportiert und dort ermordet worden waren. (Siehe auch im Buch von D. J. Goldhagen "Deutschlands willige Vollstrecker": Massenhinrichtung im November 1941 in Minsk von 19000 Juden) .

Die Bielefelds überließen uns zu getreuen Händen ihren wertvollsten Besitz: Wunderschöne schwere Silberbestecke (18teilig) und eine Tischlampe, deren Fuß aus Meißener Porzellan eine Gruppe tanzender Kinder zierte. Meine Mutter wollte die Lampe eigentlich dem Museum für Kunst und Gewerbe übergeben, aber wir erfuhren, dass die Lager dort übervoll seien. So hat später meine Nichte dieses letzte Andenken an die Familie Kurt Bielefeld erhalten.

Für meine Eltern, Kurt und Annaliese Oeljeschlager, war es eigentlich selbstverständlich, ihre jüdischen Freunde nicht im Stich zu lassen. Aber gerade meine Mutter war es, die immer wieder darüber sprach, dass diese unbeschreiblichen Verbrechen, dieser Völkermord, in hundert Jahren noch nicht vergessen sein werden. Aus diesem Grunde hat sie auch noch vor ihrem Tod (1996) einen Baum in Israel gespendet. Diese Erinnerung begleitet mich nun wahrhaftig von Kindesbeinen an bis heute und wurde für mich zu einem fast traumatischen Lebensthema. Deshalb ist mir wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, dass mit Hilfe von Herrn Hess durch den Künstler Gunther Demnig für die ganze Familie Bielefeld, nämlich Alfred, Helene, Kurt, Marion, Hella und Mathel Stolpersteine gesetzt worden sind.

Gräber haben sie nicht bekommen, auf die man nach jüdischer Sitte einen Stein legt zum Zeichen, dass man sie nicht vergessen hat. Jetzt "stolpert" hoffentlich der eine oder andere darüber.

In diesem Jahr werde ich siebenundsiebzig Jahre alt, und so bin ich dankbar, dass ich diese mich nie verlassende Erinnerung noch zu Lebzeiten sichtbar gemacht habe.

© Traute Olsen, Juli 2008

druckansicht  / Seitenanfang