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Lieselotte Ahrens * 1929
Steilshooper Straße 216 (gegenüber Nr. 215) (Hamburg-Nord, Barmbek-Nord)
HIER WOHNTE
LIESELOTTE AHRENS
JG. 1929
EINGEWIESEN 1941
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 7.11.1944
Lieselotte Ahrens, geb. 12.3.1929 in Hamburg, deportiert am 16.8.1943 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten nach Wien, gestorben am 7.11.1944 in Wien
Steilshooper Straße 216 (Barmbek-Nord)
Lieselotte Ahrens war die Tochter des Arbeiters und späteren Wächters Georg Ahrens, geboren 1894 in Hummelsbüttel, und Marie Ahrens, geborene Zapf (1902-1939). Die Eltern gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an. Sie hatten 1921 in Hummelsbüttel geheiratet und außer Lieselotte noch sieben weitere Kinder. Erstmalig 1937 tauchte Georg Ahrens im Hamburger Adressbuch mit der Wohnadresse Steilshooper Straße 216e, Erdgeschoss, und der Berufsangabe "Wächter" auf. Das Mietshaus gehörte, wie auch die Nachbarhäuser, der "Aktiengesellschaft für gemeinnützigen Kleinwohnungsbau" (Ferdinandstraße 75).
Aufgrund ihrer geistigen Behinderung besuchte Lieselotte Ahrens ab 1935 keine Schule mehr. In der elterlichen Wohnung Steilshooper Straße 216 (Barmbek-Nord) spielte sie laut Aussage des Vaters gerne mit Puppen und Perlen, war friedlich, sprach aber nie. Über einige ihrer Geschwister vermerkte 1943 Lieselottes Krankenakte: "Eine Schwester Hilfsschule, eine andere Schwester und ein Bruder mehrere Male (in der Schule) sitzen geblieben." 1939 starb die Mutter Marie Ahrens mit 37 Jahren an Leberkrebs.
Der Vertrauensarzt der Sozialverwaltung (Kreisdienststelle 6a, Hufnerstr. 19a) und ein weiterer "Leitender Oberarzt" erstellten am 13. August 1941 ein Gutachten über Lieselotte, in dem sie "angeborene (…), Sprachstörung, kein Schulbesuch möglich, vorläufig 1 Jahr" vermerkten. Die Hamburger Sozialverwaltung (Landesfürsorgeamt, Sonderstelle) schickte im Oktober 1941 einen ärztlichen Aufnahmeschein an die Verwaltung der damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute: Evangelische Stiftung Alsterdorf), und am 31. Oktober 1941 wurde die zwölfjährige Lieselotte von Familienangehörigen in die Alsterdorfer Anstalten gebracht. Nachdem der Vater 1942 in Hamburg wieder geheiratet hatte und sich seine zweite Ehefrau um Lieselotte kümmern konnte, holte die Familie sie im Juni 1942 wieder nach Hause.
Als der Leitende Oberarzt der Sozialverwaltung am 22. März 1943 Lieselotte untersuchte, gewann er ein deutlich negativeres Bild von ihrem Zustand. Er beschrieb sie nun als geistig zurückgeblieben: "Idiotie und Mikrozephalie. Ist im Kreise der Geschwister nicht mehr tragbar. War bereits vom 31.10.1941 – 26.6.1942 in den dortigen Anstalten. Frist 2 Jahre." Daraufhin wurde sie am 17. April 1943 erneut in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen.
Vier Monate später, nach den Bombenangriffen auf die Hansestadt, wurde Lieselotte Ahrens aus den Alsterdorfer Anstalten nach Wien verlegt. Zusammen mit ihr wurden 227 weitere Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen aus den Alsterdorfer Anstalten mit einem Sonderzug in die "Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt" in Wien (Landesheilanstalt am Steinhof) transportiert – offiziell um Betten für Ausgebombte und Kriegsopfer in Alsterdorf freizumachen. Die Verlegung nach Wien erfolgte durch die Gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH aus Berlin W 9 (Potsdamer Platz 1), einer Teilorganisation der zentralen Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, von der aus in einer ersten Phase der Krankenmorde die systematische Ermordung von 70.000 Menschen mit Behinderungen in sechs Tötungsanstalten organisiert wurde.
Die Anstalt in Wien war bereits vor der Ankunft des Transports aus Hamburg stark überbelegt, es fehlten auch etliche Ärzte und Pfleger, die zum Kriegsdienst eingezogen worden, was eine Vernachlässigung der Patienten zur Folge hatte. Auch kam es in der Kriegswirtschaft zu einer Verknappung an Medikamenten, Nahrungsmitteln und Heizmaterial, entsprechend stieg die Sterblichkeit an. Der Anstalt wurden während des Nationalsozialismus Aufgaben im Rahmen der Euthanasie-Maßnahmen zugewiesen. Auch nach dem angeblichem Ende der Krankenmorde im August 1941 wurden die Euthanasiemorde in Wien fortgesetzt. Durch die Heraufsetzung der Altersgrenze für Kinder, die in der "Euthanasie" getötet werden sollten, von 3 auf 16 Jahre wurden dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft deutlich mehr Menschen für tödliche Experimente und Euthanasiemorde überantwortet. Falsche Angaben verschleierten dann die Tötung durch Medikamente oder mangelhafte Ernährung.
In der Wiener Anstalt, die seit Januar 1944 vom Arzt Hans Bertha geleitet wurde, befand sich Lieselotte Ahrens bis zum März 1944 im Pavillion "Pflegeanstalt", im November verlegten die Ärzte sie von Pavillon 24 nach Pavillon 19 (Infektionsstation). Fünf Tage danach starb die Fünfzehnjährige laut offiziellem Vermerk in der Krankenakte an "Bronchopneumonie", einer Art der Lungenentzündung – in diesem Monat starben in der Wiener Anstalt insgesamt 118 Menschen.
Die Chefärztin/Pathologin Barbara Uiberrak, die seit 1938 an der Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof tätig war, nahm am folgenden Tag die Sektion des Leichnams vor und untersuchte dabei insbesondere das Gehirn, aber auch Lunge, Herz, Leber, Milz und Nieren. Der Wiener Historiker Peter Schwarz fand in den Obduktionsbefunden der Prosektorin Uiberrak entgegen allgemeiner Gepflogenheit "niemals eine Beschreibung des (schlechten) äußeren Zustandes einer Leiche". Ob für pseudo-wissenschaftliche Zwecke Organe entnommen wurden, ist in dem kurzen Sektionsprotokoll zu Lieselotte Ahrens nicht vermerkt.
Laut Anstaltsschreiben an die Eltern soll Lieselotte Ahrens auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt worden sein.
Seit 1943 wurden in der Wiener Anstalt von rund der Hälfte aller sezierten Leichen die Gehirne für histologische Untersuchungen entnommen und ein Teil in der hirnanatomischen Sammlung verwahrt. Noch bis 2002 verwahrte die Wiener Anstalt 700 Gehirne, die bei Sektionen entnommen worden waren.
Stand: Oktober 2019
© Björn Eggert
Quellen: Staatsarchiv Hamburg (StaH), 332-5 (Standesämter), 3866 u. 42/1894 (Geburtsregister 1894, Georg Ahrens); Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Sonderakte 393 (Lieselotte Ahrens); Adressbuch Hamburg (Georg Ahrens) 1937; Herbert Diercks, "Euthanasie". Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus, Hamburg 2014, S. 33 (Alsterdorfer Anstalten); Harald Jenner/ Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 67 (Lieselotte Ahrens); Armin Trus, Die "Reinigung des Volkskörpers". Eugenik und "Euthanasie" im Nationalsozialismus, Berlin 2019, S. 150/151 (Karte mit Orten der NS-Euthanasie); Michael Wunder/ Ingrid Genkel/ Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331-371 (Transport nach Wien); www.trend.infopartisan.net (Wiener Psychatrie und NS-Verbrechen, 7.10.2019 eingesehen); www.doew.at/erforschen/projekte/ arbeitsschwerpunkte/ medizin-und-biopolitik (Vortrag von Peter Schwarz, Mord durch Hunger. "Wilde Euthanasie" und "Aktion Brandt" am Steinhof in der NS-Zeit, Wien 2000).