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Jonny Aljes * 1867
Schloßmühlendamm 21 (Harburg, Harburg)
HIER WOHNTE
JONNY ALJES
JG. 1867
EINGEWIESEN
HEILANSTALT LÜNEBURG
"VERLEGT" 21.5.1941
HADAMAR
ERMORDET 21.5.1941
"AKTION T4"
Jonny Aljes, geb. am 25.1.1867 in Harburg, eingewiesen in die `Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg´, `verlegt´ in die Landesheilanstalt Herborn am 22.4.1941, weiterverlegt in die Landesheilanstalt Hadamar am 21.5.1941, ermordet am 21.5.1941
Stadtteil Harburg-Altstadt, Schlossmühlendamm 21 (früher: Mühlenstraße 35)
Jonny Aljes‘ Vater war Inhaber einer Porzellan- und Steinguthandlung in der damaligen Mühlenstraße (heute: Schlossmühlendamm), der Verlängerung der Schlossstraße (heute: Harburger Schlossstraße) zum Sand, dem damals neuen Stadtkern. Als Kind konnte Jonny in jenen Tagen noch ungehindert zum Kanalplatz im Harburger Hafen gelangen, denn die Bahnverbindung Harburg – Cuxhaven, die das alte Zentrum der Stadt um den Kanalplatz im Harburger Hafen von dem neuen Stadtkern am südlichen Ende der Mühlenstraße trennte, wurde erst 1891 eröffnet.
Wir können davon ausgehen, dass Jonny Aljes, als er als Patient der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen wurde, die neuesten Behandlungsmethoden für Menschen hautnah kennen lernte, die unter diesen Erkrankungen litten. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts "Irre" und "Geisteskranke" noch wie Aussätzige, denen nicht zu helfen war, behandelt wurden, waren am Ende dieses Jahrhunderts immer mehr Mediziner davon überzeugt, dass solche Patienten geheilt werden könnten. Statt sie hinter Gefängnismauern wegzusperren, um die Bevölkerungsmehrheit vor ihnen zu schützen, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts spezielle Anstalten – wie auch in Lüneburg – errichtet, in denen die Kranken sich wie freie Menschen fühlten und einer Arbeit nachgingen. In den Obst- und Gemüsegärten sowie in den vielen Werkstätten dieser neuen Einrichtung und auf den Weiden und Ackerflächen des nahe gelegenen Provinzialguts Wienebüttel gab es genügend geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten im Sinne dieser Neugestaltung einer Therapie für Geisteskranke.
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 und spätestens seit dem seit dem Amtsantritt Dr. Max Bräuners, des neuen Direktors dieser Einrichtung, am 1. Januar 1935, wehte aber auch am Wienebüttler Weg ein anderer Wind. Max Bräuner trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Zwei Jahre später wurde er Mitglied des Lüneburger Erbgesundheitsgerichts, das nach der Verabschiedung des nationalsozialistischen `Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses´ darüber zu befinden hatte, ob Menschen, für die Amtsärzte eine Sterilisation beantragt hatten, sich einem entsprechenden Eingriff zu unterziehen hatten. Allein 347 Patienten der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert. 1938 wurde Max Bräuner Kreisbeauftragter des `Rassenpolitischen Amtes´ der NSDAP in Lüneburg.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begann eine weitere Phase der aggressiven Bevölkerungspolitik, die ohne gesetzliche Grundlage eingeleitet wurde und sich über die gesamte Kriegszeit erstreckte. Die Verantwortlichen beriefen sich bei ihrer Arbeit auf eine Ermächtigung Adolf Hitlers vom 1. September 1939, in der verfügte, "dass … unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung der Gnadentod gewährt werden kann". Sitz der Verantwortlichen wurde eine Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, die der "Euthanasie-Aktion" ihren Namen gab: T4. Von hier aus erhielten alle deutschen Heil- und Pflegeanstalten – auch die LHP-Lüneburg - bald darauf Meldebögen mit dem Ziel, die Produktivität jeder einzelnen Patientin bzw. jedes einzelnen Patienten minutiös zu erfassen. Die Unterlagen wurden anschließend an die Berliner Zentrale zurückgeschickt und dort ausgewertet. Zu tötende Patienten erhielten ein rotes Pluszeichen, die anderen ein blaues Minuszeichen.
Im Laufe des Jahres 1941 trafen dann bei immer mehr Heil- und Pflegeanstalten in allen Teilen des Deutschen Reiches Listen mit den Namen von Patienten ein, die in eine andere Einrichtung verlegt werden sollten, um in "ihrer" Anstalt Platz für `kriegswichtige Planungen´ zu schaffen.
Anfang April 1941 wurde Max Bräuner aufgefordert, den Abtransport von 122 männlichen Patienten aus Lüneburg in die Landesheilanstalt Herborn in Hessen zu organisieren. Auf diese Liste setzte Max Bräuner auch den Namen Jonny Aljes. Die Angehörigen wurden anschließend über die Verlegung, aber nicht über den neuen Aufenthaltsort informiert.
Nach einer langen Fahrt traf der Transport mit den 122 Lüneburger Patienten an seinem Zielort ein. Die Landesheilanstalt Herborn war ähnlich wie Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg im Pavillonstil für 1000 bis 1200 Kranke konzipiert und nach dreijähriger Bauzeit am 1. März 1911 eröffnet worden. Das Gelände war in Funktionszonen eingeteilt, in denen sich die Patientengebäude, die Personalhäuser, der Verwaltungsbereich, die große Gärtnerei und ein Heizwerk befanden.
1940 wurde die Landesheilanstalt Herborn zu einer sogenannten Zwischenanstalt umstrukturiert. Sie hatte - wie viele andere Einrichtungen – die Aufgabe, den reibungslosen Ablauf der Mordaktion in den sechs großen deutschen NS-`Euthanasie´-Anstalten sicherzustellen, denn hier standen da die Kranken zum schnellen Weitertransport in die nahe gelegenen Tötungsanstalten bereit. Außerdem tarnte die Zwischenanstalten das Mordprogramm, da es für die Angehörigen schwerer wurde, den Verbleib ihrer Verwandten angesichts dieser kurzfristigen Stationswechsel festzustellen. In Herborn wurden die Neuankömmlinge als so genannte Durchgangskranke behandelt und getrennt von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Landesheilanstalt untergebracht.
Einen Monat nach ihrer Ankunft in Herborn mussten Jonny Aljes und die anderen Lüneburger Männer spezielle Busse der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat) besteigen, die sie nach Hadamar brachten. Sie hielten vor der dortigen Landesheilanstalt, die inzwischen zu einer Tötungsanstalt umgebaut worden war. Dort mussten Jonny Aljes und die anderen sich entkleiden und nackt vor einem Arzt antreten, der sie kurz begutachtete und sich anhand einer Liste für eine von 61 falschen Todesursachen für die Ausfertigung des Todesscheins entschied.
Nachdem sie anschließend noch einmal fotografiert worden waren, wurden die Mordopfer in den Keller geführt, wo sich die als Duschraum getarnte Gaskammer befand. Wenn ca. 60 Personen diesen Raum betreten hatten, schlossen sich die schweren Türen. Der Arzt, der eben noch die `Untersuchung´ durchgeführt hatte, begab sich jetzt in einen Nebenraum und betätigte den Gashahn. Das ausströmende Kohlenmonoxyd führte zum Erstickungstod der Eingesperrten. Der Tötungsarzt beobachtete das Sterben durch ein kleines Fenster in der Wand und stellte die Gaszufuhr ab, wenn seiner Meinung nach alle Kranken tot waren.
Jonny Aljes war 74 Jahre alt, als er am 21. Mai 1941 in dieser Gaskammer ermordet wurde. Kurz darauf erhielten seine Angehörigen eine gefälschte Sterbeurkunde und einen sogenannten Trostbrief, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die Verlegungsmaßnahmen aufgrund der augenblicklichen Kriegslage durchgeführt werden mussten.
Stand: April 2019
© Klaus Möller
Quellen: Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939 – 1945, Hamburg 2017; 100 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg. Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg (Hrsg.), Lüneburg 2001, Raimond Reiter, Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Bildungs- und Gedenkstätte `Opfer der NS-Psychiatrie´ in Lüneburg, Marburg 2005; Raimond Reiter, Psychiatrie im Dritten Reich in Niedersachsen, Hannover 1997; Heimat, Heide, Hakenkreuz. Lüneburgs Weg ins Dritte Reich, Geschichtswerkstatt Lüneburg (Hrsg.), Lüneburg 1995; Helmut Pless, Lüneburg 45, Nordost-Niedersachsen zwischen Krieg und Frieden, Lüneburg 1976; Bettina Winter `Verlegt nach Hadamar.´ Die Geschichte einer NS-‘Euthanasie´-Anstalt, Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hrsg.), Kassel 2002; Harburger Adressbücher; http://de.wikipedia.org/wiki/Vitos_Herborn.