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Liesel und Siegmund Brager
© Yad Vashem

Siegmund Brager * 1911

Kielortallee 22 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
SIEGMUND BRAGER
JG. 1911
DEPORTIERT 1941
MINSK
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Kielortallee 22:
Martha Brager, Frieda Brager, Werner Brager, Liesel Brager, Bela Brager, Joel Falk, Hermann René Falk, Dina Hähnlein, Julius Hähnlein, Heinrich (Henoch) Herbst, Karoline (Caroline) Herbst, Helene Horwitz, Alfred Levy, Martha Levy, Manuel (Emil) Neugarten, Herta Neugarten

Martha Brager, geb. Cohn, geb. am 11.2.1877 in Friedland, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk
Siegmund Brager, geb. am 5.8.1911 in Hamburg, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk
Liesel Brager, geb. Hirschfeld, geb. am 20.8.1914 in Zwesten, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk
Frieda Brager, geb. am 7.11.1916 in Hamburg, 17.7.1943 Lager Westerbork, deportiert am 27.4.1943 von Westerbork nach Sobibor, am 30.4.1943 dort ermordet
Werner Brager, geb. am 30.4.1922 in Hamburg, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk
Bela Brager, geb. am 23.9.1940 in Hamburg, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk

Kielortallee 22

Als Martha Cohn in Friedland in Mecklenburg geboren wurde, hatte der Ort ungefähr 5000 Einwohnerinnen und Einwohner. Er liegt etwa auf halber Strecke zwischen Neubrandenburg und Anklam. Marthas Eltern hießen Salomon und Friedchen Cohn, geb. Lychenheim. Martha heiratete 1909 in Lübeck den gleichaltrigen, aus Hamburg stammenden Tapezierer Alfred Brager und lebte mit ihm in Hamburg. Einen Beruf hatte sie nicht erlernt. Das jüdische Ehepaar hatte laut Eintrag auf seiner Kultussteuerkarteikarte sechs Kinder: Siegmund (geb. 5.8.1911), Gretchen, (geb. 16.8.1912), Ivan (geb. 3.10.1913), Sally (geb. 26.1.1915), Frieda (geb. 7.11.1916) und den Nachkömmling Werner (geb. 30.4.1922). Alfred Brager verstarb bereits im Januar 1927 im Alter von 49 Jahren.

Die Familie war orthodox, lebte nach den Regeln ihrer Religion und übernahm Tätigkeiten für die Jüdische Gemeinde. Wie die überlebende Tochter Gretchen später angab, hatte sie deshalb Probleme während ihrer Lehrzeit. Sie durfte sonnabends – am Sabbat – nicht arbeiten, und ihre Lehrzeit wurde deshalb verlängert. Ein Bruder des Familienoberhaupts Alfred, David Brager, war "Erster Beamter" der Beerdigungs-Bruderschaft der Deutsch-Israelitischen Gemein­de. Eine Beerdigungsbruderschaft hat die Aufgabe sicherzustellen, dass ein Jude so bestattet wird, wie es die Religionsgesetze erfordern.

Auf ein orthodoxes Leben deutet auch die Wohnung im dritten Stock der Kielortallee 22 hin. Das Oppenheimer’s Stift gehörte der ehemaligen Oppenheimer Stiftung, deren Zweck darin bestand, Freiwohnungen an hilfsbedürftige Mitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu vergeben. Hier konnten nur orthodoxe Bewerber aufgenommen werden, denn Voraussetzung war eine Lebensführung nach dem jüdischen Ritualgesetz. Das fünfgeschossige Doppel­haus Kielortallee 22/24 wurde in den Jahren 1907–1908 errichtet und verfügte über 23 Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Auf der Hofseite war eine Synagoge integriert. Es gehörte zu den Ehrenpflichten der Bewohner, das Bethaus zu allen Gottesdiensten aufzusuchen, das hieß täglich zum Morgen- und Abendgottesdienst zu erscheinen und am Sabbat dreimal. Jeden Sonnabend hielt der Rabbiner Lichtig hier Vorträge. In den 1940er Jahren wurde das Gebäude zum "Judenhaus" gemacht. Familie Brager wohnte hier aber schon lange vor 1933.

Der älteste Sohn Siegmund Brager wurde am 5. August 1911 in Hamburg geboren. Verheiratet war er mit Liesel, geb. Hirschberg, aus Zwesten in Hessen. Zwesten heißt heute Bad Zwesten, nachdem es bei einer Gebietsreform 1972 mit mehreren Gemeinden zusammengelegt wurde. Die Eltern von Liesel Brager hießen Hermann Hirschberg und Cecilia Hirschberg, geborene Levy. Familie Hirschberg war in Zwesten bekannt, und viele Menschen dieses Namens wurden Opfer der Shoah. Von Beruf war Siegmund kaufmännischer Angestellter, Lagerist und – laut Deportationsliste – Diener. Vermutlich zog das Ehepaar nach der Heirat in die Grindelallee 33 I, später in den Schlegelsweg 12 in Eilbek. Die beiden bekamen eine Tochter Bela, die am 23. September 1940 geboren wurde. (Der Vorname Bela findet sich in einer 1938 veröffentlichten Liste erlaubter weiblicher jüdischer Vornamen.) Die dreiköpfige Familie wurde am 18. November 1941 von Hamburg nach Minsk deportiert. Die auf der Deportationsliste an­gegebene Adresse lautete Schlegelsweg 12.

Die Tochter Gretchen war Weißnäherin und führte vor ihrer Heirat den Haushalt der Mutter. Im April 1938 heiratete sie ihren zwölf Jahre älteren Vetter Ernst Brager. Von Juni bis September 1938 war dieser im KZ Sachsenhausen interniert und dann noch weitere vier Wochen von November bis Dezember 1938. Er wurde nur unter der Bedingung entlassen, dass er das Land verließ. Im Dezember 1938 stellten die beiden einen Antrag auf Auswanderung und bekamen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt. Ernst Brager wohnte seinerzeit in der Innocentiastraße 37, aber kurz vor der Auswanderung lebten beide wohl bei der Mutter in der Kielortallee 22. Der ursprüngliche Plan war, in die USA auszuwandern. Tatsächlich emigrierten sie aber nach London. Ernst gelangte mit einem gefälschten Visum über Paris nach England, Gretchen reiste von Hamburg nach Le Havre, wo sie ihren Mann traf. Das Paar besaß kein Vermögen. Ein Teil des Hausrats, der aus Anlass der Hochzeit angeschafft worden war, musste unter dem Druck der Verhältnisse billig verkauft werden. Der bescheidene restliche Hausrat wurde von der Spedition E. Gaertner & Co. verpackt und eingelagert.

Der Sohn Ivan Brager hatte Schlachter gelernt. Ein Eintrag in seiner Kultussteuerkarteikarte deutet darauf hin, dass er Hamburg 1932 verließ. Im November 1942 wurde Ivan nach Riga deportiert, wo er überlebte. Nach seiner Ankunft in Riga wurde er mit 72 anderen jungen Männern selektiert, um das Lager Kaiserwald in einem Rigaer Vorort aufzubauen. Später kam er in eine Abteilung der SS, in der Kraftfahrzeuge repariert wurden. Seine Wiedergutmachungsakte ist nicht erhalten, aber auf der dazugehörigen Karteikarte wurde als Todes­datum der 2. Juni 1971 vermerkt. Ivan war verheiratet mit Franziska Brager.

Der Sohn Sally Brager arbeitete als Schulwart in der Talmud Tora Schule bis zu deren Auflösung. Er wohnte im Grindelhof 80, später im Grindelhof 38 und schließlich Rutschbahn 25a, Haus 3. Im Februar 1939 hatte er Ilse Abrahams geheiratet, die aus einer ostfriesischen Familie von Schlachtern und Viehhändlern stammte. Viele aus der Familie waren nach Hamburg gezogen. Ihre Trauung war eine der letzten, die Oberrabiner Carlebach vollzog. Gefeiert wurde im Kreis von Familie und Freunden bei Ilses Bruder Moritz Abrahams (dazu s. Ehepaar Neugarten und Familie Beit), der eine Wohnung Ecke Rutschbahn/Grindelallee bewohnte. Vorherrschendes Gesprächsthema auf der Feier war die Emigration. Später am Tag wurde die Hochzeitsgesellschaft dadurch aufgeschreckt, dass HJ und SA brüllend durch das Grindelviertel zogen.

Am 24. November 1940 kam der Sohn Asriel zur Welt. Für Sally, Ilse und Asriel liegen Stolpersteine im Grindelhof 30 vor der Schule. Alle drei wurden am 18. November 1941 nach Minsk deportiert.

Die Tochter Frieda Brager lebte bei ihren Eltern in der Kielortallee 22. Sie war ledig und arbeitete in Hamburg als Hausgehilfin, später als Verkäuferin für Möbelstoffe. 1939 stellte sie einen Antrag auf Auswanderung in die Niederlande. Nach Ausstellung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung seitens der Hamburger Behörde wurde ihr die Ausreise im April 1939 genehmigt. Sie galt als unvermögend und erhielt vom Hilfsverein der Juden in Deutschland einen Koffer, ein Paar Schuhe, einen bunten Kittel und eine Unterstützung von 50 Reichsmark (RM). Die Reise trat sie mit 10 RM an. Im April 1939 wurde sie als Einwohnerin von Amsterdam eingetragen, fand bei der Familie von Abraham Sarfatij in der Hoendiepstraat 9 Arbeit als Hausgehilfin und blieb in diesem Haushalt. Am 20. April 1943 kam sie ins Durchgangslager Westerbork, wurde am 27. April 1943 von dort ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und am 30. April 1943 ermordet. Auch Abraham Sarfatij und seine Familie, seine Ehefrau und sechs Kinder, wurden 1943 in die Vernichtungslager Auschwitz oder Sobibor deportiert.

Der jüngste Sohn Werner Brager, geboren am 30. April 1922 in Hamburg, lebte ebenfalls in der Kielortallee 22. Er arbeitete auf dem Jüdischen Friedhof an der Ilandkoppel und wurde zusammen mit seiner Mutter nach Minsk deportiert. Von den beiden und von der zehn Tage später deportierten Familie des Bruders Siegmund fehlt jedes weitere Lebenszeichen.

© Susanne Lohmeyer

Quellen: 1; 2 (FVg 440 FVg 5692); 5; 8; HAB II 1928, 1937, 1942; www.joodsmonument.nl; StaH 522-1 Jüdische Gemeinden, 992e2 Bde 2+3, Deportationslisten; Gertrude Schneider, Journey into Terror, S. 169f.; Auskunft Jose Martin, Joodse Monument, v. 25.1.2012; Sielke Salomon, Eimsbütteler Facetten, S. 95ff.; FZH/WdE 15 + 34.

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