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Pauline Cremer (geborene Levy) * 1880

Rellinger Straße 6 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)

1941 Lodz
1942 Chelmno ermordet

Weitere Stolpersteine in Rellinger Straße 6:
Bertha Cremer, Martin Cremer

Martin Cremer, geb. am 2. 4. 1874 in Jever (Oldenburg), deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, am 4.5.1942 in Chelmno ermordet
Pauline Cremer, geb. Levy, geb. am 11.6.1880 in Hamburg, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, am 4.5.1942 in Chelmno ermordet
Bertha Cremer, geb. am 11.3.1905 in Bant-Rüstringen, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, am 4.5.1942 in Chelmno ermordet

Rellinger Straße 6

Als Martin und Pauline Cremer am 1. Februar 1903 heirateten, war er 28 Jahre alt, seine Frau fünf Jahre jünger. Beide wohnten zusammen in Bant, einem kleinen Ort bei Wilhelmshaven. Martin stammte aus dem Oldenburgischen, aus Jever. Dort lebten auch seine Eltern, Abraham und Marianne Cremer. Pauline war Hamburgerin, die Tochter des Kürschners Meyer Levy und seiner Frau Lea, geborene Salomon. In Bant kamen auch Martin und Pauline Cremers Töchter zur Welt: Ende Oktober 1903 Leonore, knapp anderthalb Jahre später Bertha.

1907 zog die Familie nach Hamburg, wo sich die Eltern eine gemeinsame berufliche Existenz aufbauten. Martin Cremer hatte den Schlachterberuf erlernt und eröffnete 1924 im hinteren Teil der zu jener Zeit noch sehr belebten und beliebten Einkaufsstraße Eimsbütteler Chaussee eine Schlachterei: im Haus 130, das fast an der Fruchtallee lag. Im selben Gebäude hatte er eine Dreizimmerwohnung für seine Familie gemietet, beides zusammen für eine günstige Miete von 90 Reichsmark (RM) im Monat. Das Geschäft lief gut, Pauline Cremer und ihr Mann arbeiteten fast rund um die Uhr. Zusätzlich hatten sie einen Schlachtergesellen eingestellt sowie eine Aushilfe, die jeden Samstag kam und immer dann, wenn mit besonders viel Betrieb zu rechnen war, also etwa vor Ostern und Weihnachten. Außerdem beschäftigte das Ehepaar Cremer eine Reinmachefrau, die sich sowohl ums Geschäft als auch um die Wohnung kümmerte.

Die Schlachterei bot außer allen Fleischsorten auch Geflügel und Wild an, hinzu kamen einige Feinkostprodukte. Zu den größeren Kunden gehörten ein Krankenhaus sowie zwei Einrichtungen, die Mittagstisch anboten. Ein eigener Lieferwagen zählte ebenfalls zur Geschäftsausstattung, außerdem hatte Martin Cremer für seine Waren im städtischen Kühlhaus eine Kühlzelle gemietet. Als zum 1. April 1930 die Handwerksrolle der Hamburger Schlachterinnung eingeführt wurde, ließ er sich sofort eintragen.

Die ältere Tochter Leonore ging bis Oktober 1918 auf die Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße. Anschließend besuchte sie das "Schreib- und Handels-Lehrinstitut Grone", um kaufmännische Kenntnisse zu erwerben, und war dann in verschiedenen Firmen als Kontoristin bzw. Stenotypistin tätig. Ihre jüngere Schwester Bertha war körperlich gehandicapt. Sie litt an einer Verkürzung des linken Beines, einer Versteifung des Hüftgelenks sowie einer Fußfehlstellung. Auch war sie lernbehindert und kam zunächst auf eine der damals "Hilfsschulen" genannten Einrichtungen. Diese musste sie aber nach der zweiten Klasse wieder verlassen. Versuche, "sie ins Erwerbsleben zu integrieren", scheiterten an Bertha Cremers "Schwachsinn", so die Diagnose eines Vertrauensarztes des damaligen Hamburger Arbeitsamtes. Eine Unterbringung im Martha-Helenen-Heim, das Arbeiterinnen eine Wohnmöglichkeit sowie die Teilnahme an Kursen zur Förderung der Allgemeinbildung bot, lehnte wiederum der Hauptfürsorge¬ausschuss der Stadt Hamburg ab, weil ein von ihm beauftragter Vertrauensarzt "keinen Fortschritt in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit" Bertha Cremers feststellen konnte.

Im März 1929 brachte die junge Frau ein totes Kind zur Welt, was zusammen mit der ärztlichen Diagnose im Mai 1934 dazu führte, dass sie im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek zwangssterilisiert werden sollte. Seit 1931 wurden ihr zudem nacheinander verschiedene Fürsorgerinnen und Fürsorger des Hamburger Pflegeamts als Vormund zugeteilt. Das war möglich, weil sie zuvor auf Antrag des Pflegeamtes durch die Staatsanwaltschaft entmündigt worden war. In jenen Jahren lebte sie abwechselnd bei den Eltern und in verschiedenen Heimen – erst in den Alsterdorfer Anstalten, dann im Pflegeheim Martinistraße des Pflegeamtes Hamburg und danach im Versorgungsheim Farmsen. Dorthin wurde sie Mitte 1931 von der Martinistraße aus überwiesen, weil sie "infolge ihrer abnormalen Veranlagung das Heim in jeder Weise übermäßig belastet". Deutlicher wurde wenig später das Versorgungsheim Farmsen in einem Schreiben an die Hamburger Wohlfahrtsbehörde: Bertha Cremer "führt sich ver­hältnismäßig. Sie ist jedoch völlig halt- und hemmungslos, lässt sich zu allem verführen und ist fast schamlos triebhaft. Arbeitsleistungen sind gering. Ausgesprochener Bewahrungsfall." Diese Kategorisierung passte zu den damals intensiv geführten sozialpolitischen Diskussionen über ein so genanntes Bewahrungsgesetz, hinter dem der Gedanke stand, eine Zwangsunterbringung für als "asozial" diffamierte Randgruppen in geschlossenen Fürsorgeanstalten zu fordern. Für die Unterbringung seiner Tochter in Farmsen zahlte Martin Cremer alle vierzehn Tage rund 10 RM.

Dann kam der 1. April 1933. Für diesen Tag hatten die Nationalsozialisten einen Boykott von Geschäften, Kanzleien und Praxen jüdischer Eigentümerinnen und Eigentümer organisiert. SA-Leute postierten sich vor den Eingängen, behinderten und beleidigten jeden, der hinein oder hinaus wollte. Auch Martin Cremers Schlachterei war betroffen. Ein SA-Mann stand vor der Tür und stellte sich allen entgegen, die vorhatten, den Laden zu betreten. Von da an ging es mit dem Geschäft bergab. Martin und Pauline Cremer hatten mit erheblichen Umsatz­einbußen zu kämpfen, da manche Stammkundinnen und -kunden ausblieben. Auch eröffnete in direkter Nachbarschaft ein zweiter, nichtjüdischer Schlachter ein Geschäft, der eine starke Konkurrenz darstellte. Martin Cremer versuchte sich zunächst damit zu behelfen, dass seine Familie und er die Jüdische Gemeinde verließen und sich taufen ließen. Doch bereits im Sommer 1934 traten sie wieder aus der evangelisch-lutherischen Kirche aus und kehrten zurück in die Jüdische Gemeinde. Da hatte Cremer bereits resigniert. Zum 15. November 1934 verkaufte er sein Geschäft. Auch musste die Familie aus dem Haus in der Eimsbütteler Chaussee in eine kleinere und günstigere Wohnung am Eimsbütteler Marktplatz ziehen, denn sie hatte nun kein Einkommen mehr. Die rund 16.800 RM, die Martin Cremer für die Schlachterei bekam, waren schnell aufgebraucht: durch noch anfallende Umsatzsteuer, die restliche Ladenmiete, Gas, Telefon, Makler, Umzug sowie durch die weiterhin nötigen Kosten für Wohnungsmiete, Strom, Gas, Krankenkasse, Lebensmittel und die Versorgung der Tochter Bertha. Plötzlich war die Familie auf die Wohlfahrt angewiesen. Auch die ältere Tochter, Leonore, fand keine Arbeit mehr und erhielt nun bis auf kurze Unterbrechungen Arbeitslosengeld. Sie wohnte in jener Zeit ganz in der Nähe der Eltern am Eimsbütteler Marktplatz zur Untermiete und wechselte in den kommenden Jahren häufig die Adresse.

Während Pauline Cremer sich nun ausschließlich um den Haushalt kümmerte und ein Zimmer untervermietet hatte, ging es ihrem Mann gesundheitlich immer schlechter. Er litt unter chronischen Herz- und Magenbeschwerden, konnte nur leichte Arbeiten verrichten und kaum etwas hinzuverdienen. Bertha Cremer hatte seit Anfang 1935 in der "Bewahrabteilung" des privat geführten Abendroth-Hauses gelebt. Dort wurde sie rund zwei Jahre später wieder entlassen, da sie nun offenbar doch als arbeitsfähig galt. Im Sommer 1937 wies ihr das Pflegeamt eine Stelle in den Hamburger Bürgersälen an der Wandsbeker Chaussee zu, die unter anderem ein großes Restaurant und eine Teestube enthielten. Dadurch sollte sie ihre Unterkunft in Zukunft selbst zahlen können. Die Eltern waren dazu nicht mehr in der Lage und der Staat wollte dafür nicht länger aufkommen. Bertha Cremer wohnte mittlerweile in einem Mädchenheim des 1934 gegründeten Landeskirchlichen Amtes für Innere Mission, dem Vorläufer des Diakonie-Hilfswerks Hamburg. Die Arbeit in den Bürgersälen war für sie aber offenbar zu schwer, so dass sie wenige Wochen später kündigte. Daraufhin brachte das Pflegeamt sie in den Hamburger Werkstätten für Erwerbsbeschränkte unter – erst zum Tütenkleben, dann zur Mattenflechterei.

In den folgenden zwei Jahren wechselte Bertha Cremer mehrfach die Arbeitsstelle und den Wohnort, dabei wohnte sie nach dem Auszug aus dem Mädchenheim offenbar nur noch privat zur Untermiete. Auch erkrankte sie immer wieder, teilweise schwer, und war deshalb oft nicht arbeitsfähig. Die Hamburger Sozialverwaltung sprach sich für ihre Unterbringung bei den Eltern aus, doch Martin und Pauline Cremer, die mittlerweile zusammen mit ihrer Tochter Leonore in der Rellinger Straße 6 wohnten, argumentierten dagegen. Bertha sei sehr eigenwillig, ließe sich nichts sagen und würde "unter Umständen sogar tätlich".

Während die Eltern unter Armut und gesundheitlichen Problemen litten, die Schwester von einer Arbeitsstelle zur anderen, von einer Unterbringung zur nächsten wechselte, gelang Leonore Cremer im Juli 1939 per Schiff die Emigration nach England. Sie durfte lediglich einen Koffer und einen Hutkarton als Handgepäck mitnehmen sowie drei weitere Koffer als Reisegepäck befördern lassen.

Am 25. Oktober 1941 wurden Pauline, Martin und Bertha Cremer nach Lodz verbracht. Ihre Möbel und Haushaltsgegenstände wurden beschlagnahmt und vom Auktionator Jäkel versteigert. Der Reinerlös von 43,16 RM fiel an die Oberfinanzkasse Hamburg. Ebenfalls in dem Transport nach Lodz befand sich Sophie Cremer, Martin Cremers jüngere Schwester, die auch in Hamburg gelebt hatte. Am 4. Mai 1942 wurden Martin, Pauline, Bertha und Sophie Cremer von Lodz aus ins Vernichtungslager Chelmno deportiert.

Leonore Cremer gelang es nicht, sich in England einzufinden. Sie lebte dort völlig verarmt und einsam, war psychisch labil und immer wieder krank. Eine Rückkehr nach Deutschland stellte für sie aber offenbar auch keine Möglichkeit dar. 1948 erhielt sie die britische Staatsangehörigkeit. Leonore Cremer starb im März 1974 an den Folgen von Knochenmarkskrebs.

© Frauke Steinhäuser

Quellen: 1; 2 (FVg 4908); 4; 5; 8; StaH 332-5 Standesämter, 8623 u. 32/1903; ebd., 1979 u. 2846/1880; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 311003 (darin auch die Fürsorgeakte über die Familie Cremer AZ C 5410); StaH 522-1, 390 Jüdische Gemeinden, Wählerliste 1930; Bake, Wer steckt dahinter?; Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle; Willing, Bewahrungsgesetz.

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