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Porträt Ehrenfried Diers
Ehrenfried Diers
© Landesarchiv Niedersachsen

Ehrenfried Diers * 1908

Reeseberg 104 (Harburg, Wilstorf)


HIER WOHNTE
EHRENFRIED DIERS
JG. 1908
EINGEWIESEN 1930
ROTENBURGER ANSTALTEN
`VERLEGT´ 10.10.1941
HEILANSTALT LÜNEBURG
ERMORDET 14.9.1944

Ehrenfried Diers, geb. am 29.6.1908 in Harburg, eingewiesen in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission 1930, `verlegt´ in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 10.10.1941, umgekommen am 14.9.1944

Stadtteil Wilstorf, Reeseberg 104

Ehrenfried Diers wuchs in einem schwierigen Umfeld auf. Sechs seiner Geschwister verstarben gleich nach ihrer Geburt. Sein Vater, Anton Karl Diers, war Alkoholiker und seine Mutter Anna Luise Marie Diers, geb. Starzonek, war ihren Aufgaben in der Erziehung und Haushaltsführung auch nicht gewachsen. 1926 wurde den Eltern das Erziehungsrecht wegen "schlechter häuslicher Verhältnisse und unsozialen Verhaltens" entzogen.

Wir wissen nicht, wie es Ehrenfried in der Zwischenzeit ergangen ist, aber nachdem er drei Jahre in einer öffentlichen Erziehungsanstalt verbracht hatte, wurde er als junger Erwachsener am 23. März 1929 wegen "Imbezillität" zunächst in die Provinzialanstalt Langenhagen und am 12. Mai 1930 in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen.

In dieser Umgebung schien es ihm recht gut zu gehen. Er wurde als freundlicher und ruhiger Zögling beschrieben, der keine Schwierigkeiten bereitete und sich zu beschäftigen wusste. Von seinen Eltern wollte er absolut nichts wissen. Er war weder an einem Urlaub bei ihnen in Harburg noch an ihrem Besuch in Rotenburg interessiert. Als sie ihn im Oktober 1932 einmal nach Hause einluden, hielt er es keine vierzehn Tage bei ihnen aus, und als seine Mutter kurz danach ihren Besuch in Rotenburg anmeldete, teilte er den Betreuerinnen mit, dass er sie nicht sehen wolle und sie das zur Kenntnis nehmen möge. Er zeigte sich in den nächsten Monaten noch zuvorkommender und hilfsbereiter als sonst und gab sich alle Mühe, sich so zu verhalten, dass er in der Anstalt bleiben durfte.

Nach 1933 führte die nationalsozialistische Gesundheits- und Bevölkerungspolitik auch in dieser niedersächsischen Einrichtung zu tiefgreifenden Veränderungen. Wie im `Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses´ vorgeschrieben, wurde die gesamte Anlage zu einer `geschlossenen Anstalt´ erklärt. Für den größten Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, nämlich für alle, die als `fortpflanzungsfähig´ galten, bedeutete dies, dass sie nicht mehr beurlaubt oder entlassen werden konnten. Das Anstaltskrankenhaus wirkte auch bei Zwangssterilisationen mit. Mindestens 238 Männer und 97 Frauen der Rotenburger Anstalten wurden in der NS-Zeit zwangsweise sterilisiert. Ehrenfried Diers blieb dieses Leid offenbar erspart.

Noch dramatischer waren die Folgen der Ermächtigung zur Durchführung der Tötung unheilbar Kranker, die Adolf Hitler erteilt hatte. Die ersten Rotenburger Patientinnen und Patienten waren schon auf dem Weg in die Gaskammern der Tötungsanstalt Hadamar, als diese Phase des nationalsozialistischen Programms der Vernichtung `unwerten Lebens´ im August 1941 gestoppt wurde. Doch damit war das Morden nicht beendet. Schätzungsweise 87.000 Menschen mit Behinderungen starben auch danach noch durch gezielten Nahrungsmittelentzug, falsche Medikamentenvergabe und unterlassene medizinische Hilfeleistung.

Als im Laufe des Jahres 1941 der Bedarf an weiteren Räumlichkeiten für die Unterbringung von Reservelazaretten und Ausweichkrankenhäusern kriegsbedingt sprunghaft stieg, waren auch die Rotenburger Anstalten von den entsprechenden Konsequenzen betroffen. Innerhalb weniger Wochen mussten alle Gebäude geräumt und über 800 Bewohnerinnen und Bewohner in andere Einrichtungen abtransportiert werden. 72 Männer, Frauen und Kinder hatten das Glück, in ihre Familien zurückkehren zu können. 240 arbeitsfähige Patientinnen und Patienten blieben in Rotenburg, da sie für wichtige Aufgaben im Reservelazarett und im Ausweichkrankenhaus dringend benötigt wurden.

Insgesamt 547 Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Anstalten kamen zwischen 1940 und 1945 in den Einrichtungen um, in die sie im Zuge der Räumung verlegt worden waren. Das Schicksal von weiteren 50 Menschen bleibt ungeklärt.

Von den 10 Kindern und 7 Erwachsenen, die an Diphterie und TBC erkrankt waren und am 10. Oktober 1941 von Rotenburg in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt wurden, kamen 15 Transportteilnehmer (alle Erwachsenen und 8 Kinder) in den folgenden Wochen und Monaten um. Auch Ehrenfried Diers gehörte zu ihnen. Er starb am 14. September 1944 im Alter von 36 Jahren laut Sterbeurkunde an angeborenem "Schwachsinn und einer Vereiterung des linken Ellenbogengelenks".


Stand: April 2019
© Klaus Möller

Quellen: Archiv der Rotenburger Werke der Inneren Mission, Akte Nr. 222; Archiv des ev.-luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost; Stadtarchiv Lüneburg; Niedersächsisches Landesarchiv HStAH. Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/085 Nr. 1725; Zuflucht unter dem Schatten Deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933–1945, Rotenburger Anstalten der Inneren Mission (Hrsg.), Rotenburg 1992; 100 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg, Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg (Hrsg.), Lüneburg 2001; Carola Rudnik, Vielfalt achten, Teilhabe stärken. In: Alfred Fleßner, Uta George, Ingo Harms, Rolf Keller (Hrsg.), Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus, Göttingen 2014.

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