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Lieselotte Drescher, Nov. 1934
Lieselotte Drescher, Nov. 1934
© Evangelischer Stiftung Alsterdorf

Lieselotte Drescher * 1922

Seilerstraße 36 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
LIESELOTTE
DRESCHER
JG. 1922
EINGEWIESEN 1927
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
HEILANSTALT
STEINHOF / WIEN
ERMORDET 8.8.1944

Emmi Gertrud Lieselotte Drescher, geb. am 22.6.1922 in Wartulischken/Kreis Pogegen/Memel, "verlegt" am 16.8.1943 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort verstorben am 8.8.1944

Seilerstraße 36

Die Familie von Lieselotte Drescher stammte aus dem damaligen Memelland in Ostpreußen. Ihre Eltern hatten am 10. März 1920 in Piktupönen/ Kreis Pogegen geheiratet. Lieselotte wurde am 22.6.1922 in Wartulischken geboren, wo der Vater Ernst Adolf Drescher (geboren 10.12.1893) als Landwirt tätig war. Die Mutter Gertrud, geborene Sabatsch (geboren 29.12.1902), war die Tochter eines "Fleischermeisters" in Piktupönen.

Lieselottes Mutter Gertrud Drescher hatte sich von ihrem Mann getrennt, angeblich, weil er trank. Sie zog mit Lieselotte nach Hamburg und lebte zur Untermiete im Stadtteil St. Pauli in der Wilhelminenstraße 10 (heute Hein-Hoyer-Straße) und zuletzt in der Seilerstraße 26.

Lieselotte hatte noch zwei Brüder: Helmuth (geb. 22.1.1921) und Rudolf (geb. 9.3.1924). Nach der Trennung der Eltern lebte Helmuth bei seinem Vater in Wartulischken, Rudolf bei den Großeltern mütterlicherseits in Piktupönen.

Im April 1926 wurde Lieselotte ins Allgemeine Krankenhaus Eppendorf eingewiesen, von dort kam sie, da sie angeblich nicht mehr in der Obhut ihrer Mutter bleiben konnte, in ein Hamburger Waisenhaus.

Lieselotte wurde in ihrer Krankenakte als ein lebhaftes, kräftiges, etwas ungelenktes Kind beschrieben. Seit ihrem ersten Lebensjahr litt sie unter epileptischen Anfällen und zeigte Andeutungen einer Rachitis (eine durch Vitamin D-Mangel hervorgerufene Erkrankung). Hinzu kamen Infektionskrankheiten wie Grippe, Angina und Bronchitis. Als sie an Masern und Scharlach erkrankte, musste sie wieder ins Krankenhaus, da es im Waisenhaus keine Isoliermöglichkeit gab.

Eine Erzieherin schilderte Lieselotte in einem Bericht an das Jugendamt als vorlaut, bockig und widerspenstig. Sie sei – so hieß es – in der Gruppe als eine Plage und Gefahr für die anderen Kinder empfunden worden. Die Erzieherin bat darum, Lieselotte baldmöglichst in einer anderen Anstalt unterzubringen.

Auf Grund dieser Schilderung wurde Lieselotte von dem Kinder- und Jugendpsychiater und späteren T4-Gutachter Werner Villinger untersucht und beurteilt: "Lebhaft, quecksilbrig, ohne Distanzgefühl, über den Durchschnitt entwickelt, leicht zu fixieren, steht sofort in gutem Rapport mit dem Arzt. Sie fasst gut auf, spricht sehr scharf artikuliert und in kleinen, ihrem Alter entsprechenden Sätzchen. Alles in allem ist sie ihrem Alter in der psychischen Entwicklung voraus. Die in dem Bericht der Erzieherin aufgeführten Züge der Vorlautheit, Widerspenstigkeit, Reizbarkeit und der Neigung, andere Kinder zu reizen und herauszufordern, müssen als Folge der organischen Gehirnerkrankung, die sich in den epileptischen Anfälle äußert, aufgefasst werden."

Lieselotte wurde jetzt täglich mit dem Beruhigungs- und Schlafmittel Luminal behandelt. Sollte jedoch in Kürze keine deutliche Besserung eintreten, käme sie im Interesse der anderen Kinder in eine Anstalt für epileptische Kinder, so eine ärztliche Entscheidung.

Im März 1927 berichtete ihre Erzieherin, Lieselotte sei im Allgemeinen viel "sinniger" und vernünftiger geworden. Zwei Monate später wurde ihr Betragen jedoch wieder als "ganz schlimm" beschrieben. Sie sei frech, vorlaut, ungehorsam und gegenüber anderen Kindern zänkisch, rücksichtslos und unvorsichtig.

Im August, kurz nach ihrem fünften Geburtstag, wurde Lieselotte in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) eingewiesen. Anfang 1929 ging es ihr lt. Patientenakte etwas besser: "Hat durchweg nicht mehr so schwere Anfälle, kommt auch meistens gleich wieder zu sich, während sie sonst hinterher immer lange bewusstlos war."

Im darauf folgenden Jahr ereignete sich eine einschneidende Veränderung in Lieselottes Leben. Ihre Mutter, die sie regelmäßig in Begleitung einer "Tante" besucht hatte, verstarb am 7. Januar 1930. Gertrud Drescher hatte einen Schwangerschaftsabbruch nicht überlebt.

Lieselotte, die in Alsterdorf zunächst die Spielschule, dann die Vorschule besucht hatte, wurde als eine gute Schülerin beschrieben. Ihre Schulsachen hielte sie ordentlich und sauber. Andererseits hieß es in den Schulberichten aber auch, sie sei streitsüchtig und im Charakter äußerst schwierig. Immer wieder geriete sie mit dem Pflegepersonal in Konflikt.

Im Laufe der Jahre verschlechterte sich Lieselottes Gesundheitszustand. Die epileptischen Anfälle traten nun häufiger und schwerer auf und hielten auch länger an.

Ihre Lehrerin berichtete Ostern 1933: "Lieselotte ist ihren Mitschülern an Wissen und Kenntnissen überlegen. Sie liest gut und mit Verständnis sämt.[liche] Lesestücke in der Hansa- und Verkehrsfibel. Ihre Diktate sind stets fehlerfrei. [...] In der Klasse macht sie keine Disziplinschwierigkeiten während der Freizeit wird viel über L[lieselotte]’s Widersetzlichkeit und Trotz geklagt. In der Handarbeit ist sie sehr geschickt, sie arbeitet fleißig und exakt."

Lieselottes Schulzeit endete im November 1935. Wegen "Frechheit" und "Widersetzlichkeit" wurde sie vom Unterricht ausgeschlossen und fortan zu Hausarbeiten herangezogen, die sie "sehr unwillig" ausgeführt habe.

Wenn sie als besonders ungehorsam wahrgenommen wurde, verlegte das Personal sie in den "Wachsaal" und isolierte sie dort. Zur Strafe bekam sie "Knappe Kost", wurde im Bett angegurtet oder erhielt "Ganzpackungen". Zweimal zerschlug sie eine Fensterscheibe und wurde handreiflich gegen Mitpatientinnen und Pflegepersonal.

Nach mehreren Fluchtversuchen gelang es Lieselotte, am 13. April 1937 aus der Anstalt zu entweichen. Sie wurde jedoch von einer Tante, bei der sie in Harburg Zuflucht gesucht hatte, zurückgebracht.

"Wachsäle" gab es bereits in den 1910er Jahren, aber in den Alsterdorfer Anstalten wurden sie erst Ende der 1920 Jahre eingeführt. Dort wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen und anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

Offenbar hatten die Alsterdorfer Anstalten Lieselotte Dreschers Sterilisation nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 beantragt. Im Januar 1938 wurde auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes zunächst übergangsweise, bis sich die Frage nach der deutschen Staatsbürgerschaft ihres Vaters geklärt haben würde, die Leiterin des "Pflegeamtes für gefährdete Mädchen und Frauen", Käthe Petersen, als Pflegerin für Lieselotte bestellt. Als Sammelpflegerin der Hamburger Fürsorgebehörde verfügte diese auch häufig die Sterilisation ihrer Mündel.

Lieselotte wurde im Alter von 16 Jahren am 27. Februar 1939 im Eppendorfer Krankenhaus zwangssterilisiert. Der Eingriff wurde mit der Diagnose: "Erbliche Fallsucht mit sekundärem Schwachsinn, mittleren Grades" begründet.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Juli/August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" aus Alsterdorf ab. Unter ihnen befand sich auch Lieselotte Drescher.

Bei der Aufnahmebesprechung in Wien wurde Lieselotte als "ruhig, arbeitswillig und gesprächig" beschrieben. Sie erzählte, dass in Alsterdorf ein Brand ausgebrochen sei, darum sei sie nach Wien gekommen. Sie leide an Anfällen schon so lange, wie sie denken könne. Vor dem Anfall werde ihr ganz komisch vor Augen, sie könne es aber nicht näher erklären, dann werde sie bewusstlos und wisse nicht wie lange das dauere. Nachher sei sie wieder ganz frisch und munter. Sie sei in Alsterdorf zur Schule gegangen und immer gut mitgekommen, sei nie sitzen geblieben.

Lieselotte wurde in der Wiener Anstalt in der Nähstube beschäftigt. Sie sei geordnet, willig und "brauchbar" gewesen, aber auch eigensinnig und wolle ihren Kopf durchsetzen. Nach den Wiener Aufzeichnungen vom März 1944 erlitt Lieselotte in diesem Monat 39 schwere Anfälle mit langer Bewusstlosigkeit. Im April konnte sie wieder in der Nähstube arbeiten. In ihrer Akte wurde vermerkt: "Pat.[ient] ruhig, geordnet, fügsam, orientiert, geht willig und brauchbar in die Wäscherei, pflegt sich allein, nimmt gegen die Anfälle Luminal." Im Juli wurden weitere "Daueranfälle" vermerkt: "Ist sehr schwach, isst nichts".

Lieselotte Drescher verstarb am 8. August 1944 im Alter von 22 Jahren in Wien. Als Todesursache wurde "Pneumoniahypostatica bei epilept. Dauerzustand" angegeben.

Lieselotte Drescher, die im Dezember 1944 noch 57 kg gewogen hatte, hatte kurz vor ihrem Tod nur 41,5 kg gewogen. Ab Mitte 1941 wurden die Patientinnen und Patienten nicht mehr in Gastötungsanstalten, sondern in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten mittels Nahrungsentzug, fehlender Pflege oder durch Medikamente getötet. So auch in Wien.


Stand: Dezember 2019
© Susanne Rosendahl

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 9846 u 65/1930; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte 361; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 2. Aufl. Hamburg 1988; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2. Auflage, S. 641.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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