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Porträt Günther Fitschen
Günther Fitschen
© Ev. Stiftung Alsterdorf

Günther Fitschen * 1933

Winsener Straße 19 (Harburg, Wilstorf)


HIER WOHNTE
GÜNTHER FITSCHEN
JG. 1933
EINGEWIESEN18.5.1937
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 10.8.1943
HEILANSTALT MAINKOFEN
ERMORDET 29.4.1945

Günther Fitschen, geb. am 15.7.1933 in Harburg-Wilhelmsburg, eingewiesen in die `Alsterdorfer Anstalten ´ am 18.5.1937, `verlegt´ in die `Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen´ am 10.8.1943, ermordet am 29.4.1945

Stadtteil Wilstorf, Winsener Straße 19

Günther-Bernhard Rudolf Fitschen kam als uneheliches Kind seiner Mutter Margarethe Fitschen (*24.5.1913) zur Welt. Fünf Wochen nach seiner Geburt heiratete sie den Arbeiter Otto Marsal (*26.8.1908), der aber nicht der leibliche Vater des Jungen war.

Margarethe Marsal tat sich schwer in ihrer neuen Rolle als Ehefrau und junge Mutter. Das Jugendamt sorgte sich bald um das Wohl des kleinen Jungen und arrangierte eine zusätzliche Betreuung des Kindes durch den evangelischen Margarethenhort in der Nöldekestraße und das katholische Vincenzheim am Reeseberg.

In den folgenden Wochen und Monaten wurde erkennbar, dass Günther Fitschen sich nicht altersgemäß entwickelte. Nach einer eingehenden medizinischen Untersuchung des Jungen im Januar 1937 sprach sich das städtische Wohlfahrtsamt dafür aus, ihn einer psychiatrischen Einrichtung anzuvertrauen. Am 15. Juli 1937 nahmen die Alsterdorfer Anstalten Günther Fitschen in ihre Obhut. In der Eingangsuntersuchung stellte Gerhard Kreyenberg, der Leitende Oberarzt dieses Hauses, fest, dass der fast vierjährige Junge nicht gehen und nicht sprechen konnte. Er kam in seiner Diagnose zu dem Ergebnis, dass der junge Patient unter angeborenem Schwachsinn und Taubstummheit leide.

In den folgenden Wochen und Monaten waren kaum gesundheitliche Fortschritte zu erkennen. Der kleine Patient verbrachte die meiste Zeit in der Rückenlage und unternahm hin und wieder vorsichtige Gehversuche. In der Körperpflege und bei der Nahrungsaufnahme war er weiterhin auf zusätzliche Hilfe angewiesen. Er freute sich, wenn er Gegenstände, die ihm gereicht wurden, ergreifen konnte, ließ sie dann aber meistens ungenutzt wieder auf der Stelle liegen, da er keine Verwendung für sie hatte.

Im Wesen wurde Günther Fitschen lange Zeit als freundlich geschildert und das Laufen erlernte er offensichtlich auch. Die Beurteilung änderte sich schlagartig im Frühjahr 1943. In der Krankenakte war jetzt zu lesen: "Patient ist sehr tiefstehend; er kann sich überhaupt nicht beschäftigen, läuft den ganzen Tag planlos durch die Abteilungsräume. In letzter Zeit fängt er an, sein Zeug zu zerreißen, auch schlägt er mit den Füßen gegen alle Gegenstände oder mit der Faust sich selbst ins Gesicht, wodurch er oft blaue Stellen bekommt. Er muss angezogen und gewaschen werden und wird gefüttert."

Die Alsterdorfer Anstalten waren in der NS-Zeit tief in die Praxis der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik verstrickt. Pastor Friedrich Karl Lensch, der Chef des Hauses, und der Leitende Oberarzt Gerhard Kreyenberg, beide Mitglieder der NSDAP, wirkten als überzeugte Verfechter einer Theorie, die die Menschheit in wertvolle und wertlose Lebewesen unterteilte. Heilpädagogische Ansätze in der Behandlung der Kranken, die nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung gewonnen hatten, wurden nach 1933 durch eine Apparate- und Labormedizin ersetzt. Gerhard Kreyenberg verwandelte die Einrichtung in ein Spezialkrankenhaus zur Behandlung aller Arten geistiger Defekte. Diejenigen, die er nicht heilen konnte, hatten in seinen Augen ihr Lebensrecht verwirkt.

Kreyenberg wie Lensch begrüßten das nationalsozialistische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom Juli 1933 als mutigen Schritt in die richtige Richtung. Mindestens 231 Patientinnen und Patienten der Alsterdorfer Anstalten wurden in der NS-Zeit zwangssterilisiert, weil sie für "erbbiologisch minderwertig" gehalten wurden. 1938 veranlassten Lensch und Kreyenberg die Abschiebung aller jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner dieser christlichen Einrichtung in staatliche Anstalten.

Als 1940 alle Heil- und Pflegeanstalten aufgefordert wurden, Meldebögen über ihre Insassen zu erstellen, ließ Pastor Lensch sich nicht lange bitten, obwohl er wusste, dass sie als Grundlage für die bald einsetzenden Deportationen dienten. Von Alsterdorf wurden zwischen 1938 und 1943 insgesamt 629 Menschen in Tötungsanstalten gebracht.

Einer von ihnen war Günther Fitschen. Am 10. August 1943 wurde er zusammen mit 112 anderen Jungen und Männern in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen in Bayern `verlegt´. Es handelte sich auch bei diesen Patienten um besonders schwierige, pflegeaufwändige Anstaltsinsassen und, wie es in der damaligen Anstaltssprache hieß, "tiefstehende Pfleglinge."

Sie trafen zwei Tage später an ihrem Bestimmungsort ein. Dort galt ab Dezember 1942 ein Erlass des Bayerischen Staatsministeriums mit der Anordnung, dass "sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht diejenigen Insassen …, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen … zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden".

Diese `Hungerkost´ war in hohem Maße mitverantwortlich für die traurige Bilanz der Todesfälle in Mainkofen in diesen Jahren. Von den 113 Alsterdorfer Patienten waren Ende 1945 nur noch 39 am Leben. Günther Fitschen gehörte nicht zu ihnen.
Er starb am 29. April 1945, wie seine Mutter später erfuhr.


Stand: April 2019
© Klaus Möller

Quellen: Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939–1945, Hamburg 2017; Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Patientenakte V 418; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987; Michael Cranach, Hans-Ludwig Siemen, Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999; Herbert Diercks, `Euthanasie´. Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus, Hamburg 2014; Harburger Adressbücher.

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