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Selma Henschel (geborene Fröhlich) * 1870
Gademannstraße /Struenseestraße (Gademannstraße 10) (Altona, Altona-Altstadt)
HIER WOHNTE
SELMA HENSCHEL
GEB. FRÖHLICH
JG. 1870
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
MINSK
Weitere Stolpersteine in Gademannstraße /Struenseestraße (Gademannstraße 10):
Max Rosenberger, Betty Rosenberger
Selma Henschel, geb. Fröhlich, geb. am 14.6.1870, deportiert nach Minsk am 18.11.1941, ermordet
Betty Rosenberger, geb. am 27.1.1900, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk, ermordet
Max Rosenberger, geb. am 6.9.1897, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, dort gestorben
Gademannstraße/Struenseestraße (Gademannstraße 10)
Erwin Mattio, geb. 14.6.1920, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, dort gestorben am 3.5.1942
Nanny Mattio, geb. Rosenberger, geb. am 29.11.1894, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, dort gestorben am 12.4.1942
Breite Straße/Ecke Kirchenstraße (Kleine Papagoyenstraße 1)
Selma Henschel, verwitwete Rosenberger, lebte seit Mitte der 1920er Jahre bis zu ihrer Deportation am Rande des Existenzminimums in der Altonaer Altstadt. Die beim Wohlfahrtsamt für sie angelegte Fürsorgeakte erlaubt einen Blick auf ihre von Krankheit und Armut geprägten Lebensverhältnisse und die Beziehung zu ihren Kindern in der Zeit der Verfolgung.
Am 14. Juni 1870 war Selma Henschel als Tochter von David und Rosalie Fröhlich, geb. Hausmann, in Ratibor in Schlesien zur Welt gekommen. Mit ihrem ersten Ehemann namens Emil Rosenberger lebte sie in Kattowitz, bis zu seiner Abtretung an Polen im Jahr 1922 preußischer Landkreis in Oberschlesien. Alle vier Kinder aus ihrer ersten Ehe wurden in Kattowitz geboren, am 29. November 1894 die Tochter Nanny, im Juli 1896 der Sohn Herbert, am 6. September 1897 der Sohn Max und am 27. Januar 1900 die jüngste Tochter Betty.
Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete Selma Rosenberger 1913 den 22 Jahre jüngeren, in Charlottenburg geborenen Richard Henschel, einen Kellner, der auch als "selbstständiger Marktreisender" seinen Lebensunterhalt verdiente. Beide waren jüdischer Herkunft. Um 1920 zog das Ehepaar in die Altonaer Altstadt in eine Dreizimmer-Kellerwohnung in der Weidenstraße 65 (heute Virchowstraße), wo Richard Henschel laut Eintrag im Adressbuch Altona eine "Bügelanstalt" eröffnete.
1924 erkrankte Richard Henschel, was ihn zu einem längeren Krankenhausaufenthalt zwang. Selma Henschel, erwerbslos und ohne Einkommen, beantragte im Juli 1924 Unterstützung beim Wohlfahrtsamt, die sie auch erhielt.
Ein Jahr später verließ Richard Henschel seine Frau und zog nach Hamburg. Selma Henschel blieb in der Wohnung Weidenstraße 65. Die Tochter Betty Rosenberger, die als Arbeiterin ihren Lebensunterhalt verdiente, wohnte bei ihr; die drei anderen ebenfalls erwachsenen Kinder waren ausgezogen.
In den kommenden Jahren bezog Selma Henschel, inzwischen wegen einer Krankheit nicht mehr in der Lage, einer Arbeit nachzugehen, Wohlfahrtsunterstützung in Höhe von wöchentlich sechs Reichsmark (RM). Auch der Israelitische Humanitäre Frauenverein mit Sitz in der Grüne Straße 5 half ihr mit Lebensmitteln.
Selma Henschel musste nachweisen, dass ihr Ehemann und ihre Kinder sie nicht oder nur geringfügig unterstützten. So notierte die Fürsorgerin des Wohlfahrtsamtes am 25. November 1929: "Die 59 j[ährige] getr[ennt] lebende hat wiederholt gegen ihren Mann auf Unterhalt geklagt, erhält aber angeblich weder Antwort noch Geld. Sie ist angeblich herzkrank und arbeitsunfähig." In der Fürsorgeakte war vermerkt, dass die ledige Tochter Betty Rosenberger 1929 in einem Hotel arbeite und die Mutter mit Kleidung und nur hin und wieder mit Geldmitteln versorgen könne.
Die Tochter Nanny Mattio, geb. Rosenberger, hatte 1925 den in Wiesbaden geborenen Angelo Mattio, einen Musiker, geheiratet. Schon vor der Ehe hatte sie am 14. Juni 1920 den Sohn Erwin zur Welt gebracht, der dann den Namen seines Stiefvaters Mattio trug. Sein leiblicher Vater, Nachname Steike, war seit 1926 in der Heilanstalt Strecknitz in Lübeck. Nanny Mattio arbeitete seit 1918 als Requisiteurin, als Angestellte in der Requisitenkammer des Schauspielhauses Hamburg, und – so wurde in der Akte notiert – musste "ihren stets arbeitslosen Ehemann ernähren"; weiter hieß es, "die drei wohnen auf Zimmer".
Der Aufenthalt von Herbert Rosenberger, dem ältesten Sohn Selma Henschels, war dem Wohlfahrtsamt unbekannt. Sohn Max Rosenberger, ein gelernter Bäcker, war als Landarbeiter in Schlesien und Walsrode beschäftigt und konnte die Mutter offenbar nicht unterstützen.
Neben den geringen Fürsorgeleistungen versuchte Selma Henschel zusätzliche Einnahmen zu erzielen, indem sie zwei möblierte Zimmer ihrer Kellerwohnung vermietete. Vielleicht übernahm sie auch Bügelarbeiten für die Nachbarschaft; 1930 verzeichnete das Adressbuch Altona wieder eine "Bügelanstalt" in ihrer Kellerwohnung Weidenstraße 65.
1932 mahnte das Wohlfahrtsamt erneut die Töchter, für den Unterhalt der Mutter aufzukommen. Nanny Mattio wies darauf hin, ihr Sohn sei in den damaligen Alsterdorfer Anstalten untergebracht und sie trage für ihn die Kosten. Der Elfjährige war am 6. Mai 1932 dort aufgenommen worden.
1935 zog Selma Henschel in die Große Bergstraße 111. Weiterhin erhielt sie wöchentlich sechs RM Wohlfahrtsunterstützung, die 1937 auf sieben RM erhöht wurde. Die Töchter hatten Beschäftigung als Haushaltshilfen gefunden. Betty Rosenberger, die bei der Mutter wohnte, war "Tagmädchen" bei der jüdischen Familie Nachum in der Eppendorfer Landstraße. Nanny Mattio, die das Deutsche Schauspielhaus 1936 als Jüdin entließ, war nun als "Alleinmädchen" in Stellung bei der jüdischen Familie Horowitz in der Isestraße und bezog zusätzlich Krisenunterstützung vom Wohlfahrtsamt. 1937 wohnte sie in einer Wohnung in der Hammerbrookstraße 48, in der sie ein möbliertes Zimmer vermietete. Ihre Ehe mit Angelo Mattio, inzwischen Betreiber eines Schnellimbiss‘ am Spielbudenplatz in St. Pauli, war 1929 geschieden worden.
Am 31. Oktober 1938 wurde der achtzehnjährige Sohn Erwin Mattio zusammen mit 14 anderen jüdischen Bewohnern und Bewohnerinnen der Alsterdorfer Anstalten ins staatliche Versorgungsheim Oberaltenallee abtransportiert. Die Anstaltsleitung wollte sich der jüdischen Patienten entledigen.
Betty Rosenberger beantragte 1939 Unterstützung bei der Wohlfahrt. In dem Jahr wohnten beide Töchter bei ihrer Mutter im gemeinsamen Haushalt in der Großen Bergstraße 111. Beide hatten kein Einkommen. Selma Henschel bekam von ihrem Sohn Max, der als Notstandsarbeiter in Buxtehude arbeitete, eine geringe Unterstützung und vermietete ein möbliertes Zimmer in der Wohnung. Schließlich bewilligte die Sozialverwaltung Fürsorgezahlungen "gegen Leistung von U-Arbeit", d. h. "Unterstützungsarbeit". Erwin Mattio war inzwischen im staatlichen Versorgungsheim Farmsen untergebracht.
Anfang 1939 beantragte Selma Henschel erneut zusätzlich Fürsorgeleistungen zum nur geringen Verdienst der bei ihr lebenden Tochter. Lebensumstände und Haushalt wurden bei einem Hausbesuch vonseiten des Wohlfahrtsamts penibel kontrolliert: "Die Häuslichkeit macht nicht den besten Eindruck. Auf Ordnung und Sauberkeit scheint Frau H. keinen großen Wert zu legen. Die Betten waren mittags um 12 noch nicht gemacht." Als "asozial" klassifizierten Unterstützungsempfängern drohten die Streichung der Fürsorgeleistungen und die Unterbringung in Arbeitshäusern und Anstalten. Besondere Erwähnung fand in der Fürsorgeakte, dass die Untermieter von Selma Henschel nichtjüdisch seien. Seit dem "Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939 durften jüdische Mieter ausschließlich jüdische Untermieter aufnehmen.
Im selben Jahr wurde Selma Henschel wie alle Menschen jüdischer Herkunft zur Zwangsmitgliedschaft in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland verpflichtet, als deren Bezirksstelle die ehemalige Jüdische Gemeinde Hamburgs nun galt. Ihr Ehemann war verstorben. Die Gemeinde verzeichnete auf der neu angelegten Kultussteuerkarte den letzten Wohnsitz der 69-jährigen Witwe: Gademannstraße 10, Ecke Grüne Straße 5, im ersten Stock eines Wohnstiftes des "Isaac-Hartwig-Vermächtnisses". Isaac Hartwig war ein wohlhabender Mann aus der Hamburger Jüdischen Gemeinde, der bei seinem Tod 1842 verfügt hatte, dass ein Großteil seines Vermögens jüdischen wohltätigen Zwecken zugute kommen solle. Die Gademannstraße lag in der Altonaer Altstadt, im Viertel zwischen heutiger Kirchenstraße und heutiger Hoheschulstraße mit einem hohen Prozentsatz jüdischer Bevölkerung und vielen jüdischen Einrichtungen. Selma Henschel wohnte dort zusammen mit Ihrer Tochter Betty und dem Sohn Max, der als Erdarbeiter zwangsverpflichtet worden war und seine Mutter unterstützte.
Erwin Mattio, mittlerweile aus dem Versorgungsheim Farmsen entlassen und als Gärtner tätig, wohnte (laut Kultussteuerkarte) bei seiner Mutter Nanny Mattio. Sie hatte im November 1939 eine Anstellung als "Taghilfe" bei der Familie Levin in der Klosterallee 13 gefunden und wohnte in der Kleinen Papagoyenstraße 1, bei Worms; das Haus war im Besitz des Jüdischen Religionsverbandes, wie der offizielle Name der Jüdischen Gemeinde nun lautete.
Mit Beginn der Großdeportationen Hamburger Juden und Jüdinnen in die Gettos im Osten gelangten auch Selma Henschel und ihre Familienangehörigen auf die Transportlisten.
Am 25. Oktober 1941 mussten Max Rosenberger, Nanny Mattio und ihr Sohn Erwin, der zeitweise auch bei seiner Großmutter Selma Henschel in der Gademannstraße 10 wohnte, den Zug in Richtung Lodz im deutsch besetzten Polen besteigen. Dort litten die Gettoinsassen unter Kälte, Hunger und Seuchen; viele starben bereits in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft. Max Rosenberger kam ums Leben, Nanny Mattio (in der Gedenkstätte Yad Vashem irrtümlich als Naomy verzeichnet) starb am 12. April 1942, ihr Sohn Erwin Mattio am 3. Mai 1942 im Alter von 22 Jahren.
Selma Henschels Name stand ebenfalls auf der Deportationsliste für den Transport nach Lodz am 25. Oktober 1941, war aber wieder durchgestrichen worden. Nachdem sie den Abtransport zweier Kinder und des Enkelkindes hatte erleben müssen, wurde sie im Alter von 71 Jahren zusammen mit der Tochter Betty Rosenberger am 18. November 1941 ins Getto Minsk im deutsch besetzten Weißrussland deportiert, wo beide den Tod fanden.
Stand September 2015
© Birgit Gewehr
Quellen: 1; 4; 5; 8; AB Altona; StaH 351-14 Arbeits- und Sozialfürsorge – Sonderakten, 1267 (Henschel, Selma), 1748 (Rosenberger, Betty) und 1521 (Mattio, Nanny); StaH 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 e 2 Band 3 (Deportationsliste Minsk); Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, V410; Wunder, Auf dieser schiefen Ebene, S. 160.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".