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Johanna Führt * 1927
Winterhuder Weg 11 (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)
HIER WOHNTE
JOHANNA FÜHRT
JG. 1927
EINGEWIESEN 1940
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT` 16.8.1943
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 3.10.1943
Weitere Stolpersteine in Winterhuder Weg 11:
Hans-Peter Harder, Horst Langeloh
Johanna Elisabeth Führt, geb. 12.4.1927 in Hamburg, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) erstmalig am 29.7.1930, zweite Aufnahme am 24.2.1940, abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") am 16.8.1943, dort gestorben am 3.10.1943
Winterhuder Weg 11 (Kleinkinderhaus), Uhlenhorst
Johanna Elisabeth Führt wurde am 12. April 1927 in Hamburg geboren. Ihre Mutter Antoinette (Antonie) Führt, geboren am 25. Mai 1906 in Groppenbruch (heute ein Stadtteil von Dortmund), war mit Johannas leiblichem Vater Friedrich Vogt zu dieser Zeit nicht verheiratet. Aus der Beziehung gingen drei weitere Kinder hervor.
Antonie Führt arbeitete als "Hausmädchen" und betätigte sich zeitweise als Sexarbeiterin. Im Jahr vor der Geburt ihrer Tochter war sie im Krankenhaus Barmbek wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt worden und stand im Juni 1927 noch unter Geschlechtskrankenfürsorge. Obwohl bei dem Kind keine Infektion festgestellt werden konnte, sollte die Krankheit ihrer Mutter in Johannas Leben eine bestimmende Rolle spielen.
Antonie Führt kümmerte sich nach einem Bericht des Jugendamtes nicht um ihre Tochter. Deshalb wurde das nur fünf Wochen alte Mädchen am 2. Juni 1927 im Kleinkinderhaus, Winterhuder Weg 11, aufgenommen. 1930 wurde dort berichtet, dass Johanna Restsymptome einer Rachitis aufwiese. Ihre Sehfähigkeit sei durch ein Iriskolobom beiderseits (angeborene Spaltbildung des Auges infolge einer embryonalen Fehlentwicklung) stark eingeschränkt. Sie soll leicht erregbar gewesen sein. Ihre Sprechfähigkeit war danach noch völlig unterentwickelt. Insgesamt wurde sie im Gutachten des Jugendamtes als imbezilles (geistig behindertes) Kind beurteilt, das durch seine Mutter "mit größter Wahrscheinlichkeit auch luetisch keimgeschädigt ist". (Lues = Syphilis).
Im Ergebnis wurde Johannas Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) empfohlen. Der Arzt im Jugendamt, Ubenauf, bestätigte im ärztlichen Aufnahmeschein: "Aufnahme in Alsterdorf wegen Schwachsinn (Lues cong.) erforderlich. Dürftiges, rückständiges Kind. Doppelseitig Iriscolobom."
Seit dem 14. August 1930 lebte Johanna Führt in den Alsterdorfer Anstalten. Auch dort beschrieb das Betreuungspersonal sie als unruhig, aufgeregt, ohne Sprache, sie könne Schlüssel aus einem Schrank ziehen und versuche ihn wieder in das Schlüsselloch einzuführen. Anfang 1931 überstand Johanna eine Lungenentzündung. Sie sei fröhlich, gehorsam, spreche sehr undeutlich, verstehe aber vieles. Etwas später hieß es, Johanna helfe mit kleinen Handreichungen wie Staubwischen. Im Juli 1931 notierten die Pflegerinnen, Johanna helfe abends beim Auskleiden der Mitpatientinnen, habe einen Patienten morgens begrüßt und ihn gefragt, ob er gut geschlafen habe. In der Spielschule habe sie ihre Kameradinnen mit Fürsorge umgeben, große Ausdauer bei Handarbeiten gezeigt, die sie trotz ihrer starken Seheinschränkung vollendete. 1932 konnte sie nach den Berichten allein essen und trinken. Wegen einer Lungenentzündung und einer Bronchitis folgte erneut ein Krankenhausaufenthalt. Im Laufe des Jahre 1932 deuteten sich weitere Entwicklungsfortschritte an. Johanna konnte nun kleine Sätze sprechen. Sie behandelte die anderen Kinder freundlich, beschäftigte sich gern und viel mit ihnen.
Auch in der Spielschule wurde sie positiv beschrieben: Sie beschäftige sich gerne mit kleineren Kindern, nehme sie auf dem Schulweg gut an jede Hand und passe gut auf.
Anfang 1933 musste Johanna wegen einer Bronchitis und Ende 1933 wegen einer Lungenentzündung wieder in das Krankenhaus verlegt werden. Die Berichte in den Folgejahren über Johanna ähneln denen der Vorjahre.
Am 12. Februar 1940 wurde Johanna "versuchsweise" in die Familie des Kindesvaters Friedrich Vogt, Tresckowstraße, entlassen, musste aber elf Tage später wieder zurück in die Alsterdorfer Anstalten. Friedrich Vogts Ehefrau fühlte sich nicht im Stande, die Betreuung des "überaus unselbstständigen" Kindes zu gewährleisten.
Aufzeichnungen aus Alsterdorf vom Mai 1943 beschreiben Johanna wie folgt: "Pat.[tient] ist ein ruhiges, zufriedenes Kind. Sie macht viele kleine Handreichungen. Sie ist immer hilfsbereit. (...) Unter Aufsicht kann sie ihre Körperpflege allein besorgen, sie kann sich nur nicht kämmen. Sie spielt sehr niedlich mit ihren Puppen. Bei der Hausarbeit kann sie auch Kleinigkeiten tun, wird aber leicht müde".
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") "verlegt". Unter ihnen befand sich die sechzehn Jahre alte Johanna Führt.
Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf. Zu ihnen gehörte Johanna Führt.
Die wenigen in der Wiener Anstalt verfassten Berichte über Johanna Führt lassen die in Alsterdorf noch deutliche Empathie völlig vermissen. Die Ärztin Barbara Uiberrak schrieb in ihren Aufnahmebericht erst am 12. September 1943: "Mangelhaft orientiert, pflegebedürftig, ruhig. Klagt über Ohrenschmerzen. Temperatur 39°." Zwei Tage darauf: "schwach, 39 Grad." Am 20. September stellte sie die Diagnose "Angeborener Schwachsinn, Lues" und "Temp. 38,7 Grad, verfällt." In den Alsterdorfer Anstalten dagegen war nie eine Geschlechtskrankheit bei Johanna Führt erwähnt worden. Am 1. Oktober hieß es: "Dauernd zu Bett unrein, pflegebedürftig, Temperatur 37,8 Grad, klagt über Schmerzen."
Schließlich am 3. Oktober 1943: "Exitus letalis, Diagnose Tbc Pneumonie."
Während vorher bei Johanna Führt keine besonderen Krankheitserscheinungen dokumentiert wurden, soll sich ihr Gesundheitszustand in Wien so rapide verschlechtert haben, dass sie schließlich nach nur einundeinhalb Monaten starb. Es finden sich keinerlei ärztliche oder medizinische Maßnahmen gegen den "Verfall", so dass als sicher anzunehmen ist, dass auch keine unternommen wurden.
Barbara Uiberrak gehört zu den an den "Euthanasie"-Morden beteiligten Ärztinnen und Ärzten, die nie Reue zeigten und nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Sie, die von 1938 bis in die 1960er Jahre als Pathologin für die gesamten Steinhofer Anstalten zuständig war, obduzierte auch den Leichnam von Johanna Führt. Im Obduktionsbericht benannte sie die Todesursache wie folgt: "Cavernöse Lungen-Tbc. Hepar lobatum [Leberdeformität, die meist als Endstadium der tertiären Syphilis bekannt ist]. Darm-Tbc."
Stand: Juni 2024
© Ingo Wille
Quellen: Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 348 (Johanna Führt); Zu Hepar lobatum: https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Uebertragbare-Krankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/Syphilis.html#:~:text=Tertiäre%20Syphilis&text=Im%20Fall%20einer%20Neurosyphilis%20im,dieses%20Stadium%20jedoch%20selten%20geworden. Zugriff am 28.2.2024