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Ilse Gaetcke * 1909
Winterhuder Weg 27 (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)
HIER WOHNTE
ILSE GAETCKE
JG. 1909
EINGEWIESEN 1917
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT`16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 27.2.1945
Ilse Maria Auguste Anita Gaetcke, geb. 25.9.1909 in Carrenzien (heute Zarrentin, Mecklenburg-Vorpommern), aufgenommen am 15.5.1917 und am 15.10.1924 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), "verlegt" am 16.8.1943 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch "Am Steinhof"), dort gestorben am 27.2.1945
Winterhuder Weg 27 (Uhlenhorst)
Ilse Maria Auguste Anita Gaetcke war das älteste von vier Kindern der evangelischen Eheleute Frieda Anna Doris, geborene Heidtmann, und Martin Wilhelm Ernst Gaetcke. Als Beruf des Vaters wurde bei Ilses Geburt "Gendarmeriewachtmeister" eingetragen. Das Mädchen kam am 25. September 1909 in Carrenzien (heute Zarrentin, Mecklenburg-Vorpommern) zur Welt. Mehrere behördliche Dokumente weisen als Geburtsort irrtümlich Neuhaus/Elbe aus. In diesem Ort, der in der Geburtsurkunde zusammen mit dem Urkundendatum genannt ist, befand sich das Standesamt. Die Namen und Personendaten der anderen drei Kinder, von denen eines im Alter von zehn Monaten an Diphterie starb, kennen wir nicht.
Martin Gaetcke, geboren am 20. Mai 1881 in Stralendorf/Mecklenburg, und Frieda Heidtmann, geboren am 17. Dezember 1887 in Hamburg, hatten am 24. Dezember 1908 in Hamburg geheiratet. Martin Gaetcke war zu dieser Zeit Sergeant (Unterfeldwebel) in der 5. Batterie des Lauenburgischen Feldartillerie-Regiments Nr. 45.
Die Familie muss ihren gemeinsamen Wohnsitz etwa 1914 in Hamburg begründet haben. Martin Gaetcke wurde erstmals im Hamburger Adressbuch von 1915 verzeichnet, und zwar von Beginn an im Winterhuder Weg 27 im Stadtteil Uhlenhorst. Er war inzwischen aus dem Militärdienst ausgeschieden und nun als Getreidemakler tätig.
Ilse Gaetckes Eltern bemerkten bei ihrer Tochter im Alter von drei Jahren Entwicklungsverzögerungen. Später konnte das Kind die Schule nicht besuchen und ein halbes Jahr Privatunterricht blieb ohne Erfolg. Ilse litt unter Strabismus (Schielen). Zu Hause soll sie kleine Hilfeleistungen unter Aufsicht verrichtet haben. Ein Arzt beurteilte Anfang 1917 die Sprachentwicklung des körperlich kräftigen Kindes als mangelhaft. Es spreche nahezu unverständlich und könne seinen Namen nicht richtig angeben, müsse auch an- und ausgekleidet werden. Der Mediziner diagnostizierte "Schwachsinn" (heute nicht mehr verwendeter Begriff für eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche) und hielt die Einweisung in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) für erforderlich.
Am 16. Mai 1917 wurde Ilse Gaetcke in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Ihr Vater kam für die Kosten auf. In Alsterdorf nahm man das Kind als umgänglich und stets heiter wahr. Auf Wunsch der Eltern wurde Ilse Gaetcke am 30. März 1919 wieder nach Hause entlassen, aber am 15. Oktober 1924 erneut in Alsterdorf aufgenommen. Über ihre Entwicklung in den fünfeinhalb Jahren bis 1924 sind keine Berichte erhalten. Auch bei Ilse Gaetckes zweiter Anstaltsaufnahme wurde vermerkt, ihre Sprache sei kaum verständlich, sie müsse an- und ausgekleidet und auch sonst versorgt werden. Bis 1930 wurde berichtet, dass Ilse sich gegen Zahnbehandlungen wehre, aber bei Handreichungen wie Bohnern helfe und immer vergnügt sei. Nach 1931 soll sie im Umgang mit anderen Patientinnen schwieriger geworden sein: So soll sie Spaß daran gefunden haben, ihre Mitpatientinnen umzustoßen und ihnen Haare auszureißen. In den Jahren ab 1938 wurde sie als zunehmend unbeliebt infolge von "Unarten" und "Tyrannisierung durch stürmische Zärtlichkeit" gegenüber den Mitpatientinnen beschrieben. Bei Zurückweisungen habe sie "um sich geschlagen". Ihre Arbeitsleistungen hätten sich verschlechtert, so dass sie nicht mehr im Waschhaus beschäftigt werden könne. Ab November 1942 wurde Ilse Gaetcke als "Pflegling" bezeichnet. Sie soll kaum noch zu verstehen gewesen sein. Zusammenfassend heißt es in ihrer Krankenakte: "Im Wesen ist sie anhänglich, aber auch hinterlistig und verschlagen, ärgert gern andere Kinder." (Der Begriff "Kinder" war in Anstalten noch bis vor wenigen Jahrzehnten auch für erwachsene Bewohner und Bewohnerinnen verbreitet.)
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") "verlegt". Unter ihnen befand sich Ilse Gaetcke.
Nach den Eintragungen in der Wiener Patientenakte verbrachte Ilse Gaetcke die Zeit im Tagraum der Wiener Anstalt ohne Beschäftigung und ohne Kontakt mit ihrer Umgebung. Sie grimassiere und spreche unverständliche Worte.
Ilse Gaetckes Mutter, die nach den Bombenangriffen auf Hamburg in Rausdorf bei Trittau wohnte, war sehr um ihre Tochter besorgt. Sie erhielt auf Nachfrage am 18. Februar 1944 einen kurzen Bericht aus Wien: "ist für sich allein, ist aber ruhig, bei gutem Appetit und Schlaf. Gez. Dr. Umlauf". Im Juli 1944 wurde sie gewarnt, dass ein beabsichtigter Besuch "infolge der Zeitumstände unmöglich" ist. "Sie würden in Wien nicht einmal für eine Nacht Quartier bekommen können."
Ilse Gaetcke wurde am 11. Oktober 1944 in den Pflegebereich der Anstalt verlegt. Diese Verlegung wurde bei vielen Patientinnen aus Hamburg kurz vor ihrem Tode vorgenommen.
Im November füllten die Wiener Anstalten den "Meldebogen I" aus, mit dem die Anstalten während der ersten "Euthanasie"phase von 1939 bis 1941 wichtige Daten der Anstaltsinsassinnen und -insassen an die "Euthanasie"zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, hatten melden müssen. Die Angaben auf diesen individuellen Meldebögen dienten als Entscheidungsgrundlage dafür, ob Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Krankheiten in einer der sechs Gasmordanstalten umgebracht werden sollten. Zu Ilse Gaetcke wurde die Diagnose "Idiotie" eingetragen, zudem, dass sie keinen Besuch erhalte. Die Krankenakte gibt keinen Aufschluss darüber, welches Ziel mit diesem Meldebogen lange nach der zentralen Steuerung der Krankenmorde verfolgt wurde, ob er nach Berlin geschickt wurde, bzw. ob er auf Ilse Gaetckes weiteres Schicksal Einfluss hatte.
Ilse Gaetckes Gewicht, das in Alsterdorf zuletzt mit 48 kg notiert worden war, betrug im Dezember 1944 in Wien nur noch 38 kg. Sie starb am 27. Februar 1945 angeblich an Lungentuberkulose. Bis dahin war in ihrer Patientenakte niemals eine lebensbedrohliche Erkrankung erwähnt worden.
Noch im Dezember 1944 hatte Frieda Gaetcke die Alsterdorfer Anstalten ohne Erfolg um die Wiederaufnahme ihrer Tochter gebeten. Sie wandte sich danach erneut an die Alsterdorfer Anstalten: "Haben Sie immer noch keine Nachricht von meiner Tochter Ilse Gaedtke aus Wien? Warum gestatteten Sie mir nicht, meine Tochter wieder zu Ihnen zu bringen. Nimmt mein Leid niemals ein Ende? Ist es nicht grausam, ein hilfloses Kind in der Fremde zu wissen. Niemals hätte ich meine Einwilligung gegeben. Dieses kranke Kind war mir stets das Liebste. Wieviel taten sie mir durch das Fortschicken an. Gez. Anna Frieda Gaedtke".
Von dem Tod ihrer Tochter erfuhr Frieda Gaedtke erst am 16. Mai 1946 aus Wien: "Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter Gaedtcke Ilse am 27.2.1945 an Lungentuberkulose gestorben ist. Gez. Dr. Nowotny".
Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 eine Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, so auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.
Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.
Stand: März 2024
© Ingo Wille
Quellen: Adressbücher Hamburg 1913-1920; StaH 332-5 Standesämter 6462 Heiratsregister Nr. 625/1908 (Martin Wilhelm Ernst Gaetcke/ Frieda Anna Doris Heidtmann; Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte V 347 (Ilse Gaetcke). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283 ff., 331 ff.