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Dr. Siegbert Goetze, geb. Seligmann * 1882
Blumenau 52 (Wandsbek, Eilbek)
HIER WOHNTE
DR. SIEGBERT
GOETZE
GEB. SELIGMANN
JG. 1882
FLUCHT 1938
USA
TOT 2.9.1941
Dr. Siegbert Goetze, geb. Seligmann, geb. 18.11.1882 in Hamburg, Flucht in die USA November 1939 (nicht 1938, wie irrtümlich auf dem Stolperstein zu lesen), Tod 2.9.1941 in Monterey/Massachusetts/USA
Blumenau 52
Siegbert Goetze-Seligmann stammte väterlicherseits aus einer lange in Hamburg ansässigen jüdischen Händlerfamilie, seine Wurzeln mütterlicherseits lagen in einer orthodox-jüdischen Familie in Franken.
Der Großvater Seligmann Philip Seligmann, geboren 1811, hatte 1846 Chaje Reinbach, genannt Hannchen, geheiratet. Indem er am 13. Juni 1851 den Hamburger Bürgerbrief erwarb, wurde er vom Handels- zum selbständigen Kaufmann. Er produzierte Lack und Firnis und betrieb ab 1856 das Geschäft als alleiniger Inhaber unter seinem vollen Namen.
Fünf seiner Kinder sind uns bekannt, deren Namen noch aus jüdisch-orthodoxen Tradition stammen, die später zugunsten der Assimilation aufgegeben wurde. Die Älteste (12.7.1849) hieß Gitella. Ihr folgten Michel (1.3.1851) und zwei Jahre später wieder eine Tochter, Bona (28.4.1853). Die beiden folgenden Söhne erhielten wie die Schwestern traditionelle Namen: Mardechai, (12.10.1856), später Markus genannt, und Menachem (2.8.1860).
Mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Hamburg in den 1860er Jahren öffneten sich ihnen neue berufliche und wirtschaftliche Möglichkeiten, so dass aus der Kaufmanns- eine Arztfamilie wurde, in deren Zentrum lange Zeit der Langenfelder Friedhofsinspektor Mardechai Seligmann stand.
Als erste von den fünf Geschwistern heiratete um 1875 Bona. Ihr Ehemann war ein Frankfurter Arzt, Herz Hermann Oppenheimer, geb. 15.7.1843 in Kirberg, Landkreis Limburg-Weilburg. Er hatte sich vorübergehend in Frankfurt niedergelassen. Dort wurden ihre Kinder Paula (10.4.1876), Meta (1.4.1877) und Max (15.8.1878) geboren.
Sechs Jahre später, am 28. Oktober 1881, heiratete als erster der Söhne Mardechai Seligmann. Seine Ehefrau Hanna, geb. Berg, geb. 11.11.1848 in Kissingen (heute Bad Kissingen) in Unterfranken/Bayern, war die Tochter Sußmann Bergs (ca. 1798 – 1866), Vorbeter und Schochet (Schächter) der Kissinger Synagoge. Mardechai Seligmann betrieb einen Handel mit Holländischen Waren in St. Georg, Steindamm 17. Dort wurden ihre beiden Kinder geboren, Siegbert am 18.11.1882 und sechzehn Monate später, am 24.3.1884, Caroline.
1882 kehrte Bona Oppenheimer mit ihrer Familie vorübergehend nach Hamburg zurück, wo Herz Hermann Oppenheimer zunächst in das Lazarus Gumpel-Stift in der Schlachterstraße 46/48 (heute Großneumarkt) in der Neustadt zog. Nach einem erneuten Aufenthalt in Frankfurt meldete sich Familie Oppenheimer, jedoch ohne den Sohn Max, 1894 wieder in der Schlachterstraße an.
Nach seiner Approbation als Arzt und Chirurg heiratete auch der älteste Sohn, Michel Seligmann (siehe Ida Seligmann www.stolpersteine-hamburg.de). Seine Braut Ido Rosendorff war am 16.11.1858 in Gartz in Pommern geboren worden, wo auch am 3. Juni 1883 die Hochzeit stattfand. Danach zogen sie nach Hamburg. Aus Idos Vornamen wurde Ida. Ihr einziges Kind, Uri Philip Adolf, kam am 15.2.1887 in Hamburg zur Welt.
Im Alter von 72 Jahren leitete Seligmann Philipp Seligmann 1884 die Übergabe seines Geschäfts an seinen jüngsten Sohn Menachem durch die Änderung des Firmennamens in S. P. Seligmann ein. Menachem Seligmann war noch ledig und lebte sowohl in Hamburg als auch in Rostock. Ein Jahr später erwarb er einen Hamburger Gewerbeschein als alleiniger Inhaber des väterlichen Geschäfts, während er in Rostock gleichzeitig als Lotterieeinnehmer tätig war.
Mit 36 Jahren heiratete auch Gitella Seligmann. 1885 ging sie die Ehe mit dem Witwer Moritz Boley, geb. 16.2.1848 in Oberschütz, Krs. Fritzlar/Hessen, ein, Inhaber einer Metall- und Zinkschmelze mit Sitz am Rödingmarkt 37. Gitella Boley brachte einen Sohn zur Welt, der jedoch starb, bevor er einen Namen bekam.
Die zahlreichen Hamburger Friedhöfe reichten für die wachsende Bevölkerung nicht mehr aus, ließen jedoch keine Erweiterungen zu. Der Hamburger Senat stellte daraufhin in Ohlsdorf das Gelände für einen nicht konfessionellen und einen Jüdischen Friedhof bereit, der ebenfalls der kommunalen Verwaltung unterstellt blieb. Für die orthodoxen Juden kam jedoch nur der Kauf eines Geländes infrage, das sie selbst verwalten konnten, um die ewige Ruhe der Toten zu gewährleisten. 1887 erwarben sie in Langenfelde, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, ein eigenes Friedhofsgelände. Dort wurde Mardechai Martin Seligmann als Friedhofsinspektor eingesetzt. Außer seinem jüngsten Bruder Menachem und seiner Schwägerin Ida Seligmann sowie deren Sohn Adolf fanden alle jüdischen Angehörigen dort ihre letzte Ruhe, auch der namenlose Sohn seiner Schwester Gitella.
Die Eltern Seligmann Philip und Chaje Hannchen Seligmann erlebten die Auflösung ihrer ehemaligen Firma nicht mehr, sie starben beide 1891. Im selben Jahr, am 29. Juli 1891, starb auch Moritz Boley mit nur 43 Jahren. In ihrem gemeinsam aufgesetzten Testament wurde Gitella Seligmann nachrangig bedacht. Seine Lebensversicherung in Höhe von 6.000 M (Mark = Währung im Kaiserreich) sollte einem Neffen den Abschluss seines Studiums ermöglichen. Was danach für seine Witwe Gitella übrig blieb, reichte nicht für ein langes selbstständiges bürgerliches Leben.
Am 8. September 1897 wurde die Firma S. P. Seligmann auf Wunsch seines Alleininhabers Menachem Seligmann aus dem Handelsregister gelöscht.
Nicht weit von seinen Schwestern Gitella und Bona lebte bis zu seinem frühen Tod Michel Seligmann im Umfeld der Hamburger St. Michaeliskirche, dem Michel, in der Neustadt. Er starb am 9. Juli 1900 mit nur 49 Jahren. Für seine Witwe Ida und ihren minderjährigen Sohn Adolf war zunächst gesorgt.
Bei der Volkszählung in Rostock im Jahr 1900 wurde Menachem Seligmann, dessen Wohnsitz sich in Hamburg befand, bei der Witwe Anna Jantzen in der Wismarscher Straße 12 und ihrem lutherischen "Haushaltungs-Beistand" Clara Buder, geb. 29.9.1859 in Dresden, als Besucher registriert. Diese wurde 1912 seine Ehefrau. 1911 hatte er beim Hamburger Senat beantragt, sich Carl Martin nennen zu dürfen, um weitere Verwechslungen mit seinem Bruder Mardechai zu vermeiden, da sie beide im Geschäftsverkehr nur die Initiale "M." benutzten. Der Hamburger Senat legte ihm unter Hinweis auf den Senatsbeschluss vom 14.11.1902 "betreffend die Namensänderung von Juden" nahe, statt eines christlichen einen anderen jüdischen Namen zu benutzen.
Max Oppenheimer wurde Arzt wie sein Vater. Über seine Ausbildung ist nichts bekannt. 1902 begann er seine Hamburger Tätigkeit im Werk- und Armenhaus in der Oberaltenallee 60 auf der Uhlenhorst. Als inzwischen approbierter Arzt heiratete er 1908 seine Cousine Caroline Seligmann und ließ sich in der Hammerbrookstraße 46 in St. Georg nieder. Bona und Herz Hermann Oppenheimer gaben ihre Wohnung in der Schlachterstraße auf und zogen zu ihnen, mit ihnen ihre Tochter Meta, die Malerin geworden war. Sie meldete sich 1910 nach Paris ab.
Ihre Tochter Paula hatte den Offenbacher Fabrikbesitzer Willi Ritterbandt, geb. 31.1.1874 in Aschersleben, geheiratet, 1899 wurde ihre Tochter Elsa Adolfine geboren.
Nach einem weiteren Wohnungswechsel in die Hufnerstraße 124 in Barmbek-Süd zogen Oppenheimers in die Bethesdastraße 7 in Borgfelde. Als der Erste Weltkrieg begann, kehrte Meta aus Paris zurück, ging dann aber im Februar 1915 als Erzieherin nach Lausanne in die neutrale Schweiz.
Während wir von Caroline Seligmann wissen, dass sie bis zur Obersekundareife das Lyceum besuchte und anschließend Gesang studierte, ist uns über die Schulbildung ihres Bruders Siegbert nichts Sicheres bekannt. Als angehender Medizinstudent hatte er vermutlich zuvor ein humanistisches Gymnasium besucht, wo er Latein lernte. Da es damals in Hamburg keine Möglichkeit gab, Medizin zu studieren, ging er nach Freiburg im Breisgau. Dort schloss er 1908 sein Studium ab. Daran anschließend arbeitete er in Frankfurt im Krankenhaus, wo er seine spätere Ehefrau, die Krankenpflegerin Adele Goetze, kennenlernte.
Siegbert Seligmann kehrte nach Hamburg zurück und wurde am 23. Mai 1910 als "Dr. med. et chir." in die Matrikel, das Verzeichnis Hamburger Ärzte, aufgenommen.
Die lutherische Adele Goetze, geb. am 3.4.1886 in Sandhof bei Marienburg im heutigen Polen, kam aus einer ursprünglich sachsen-anhaltischen Familie. Ihr Vater, Hermann Goetze, bei seinem frühen Tod mit 53 Jahren am 15. Oktober 1890 in Danzig Eisenbahngüter-expedient, hinterließ zwölf Kinder, deren jüngstes Adele war. Sie behielt engen Kontakt zu ihren Geschwistern.
Trotz Bedenken beider Familien wegen ihrer unterschiedlichen Religionszugehörigkeit, heirateten Adele Goetze und Siegbert Seligmann am 3. April 1912 in Hamburg. Obwohl Siegbert Seligmanns Vater noch lebte, vertrat sein Cousin Adolf Seligmann seine Familie als Trauzeuge. Adele Seligmann, die bis dahin in der Nähe von Frankfurt in Hofheim im Taunus bei ihrer älteren Schwester Meta gelebt hatte, zog zu ihrem Ehemann.
Siegbert Seligmann ließ sich zunächst in Eppendorf in der damaligen Goßlerstraße 60 (heute Geschwister-Scholl-Straße) nieder. Vermutlich bewog ihn sein soziales Engagement, vom bürgerlichen Eppendorf in das Arbeiterviertel Barmbek-Süd zu wechseln, wo viele Arme und Hafenarbeiter lebten. Er richtete in der Hamburgerstraße 136 II seine Wohnung mit angegliederter Praxis als Hausarzt und Geburtshelfer ein, wie es damals üblich war. Adeles Mutter Alwine Goetze lebte bei ihnen. Am 22.2.1914 kam die erste Tochter zur Welt, Liesel Deli Johanna Alwine.
Der Erste Weltkrieg brachte tiefgreifende Veränderungen für die patriotisch denkende Familie mit sich: Siegbert Seligmann rückte als Oberarzt der Reserve beim Kaiserlichen Heer ein. Aus einer Verlustliste vom Dezember 1914 geht hervor, dass er leicht verwundet wurde. Trotzdem blieb er weiterhin als Arzt an der Front tätig. Mehrfach ausgezeichnet und stolz darauf, kehrte er zurück.
Ebenfalls als Bataillonsarzt nahm sein Cousin und Schwager Max Oppenheimer am Krieg teil. Er erlag am 26. September 1915, einen Monat nach seinem 37. Geburtstag, in Schumschissa östlich von Smorgon im Nordwesten von Weißrussland, einer Verletzung durch Artilleriebeschuss, in einer militärischen Situation vergleichbar der von Verdun. Die Sterbeurkunde wurde erst sieben Monate später am 14. April 1916 aufgrund der Todesmeldung durch sein Regiment ausgestellt und erreichte seine Witwe Caroline und die Eltern erst, als diese bereits in die Beneckestraße 20 gezogen waren. Dort starb auch Herz Hermann Oppenheimer am 20. Mai 1916. Er hatte seinen Sohn um acht Monate überlebt.
Herz Hermann Oppenheimers Schwager Mardechai Markus Seligmann, wohnhaft in Stellingen, Hohenfelderweg 43, also auf dem Langenfelder Friedhof, meldete den Todesfall beim Standesamt unter seiner Berufsbezeichnung als Gärtner. Dabei hatte er sich bereits als Steinmetz einen Namen gemacht. In einer Annonce in den "Hamburger Jüdischen Nachrichten" vom 7. Januar 1914 heißt es: "Die Inschriften a. d. Synagoge Bornplatz und am Wormserhaus [in der Norderstraße in St. Georg, erg. H. Th.] sowie die Grabsteine für Sr. Ehrw. Herrn Oberrabb. Hirsch u. Frau gelangten von mir zur Ausführung."
Ida Seligmann verlor 16 Jahre nach ihrem Ehemann ihren Sohn Adolf im Krieg. Er erlag im Alter von 29 Jahren im Reservelazarett in Neuenahr (heute Bad Neuenahr) einer Nierenentzündung und hinterließ seine bereits verwitwete Mutter ein zweites Mal als "Elternteilwitwe", die Anspruch auf Unterstützung durch ihren Sohn hatte.
Caroline Oppenheimer absolvierte nach dem Tod ihres Ehemannes eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin in Berlin, arbeitete dort bei der AOK und kehrte 1929 nach Hamburg zurück, wo sie bei der AOK angestellt blieb. Sie teilte sich mit ihrer Tante Ida Seligmann deren Fünf-Zimmer-Wohnung plus Mädchenkammer in der Rutschbahn 7 III im Grindelviertel.
Herz Hermann Oppenheimers Witwe Bona zog in das Heine’sche Wohnstift, Holstenwall 18, wo sie bis an ihr Lebensende blieb. Meta, ihre Tochter, kehrte nach Kriegsende nach Hamburg zurück und wohnte wieder bei ihr, bis sie 1920 nach Spanien ging. Dort verliert sich ihre Spur.
Während des Ersten Weltkriegs trat Siegbert Seligmann zur evangelisch-lutherischen Kirche über. Die zweite Tochter, Adelheid Sieglind Eugenie Lilly, geb. 9.3.1916 in der Wohnung Hamburgerstraße 136, wurde am 6. Mai 1916 in Alt-Barmbek getauft.
Nach dem Tod seiner Schwiegermutter Alwine Goetze am 1. Oktober 1919 im AK Barmbek erwarb Siegbert Seligmann ein Familiengrab in Ohlsdorf, in dem sie bestattet wurde. Nur zwei Jahre später, am 29. Mai 1921, wurde an ihrer Seite der erst am 10.1.1921 geborene Felix, Sohn von Adele und Siegbert Seligmanns, beigesetzt. Er blieb ihr einziger Sohn.
Viel später fand auch Alwines Schwester Olga Goetze bei ihrer Mutter ihre ewige Ruhe.
Erstmals 1920 erwarben Adele und Siegbert Seligmann Reisepässe, gültig für "Inland und besonderes Gebiet". Mit dem "besonderen Gebiet" war offenbar Westpreußen gemeint, Adeles Heimat. Aus den Personenbeschreibungen geht hervor, dass Siegbert Seligmann blaue Augen und braune Haare hatte, seine Ehefrau braune Augen und dunkelblondes Haar, was die späteren Fotos von ihnen jedoch kaum erkennen lassen. Bis 1938 besaßen sie Reisepässe.
Hanna Seligmann, Caroline und Siegberts Mutter, starb am 26. Juli 1922 im Israelitischen Krankenhaus und wurde auf dem Langenfelder Friedhof beerdigt. Obwohl es noch männliche Verwandte gab, übernahm ihre Schwägerin Bona Oppenheimer die standesamtliche Todesmeldung. Bona selbst starb nur ein Jahr später am 14. Juni 1923 und wurde an der Seite ihres Mannes Herz Hermann ebenfalls auf dem Langenfelder Friedhof beigesetzt.
Nach dem Tod seiner Mutter Hanna kümmerte sich Siegbert Seligmann mehr und mehr um seinen Vater. Zu den Besuchen mit seiner Frau Adele und den Töchtern Liesel und Adelheid kam praktische Hilfe hinzu, er erledigte den Schriftwechsel und regelte die finanziellen Angelegenheiten.
1924 entschied sich Siegbert Seligmann, den Geburtsnamen seiner Frau anzunehmen, vielleicht, um seine Familie mit einem neutralen Namen besser vor dem aufkommenden Antisemitismus schützen zu können. Mit Senatsbeschluss vom 31. März 1924 hieß er hinfort Dr. med. Seligmann-Goetze und die Familie schlicht Goetze.
Auf dem Friedhof in Langenfelde wurde 1926 ein weiteres Familienmitglied bestattet, Gitella Boley. Nach dem Tod ihres Mannes und verarmt war sie in die Samuel Levy-Stiftung in der Bundesstraße 35 gezogen, eine Stiftung für Freiwohnungen für jüdische Gemeindemitglieder. Unter dieser Adresse erschien sie mit ihrem eigenen Namen erstmals 1907 im Hamburger Adressbuch und 1920 mit dem Zusatz "Kastellanin" (Verwalterin). Schwer erkrankt, wurde sie unter dem Namen Gisela Boley im AK St. Georg aufgenommen und am 23. August 1926 von dort wegen "Manie" nach Friedrichsberg verlegt.
Die Diagnose bei ihrer Aufnahme lautete Altersdemenz und Herzschwäche. Das Fazit des Aufnahmegesprächs lautete: "Eine vergnügte, völlig tüterige alte Frau" (tüterig = leicht verwirrt). Sie litt außerdem an einer Psoriasis (Schuppenflechte), die den ganzen Körper erfasste, sowie an den Nebenwirkungen der Medikamente. Die Psoriasis heilte ab, aber Gitella Boley wurde unruhiger. Bei einem Sturz zog sie sich eine klaffende Wunde am Hinterkopf zu, die schwer heilte. Als die Herzschwäche zunahm, half auch keine Behandlung mit Digitalis mehr. Am 26. Oktober 1926 starb Gitella Boley in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Ihr Bruder Mardechai sorgte für ihre Beerdigung an der Seite ihres Ehemannes Moritz auf dem Langenfelder Friedhof.
Siegbert Seligmann-Goetzes Einkommen in der Kaiserzeit und in den Jahren der Weimarer Republik lässt sich nicht genau beziffern. Aber 1929 verbesserte er seine Wohnsituation durch den Kauf der Stadtvilla Blumenau 52 im Auenviertel von Eilbek. Die Praxisräume in der Hamburgerstraße auf der anderen Seite der Eilbek behielt er.
Die familiäre Situation änderte sich mit Mardechai Seligmanns Tod, der altersschwach und nach mehreren Gehirnblutungen am 31. Dezember 1929 im Altenheim Bahrenfeld verstorben war. Ob jemand seine Stelle als Familienoberhaupt übernahm, geht aus den Dokumenten nicht hervor.
In Hamburg lebten nun aus der Generation von Siebert Seligmann-Goetzes Eltern nur noch Ida und Menachem Seligmann mit seiner lutherischen Ehefrau Clara, aus Siegberts eigener Generation seine Ehefrau Adele und die Schwester Caroline Oppenheimer sowie aus der nächsten Generation die Töchter Liesel und Adelheid.
Liesel und Adelheid wurden in einer privaten Mädchenschule unterrichtet, dem Realgymnasium von Margarethe Mittell im Graumannsweg, das einen guten Ruf besaß. Die spätere Liesel Goetze-Taylor schrieb in ihren Erinnerungen, dass sie die Schule als sehr streng und konservativ empfand. Obwohl auch ihr Vater Siegbert eher konservativ gewesen sei, habe er sich für andere pädagogische Ansätze begeistern lassen und Liesel erlaubt, auf die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, ein reformorientiertes Landschulheim in Thüringen, zu gehen. Adelheid blieb auf dem Realgymnasium. Sie freundete sich mit der Schulleiterin Margarethe Mittell und deren Lebensgefährtin Meta Redlich an.
Am 30. März 1930 wurde Liesel Goetze in der St. Gertrudkirche auf der Uhlenhorst konfirmiert und dort auch 1933 in erster Ehe getraut. Es handelte sich um eine Scheinehe, um Liesel die Emigration nach Brasilien zu ermöglichen, die dann jedoch unterblieb.
Familie Goetze schien assimiliert zu sein, als am 30. Januar 1933 Reichspräsident Paul Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte. Darin erkannte als Erste aus der Familie Caroline Oppenheimer den Beginn einer besonders für Juden bedrohlichen Entwicklung. Wie recht sie damit hatte, zeigte sich bereits zwei Monate später mit dem reichsweiten Aufruf an die deutsche Bevölkerung vom 1. April 1933, jüdische Geschäfte und Einrichtungen zu boykottieren. Zunächst wurde Siegbert Seligmann-Goetzes Praxis kaum beeinträchtigt.
Zwei Monate nach der Machtübergabe an Adolf Hitler wurde am 7. April 1933 das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" verabschiedet. Es diente der Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes und der Entlassung von politischen Gegnern des NS-Regimes. Betroffen waren auch alle Beamten und Angestellten jüdischen Glaubens. Caroline Oppenheimer verlor unmittelbar nach dem Erlass des Gesetzes ihre Stellung bei der AOK. Ohne Hoffnung auf eine baldige Normalisierung ihres Lebens, betrieb sie ihre Auswanderung nach Brasilien, um sich dort eine neue Existenz als Laborantin aufzubauen. Sie reiste am 8. September 1933 aus und fand in Minas Geraes Arbeit sowohl in ihrem Beruf als auch als Gesangs- und Sprachlehrerin.
Das Berufsbeamtengesetz betraf Siegbert Seligmann-Goetze als niedergelassenen Arzt nicht, doch folgte bereits am 22. April 1933 eine Verordnung zum Ausschluss jüdischer Ärzte aus den gesetzlichen Krankenkassen. Ausgenommen blieben die vor 1914 approbierten Ärzte und Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, wozu Siegbert Seligmann-Goetze zählte.
Siegbert und Adele Goetze verkauften ihre Villa an einen jüdischen Musiker und bezogen am 9. April 1935 eine Mietwohnung in der Eilenau 20. Die Praxis in der Hamburger Straße 136 blieb bestehen und sicherte der Familie trotz wechselnder und insgesamt sinkender Einkünfte ihr gutes Auskommen, bis 1938 Siegbert Seligmann-Goetze – wie allen jüdischen Ärzten – die Approbation entzogen wurde. 28 Jahre nach ihrer Einrichtung musste er seine Praxis einem "arischen" Kollegen überlassen. Ihm war jede weitere ärztliche Tätigkeit untersagt.
Ehepaar Goetze zog ohne die beiden Töchter nach Flachsland 42 in Barmbek-Süd. Liesel lebte zu der Zeit in London, Adelheid in Wien bei ihrer Tante Olga, einer Schwester der Mutter.
Menachem und Clara Seligmann wohnten seit ihrer Heirat in Eppendorf im Abendrothsweg 61. Am 30. Oktober 1935 starb Clara Seligmann im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Nun verwitwet, zog Menachem Seligmann in das Pflegeheim der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in der Schäferkampsallee 29. Zwei Jahre nach seiner Ehefrau starb er am 2. August 1937, seinem 77. Geburtstag, im Israelitischen Krankenhaus. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof an der Ilandkoppel in Ohlsdorf beerdigt.
Offenbar erfuhr Siegbert Seligmann-Goetze durch einen Patienten und Freund, dass er auf einer Liste der Gestapo stehe. Die expliziten Gründe für die Vorladungen und für die Hausdurchsuchungen liegen im Dunkel. Bei einem der Verhöre erlitt Siegbert Seligmann-Goetze einen Herzinfarkt. "Konzentrationslager oder Ausland" sei ihm zur Wahl gestellt worden, gab seine Ehefrau Adele Goetze später im Wiedergutmachungsverfahren an. Die Eheleute betrieben Siegbert Seligmann-Goetzes Auswanderung, wofür die erfolgreiche devisenrechtliche Überprüfung der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten eine Voraussetzung war.
Siegbert Seligmann-Goetze gab per 15. August 1939 folgende Vermögenserklärung ab:
Bargeld: RM 1019,25; im Depot bei der Dresdner Bank Wertpapiere: RM 1000 - 5%ige Gelsenberg Benzin A.G. Anleihe von 1937, RM 4000 – 4 1/2 % Preußische Landespfandbrief-Anstalt Goldpfandbriefe; Gegenstände aus Gold und Silber: Kaffeeservice, je eine goldene Taschen- und Armbanduhr, ein silberner Leuchter. Diese Gegenstände übertrug er als Geschenk auf seine Tochter Adelheid in Wien.
Die für die Auswanderung unerlässliche Unbedenklichkeitsbescheinigung der Devisenstelle wurde bereits am 23. August 1939 erteilt. Das übliche Tafelsilber sowie zahnärztliche (!) Instrumente und persönliche Bekleidung etc. wurden für die Auswanderung freigegeben, doch musste er dafür RM 25 an die DEGO (Deutsche Golddiskontbank) zahlen. Bei seiner Auswanderung erhielt Siegbert Seligmann-Goetze Unterstützung durch amerikanische Quäker, einer Friedenskirche.
Im November 1939 emigrierte er über Antwerpen in die USA, da wegen des Zweiten Weltkriegs keine Passagierschiffe mehr direkt von Deutschland nach den USA verkehrten.
Dort angekommen, ließ er sich zunächst in Boston/Massachusetts nieder. Weil die deutsche Approbation als Arzt nicht anerkannt wurde, benötigte er eine neue Zulassung, die er nach einer Prüfung am 14. März 1940 erhielt.
Nach der Abreise ihres Ehemannes regelte Adele Seligmann ihre eigene Auswanderung. Im Gegensatz zu ihrem Mann besaß sie ein größeres Eigenvermögen im Gesamtwert von RM 47.902, das durch eine Anordnung der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten vom Oktober 1939 "gesichert", d.h. gesperrt wurde. Eingeräumt wurde ihr ein monatlich frei verfügbarer Betrag von zunächst RM 1000, der schon bald darauf auf RM 400 herabgesetzt wurde – und nicht ins Ausland transferiert werden würde.
Sie schenkte ihrer Schwester Olga in Wien RM 2.000 und setzte für ihre eigene Auswanderung Kosten von RM 4.000 an. Das restliche Vermögen übereignete sie ihrer Tochter Adelheid. Danach wurde die "Sicherungsanordnung" aufgehoben.
Nachdem sich die Devisenstelle der Zahlung aller Zwangsabgaben - Reichsfluchtsteuer in Höhe von RM 11.746, DEGO RM 220 und Judenvermögensabgabe RM 3000 - vergewissert hatte, erhielt Adele Goetze die devisenrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung und wanderte noch im August 1940 auf dem beschwerlichen Landweg über die Sowjetunion, China und Japan in die USA aus. Am 12. Oktober 1940 traf sie in Boston ein.
Inzwischen hatte Siegbert Seligmann-Goetze eine Praxis in Stoughton/Massachusetts für einen Neuanfang gefunden, doch war er gesundheitlich sehr geschwächt. Bekannte vermittelten ihm einen Platz auf einer Farm mit einer therapeutischen Wohngemeinschaft, um sich mit seiner Ehefrau Adele für einige Tage auszuruhen und sich zu erholen. Dort starb Siegbert Seligmann-Goetze an den Folgen eines weiteren Herzinfarkts am 2. September 1941 mit 58 Jahren.
Adele Goetze blieb nach dem Tod ihres Mannes noch zehn Jahre in den USA und arbeitete für eine befreundete Quäkerfamilie.
Sie kehrte später nach Hamburg zurück, wo sie am 18. März 1973 verstarb.
Epilog
Ido/Ida Seligmann, geb. Rosendorff, wurde am 9. Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo sie einen Monat später, am 11. Juli 1943, im Alter von 84 Jahren starb.
Paula Ritterbandt, geb. Oppenheimer, geb. 10.4.1876 in Frankfurt, Siegbert Seligmanns Cousine, Tochter seiner Tante Bona Oppenheimer, wurde am 25. April 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie gelangte im Februar 1945 mit dem einzigen Transport aus Theresienstadt in die Schweiz. Nach ihrer Genesung zog sie zu ihrer Tochter Elsa Adolphine in die USA.
Caroline Oppenheimer, Siegbert Seligmanns Schwester, kehrte ebenfalls nach Deutschland zurück und starb am 23. November 1973 in Bad Münstereifel.
Liesel Goetze emigrierte erst nach Brasilien und nach einem Zwischenaufenthalt wieder in Deutschland nach England, wo sie bis zum Kriegsende blieb. Später emigrierte sie in die USA, wo sie am 29. Mai 2011 in Great Barrington/Massachusetts starb.
Adelheid Goetze überlebte den Zweiten Weltkrieg in Wien und zog nach dem Krieg ebenfalls in die USA. Später kehrte sie zurück nach Hamburg, wo sie am 7. Januar 1997 verstarb.
Stand: November 2024
© Hildegard Thevs mit Ruth Goetze
Quellen: 1; 2: 314-15_R 1939/2716, F 1902, FVg 5966; 5 digital; 9; Hamburger Adressbücher; StaHH: 213-13 Wiedergutmachung Landgericht, 3653, 3654, 3655, 23874; 214-1 Gerichtsvollzieherwesen 291, Lgb. C 110/42; 231-3 Personalakten, B 16404; StaHH 232-3 Testamente, H 13525; 332-4 Namensänderungen, 2854; 332-5 Personenstandsregister; 332-8 Reisepassprotokolle; 352-3 Matrikel Hamburger Ärzte, I C 11 Band 1 und 4; 351-11 Wiedergutmachung, 8421, 6316, 7438; 622-1/173_D 38 in: Fotoarchiv 741-4, L 24/2 Korr. Plaut; Medizingeschichte und Medizinethik, UKE, Archiv; Ruth Goetze, Siegbert Seligmann-Goetze Lebensgeschichte, unveröffentlichtes Manuskript; Renate Hauschild-Thiessen: Mittell, Margarethe. in: Franklin Kopitzsch, Dirk Brietzke (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Band 5. Göttingen, 2010; Ursula Wamser/Wilfried Weinke, Hrsg., Eine verschwundene Welt, Hamburg 1991, S. 51; Von Villiez, Anna, Hamburg 2009, S. 279: Siegbert Goetze (vormals: Seligmann); https://www.wo-sie-ruhen.de/friedhof?id=21 – Langenfelde; https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_B%C3%BCrgerrecht; https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=3320082; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/arierparagraph.html; https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerzteschaft-im-nationalsozialismus/gedenkveranstaltung; https://www.ushmm.org/online/hsv/person_advance_search.php?NameSearch__SourceSrchGrp=&NameSearch__ParentSourceId=&NameSearch__sort=score&NameSearch__MaxPageDocs=25&NameSearch__lname=Ritterbandt&NameSearch__lname_accuracy=&NameSearch__fname=Paula&NameSearch__fname_accuracy=&NameSearch__lname_maiden=&NameSearch__lname_maiden_accuracy=&NameSearch__Query=&NameSearch__SourceId=20929&source_list=&NameSearch__year_birth=&NameSearch__year_birth_accuracy=&NameSearch__year_death=&NameSearch__year_death_accuracy=&NameSearch__year=&NameSearch__year_accuracy=&NameSearch__place=&NameSearch__place_accuracy=&NameSearch__place_IsGeoExpand_cb_0=&NameSearch__place_birth=&NameSearch__place_birth_accuracy=&NameSearch__place_birth_IsGeoExpand_cb_0=&NameSearch__place_prewar=&NameSearch__place_prewar_accuracy=&NameSearch__place_prewar_IsGeoExpand_cb_0=&NameSearch__place_wartime=&NameSearch__place_wartime_accuracy=&NameSearch__place_wartime_IsGeoExpand_cb_0=&NameSearch__place_death=&NameSearch__place_death_accuracy=&NameSearch__place_death_IsGeoExpand_cb_0=&NameSearch__meta_333=&NameSearch__meta_259=; https://quaeker.org/wp-content/uploads/2015/07/Halle_Quaekerhaltung_pdf.pdf. Abrufe geprüft 26.10.2024.
Zur Nummerierung häufig benutzter Quellen siehe "Recherche" unter www.stolpersteine-hamburg.de.