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Anna Neumark (geborene Levy) * 1886

Grindelallee 21–23 (Eimsbüttel, Rotherbaum)

1941 Minsk

Weitere Stolpersteine in Grindelallee 21–23:
Walter Neumark, Richard Neumark, Edgar Neumark, Karl-Heinz Neumark

Edgar Neumark, geb. am 1.9.1886, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
Karl-Heinz Neumark, geb. am 15.4.1913, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
Richard Neumark, geb. am 1.8.1918, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
Walter Neumark, geb. am 1.8.1918, 1942 deportiert nach Izbica, Todesdatum unbekannt
Anna Neumark, geb. am 27.12.1886, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk, Todesdatum unbekannt

Stolpersteine in Hamburg-Rotherbaum, Grindelallee 21–23

Das Schicksal der Familie Neumark ist dadurch kennzeichnet, dass hier die Verfolgung von Juden, von "Erbkranken" und von Homosexuellen ineinandergriffen.

Edgar Neumark kam am 1. September 1886 als jüngstes Kind von Meyer Neumark, geboren am 1. Mai 1849 in Wittmund, und dessen Frau Hanna, geborene Berwin, in Hamburg zur Welt. Meyer Neumark, der einer alteingesessenen großen Familie in Wittmund/Ostfriesland entstammte, war 1878 mit seiner Frau nach Hamburg gezogen. Er war laut Kultussteuerkartei im Bereich "Agentur und Commission" tätig, er war also Händler. Das Ehepaar wohnte mit Edgar und dessen älteren Schwestern in der Rappstraße 10. Fanny Neumark, geboren am 30. Januar 1882, von Beruf Kontoristin, heiratete am 4. April 1919 den Kaufmann Max Levinson. Sie verstarb am 5. August 1934 in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Bertha Neumark, geboren am 20. Juni 1883, war von Beruf Buchhalterin. Sie heiratete am 4. November 1919 den Kaufmann Ernst Hauptmann.

Noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges heiratete Edgar Neumark die etwa gleichaltrige Anna Levy, Tochter von Louis und Julie Levy, geborene Hesse. Das Ehepaar hatte drei gemeinsame Söhne, Karl-Heinz, geboren am 15. April 1913, sowie die Zwillinge Richard und Walter, geboren am 1. August 1918, alle in Hamburg.

Die Familie von Edgar Neumark wohnte zunächst für längere Zeit in der Borgfelder Straße 67 im Hamburger Stadtteil Borgfelde. Borgfelde war ein recht junger Stadtteil, in dem erst in den 1870er Jahren nach der Anlegung neuer Straßenzüge eine rege Bautätigkeit eingesetzt hatte. Es entstanden große Mietshäuser in Blockrandbebauung. Während Oben-Borgfelde eher bürgerlich strukturiert war, fanden in Unten-Borgfelde eher sozial schwächer gestellte Familien Unterkunft. Die Hausnummer 67 befand sich etwa in der Mitte, und die Neumarks lebten demnach genau an der Grenze zwischen den beiden Teilen der Borgfelder Straße, was auch ihrem sozialen Status zu dieser Zeit entsprach. Edgar Neumark handelte in der Claus-Groth-Straße 35, einer Parallelstraße zur Borgfelder Straße, mit Altmaterialien (auch "Rohprodukte" genannt), d. h., er war Schrotthändler. Ob ihm der Betrieb gehörte, ist nicht sicher. Aus der Kultussteuerkarte von Fannys Ehemann, Max Levinson, geht jedoch hervor, dass dieser bei seinem Schwager Edgar als Rohproduktenhändler arbeitete. Seit 1914 zahlte Edgar als Familienoberhaupt über Jahre Steuern an die Jüdische Gemeinde, was darauf schließen lässt, dass die Familie in diesem Zeitraum über ein gutes Einkommen verfügte. Die Inflationszeit ging jedoch nicht spurlos an der Familie Neumark vorüber. Im Gegenteil: Edgar erlitt wegen dieses finanziellen Desasters eine akute depressive Psychose, von der er sich Zeit seines Lebens nicht mehr erholte. Ab 1925 verbrachte er etwa ein Jahr in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg.

Wahrscheinlich begann Edgar Neumarks Frau Anna zu dieser Zeit als Schuhverkäuferin in einem Geschäft namens M. Rieder zu arbeiten, denn sie bezahlte ab 1931 ebenfalls Kultussteuern an die Jüdische Gemeinde. Der Inhaber des Geschäftes, Joseph Levy, war möglicherweise ein Verwandter. Anna Neumark arbeitete dort bis zur "Arisierung" des Geschäftes und ihrer darauffolgenden Entlassung am 30. September 1938. Ab 1938 trug auch sie den Zwangsnamen Sara.

Von 1935 an lebten die Neumarks in der Grindelallee 23. Die fünfköpfige Familie wohnte hier jedoch vermutlich zu keiner Zeit gemeinsam.

Edgar arbeitete noch bis mindestens 1938 als "Altmaterialgroßhändler". Der dreifache Vater war zu diesem Zeitpunkt 51 Jahre alt. Am 29. Dezember 1939 nahm ihn die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg erneut auf. Von dort wurde er am 26. Februar 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt. Wie es hieß, war Edgar Neumark an einer "depressiven Schizophrenie" erkrankt, mit der auch seine Sterilisation im Jahr 1935 begründet worden sein könnte.

Der älteste Sohn von Edgar und Anna Neumark, Karl-Heinz, galt schon früh als "schwachsinnig". Er kam als Kind wegen Lernschwierigkeiten in die damalige "Heilerziehungsanstalt Calmenhof zu Idstein im Taunus", ein Heim für "bildungsfähige" Kinder mit Behinderung. Am 25. Oktober 1928 wurde er nach Hamburg zurückgeschickt und mit der Diagnose "angeborener Schwachsinn" in die damaligen Alsterdorfer Anstalten eingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt war er fünfzehn Jahre alt. Er galt als "gut führbar", gut integriert und konnte sogar kleine Maurer- und Hilfsarbeiten durchführen. Die Diagnose "angeborener Schwachsinn" führte zu einem späteren Zeitpunkt zu seiner Entmündigung. Nachdem die Nationalsozialisten das Erbgesundheitsgesetz erlassen hatten, beschloss das Erbgesundheitsgericht am 17. April 1935 "die Unfruchtbarmachung des Patienten Karl-Heinz Neumark". Der operative Eingriff der Sterilisation wurde im Juni 1935 im Universitätsklinikum Eppendorf vorgenommen. Anschließend kam Karl-Heinz Neumark zurück nach Alsterdorf.

Die Zwillinge Richard und Walter absolvierten die ersten Schuljahre in der Volksschule am Ausschläger Weg. Weil der Unterricht dort beide überforderte, wechselten sie auf die Hilfsschule in der Bülaustraße 38. Am 21. Juni 1932, mit 14 Jahren, mussten Walter und Richard ihre Familie verlassen und kamen in die Hilfsschule "Landheim Besenhorst" bei Geesthacht zur Fürsorgeerziehung. Besenhorst war 1918 als Ledigenheim der Pulverfabrik Dünaberg gebaut worden und wurde dann als Hilfsschülerabteilung des Hamburger Waisenhauses genutzt. Dort blieb Richard bis zum 13. Juli 1935. Walter wurde in der Zwischenzeit in das Landheim Ochsenzoll weiterverlegt, ebenfalls eine Außenstelle des Hamburger Waisenhauses. Am 3. Mai 1935 beschloss das Erbgesundheitsgericht Richards Sterilisation. Auch Walter wurde sterilisiert.

In dem neuen Jugendheim der Stadt Hamburg in Wulfsdorf bei Ahrensburg trafen sich die beiden Zwillingsbrüder wieder. Die Stadt Hamburg hatte das Gut Wulfsdorf 1922 mit dem Ziel erworben, dort außerhalb der Stadt ihre sämtlichen Jugendheime unterzubringen. Wegen fehlender finanzieller Mittel wurden schließlich nur die Erziehungsanstalten des Jugendamtes dorthin verlegt. Innerhalb des Gutsbetriebes hoffte man, die Zöglinge "nutzbringend und in erzieherisch günstigem Sinne" in Werkstätten, Viehställen und einer Gärtnerei einsetzen zu können. Von 1926 bis nach dem 2. Weltkrieg arbeiteten bis zu 70 Jugendliche auf dem Gut. Die Unterbringung war kasernenähnlich und entsprach den Vorstellungen der Zeit. 1936 wurden Walter und Richard als Arbeiter auf verschiedenen Bauernhöfen eingesetzt. 1937 musste Walter diese Stellung aufgeben und wurde nach kurzem Aufenthalt in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg von der Fürsorgebehörde in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen. Ein Gutachten diagnostizierte "angeborenen Schwachsinn", was schließlich auch zu seiner Entmündigung führte. In seiner Akte heißt es: "In seinen Arbeitsleistungen anfangs wenig zufrieden stellend, in letzter Zeit gemäßigt, williger, tat jedoch nicht mehr als unbedingt nötig war. […] Versuchte, einen tiefstehenden Zögling unter Anbieten einer Scheibe Brot zu homosexuellen Handlungen zu verleiten."

Die Alsterdorfer Anstalten hatten sich seit 1933 zu einem nationalsozialistischen Musterbetrieb entwickelt, in dem eugenische Vorstellungen und damit einhergehend auch Zwangssterilisationen als "Verhütung unwerten Lebens" unterstützt wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Verfolgung der Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich auch zu entsprechenden Maßnahmen in den Alsterdorfer Anstalten führte. Ein Urteil des Reichsfinanzhofs vom 18. März 1937 diente als Vorwand, die Entlassung aller Jüdinnen und Juden aus den Alsterdorfer Anstalten vorzubereiten. Pastor Friedrich Karl Lensch, der Leiter der Einrichtung, sah in dem Urteil die Gefahr des Verlustes der steuerrechtlichen Gemeinnützigkeit, wenn künftig Jüdinnen und Juden in der Anstalt bleiben würden. Ein Schreiben vom 3. September 1937 an die Hamburger Fürsorgebehörde enthielt 18 Namen von "jüdischen Zöglinge[n], welche hier auf Kosten der Fürsorgebehörde untergebracht sind”, darunter auch die von Karl-Heinz und Walter Neumark. Sie wurden am 31. Oktober 1938 mit 13 weiteren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern aus Alsterdorf zunächst in das Versorgungsheim Oberaltenallee eingewiesen. Walter wurde dann am 31. Oktober 1938, Karl-Heinz am 20. Mai 1940 in das Versorgungsheim Farmsen weiterverlegt. Im April 1940 konnten sich die Alsterdorfer Anstalten schließlich des letzten jüdischen Anstaltsbewohners entledigen.

Richard Neumark war bei dem Bauern Johannes Schlüter in Tornesch-Ahrenlohe bei Pinneberg eingesetzt, wo er bis zum 26. Juli 1937 blieb. Nachdem er den Bauernhof laut eigener Aussage wegen der Rassengesetzgebung verlassen musste, zog er zurück zu seinen Eltern in die Grindelallee 23 II.

Durch Richard Neumarks lange Abwesenheit und unterschiedliche religiöse Vorstellungen war seine Stellung in der Familie schwierig. Als er 1938 wegen des Vorwurfs der tätlichen Beleidigung vor Gericht stand, gab er zu Protokoll: "Ich sehe gar nicht aus wie ein Jude. Wenn ich das zu Hause mal sage, dann ist der große Krach. Das sind gar nicht meine Eltern. […] Ich bin als Christ erzogen und fühle mich als solcher. Als ich noch in den Anstalten war, habe ich mich aus eigener Initiative umtaufen lassen. Dies wird ja heute nicht mehr anerkannt." Dennoch unterstützten ihn seine Eltern und ließen das Gericht durch den jüdischen Rechtsanwalt Max Heinemann wissen, dass die geistigen Fähigkeiten ihres Sohnes zwar beschränkt seien, er aber sonst ordentlich und häuslich sei. Offenbar wollten sie damit ein mildes Urteil erreichen. Der Ausgang des Verfahrens ist nicht bekannt.

Richard Neumark arbeitete danach als Rohproduktenarbeiter bei mehreren Arbeitgebern und schließlich bis zu seiner Verhaftung bei Höppner ("der das Altpapier im Alsterhaus sammelt"). Dort verdiente er, wie er selbst angab, wöchentlich 10 RM. Am 9. August 1938 wurde er verhaftet, verbrachte eine Woche im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel und kam am 18. August in Untersuchungshaft.

Das Aufnahmeformular gibt Hinweise auf sein Aussehen: Richard war 1,56 m groß, hatte blonde Haare und graue Augen, als besondere Kennzeichen galten eine Blinddarmnarbe und seine Sterilisation. Er führte nur eine Armbanduhr, eine Anmeldebescheinigung zur Wehrpflicht und 65 Pfennige bei sich. Festgenommen worden war er, weil er einen 15-jährigen Schüler wiederholt angesprochen und in sexueller Absicht berührt haben sollte. Der Gutachter, Medizinalrat Dr. Pecht, bescheinigte der Familie Neumark "drei mehr oder weniger defekte Söhne" und diagnostizierte bei Richard Intelligenzmängel. Bei der Hauptverhandlung am 22. November 1938 wurde Richard Neumark wegen Beleidigung nach § 185 StGB zu fünf Monaten Gefängnis unter Anrechnung von zwei Monaten Untersuchungshaft verurteilt. Er verbrachte die restlichen drei Monate im Gefängnis Hamburg-Harburg, aus dem er am 22. Februar 1939 entlassen wurde. Seine Mutter besuchte ihn einmal am 2. Dezember 1938 in der Haft. Zu ihr hatte der Sohn ein inniges Verhältnis; in einem Brief aus der Untersuchungshaft an seine Eltern schrieb er: "Schreibt bitte wieder. Ich denke so vihl an Mutti hofendlich gehd es ihr gans gut."

Nach seiner Entlassung arbeitete Richard als Erdarbeiter "in einer Juden-Kolonne bei dem Unternehmer Karl Vogt", bis er am 29. Mai 1939 wieder festgenommen wurde. Er sollte einen 13-jährigen Schüler an den Landungsbrücken angesprochen, ihn in intime Gespräche verwickelt und schließlich am Fortgehen gehindert haben, indem er ihn von hinten umfasste. Diesmal wurde er eines Sittlichkeitsverbrechens nach § 176 Abs. 1 Ziff. 3 II StGB angeklagt und am 18. Dezember 1939 zu einem Jahr Haft verurteilt, da man die "wollüstige Absicht" seiner Handlungen als erwiesen ansah. Durch seine "triebhafte Hemmungslosigkeit" sei zudem die öffentliche Sicherheit gefährdet, so dass die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt angeordnet wurde. Die Unterlagen wiederholen die Aussagen aus dem ersten Prozess über den Angeklagten Neumark, doch die Formulierungen waren nun deutlich schärfer. So wurden ihm "Charakterzüge eines Psychopathen" bescheinigt, er sei "faul, unbeherrscht, streitsüchtig, nur auf seinen Vorteil bedacht und unsauber", "Zurechtweisungen konnte er nicht vertragen". Gezeichnet wurde das Bild des asozialen, schwachsinnigen, jüdischen "Volksschädlings", "der aus einer erbbiologisch unterwertigen Familie" stamme und an "Schwachsinn mittleren Grades" leide.

Die Haft verbrachte Richard Neumark bis zum 29. Mai 1940 im Gefängnis Altona, dann folgte die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn. Dort befand sich bereits sein Vater.
Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Jüdinnen und Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Jüdinnen und Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen. Zu diesem Termin kam auch Karl-Heinz Neumark aus dem Versorgungsheim Farmsen nach Langenhorn.

Am 23. September 1940 wurden Karl-Heinz, sein Bruder Richard und ihr Vater Edgar Neumark mit weiteren 133 Patientinnen und Patienten aus norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel gebracht. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und ermordete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Richards Strafakte liegt folgender Zettel bei: "Laut Mitteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn ist Neumark auf Anordnung des Reichsinnenministeriums am 23. September 1940 nach Chelm bei Lublin, Schließfach 822, verlegt worden. Hamburg, den 5. März 1943. Der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht."

Wir wissen nicht, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis vom Tod der drei Männer aus der Familie Neumark erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm, einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es dort kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Im März 1943 machte sich die Staatsanwaltschaft Hamburg Gedanken, ob der Zweck von Richard Neumarks Unterbringung (in Langenhorn) erreicht worden sei. In einem Vermerk wurde notiert:
"Nachdem N. bereits am 23/9. 40 einem Sammellager in Chelm b/Lublin zugeführt ist, kann hier von weiteren Maßnahmen hins. Feststellung, ob der Zweck der Unterbringung erreicht ist, Abstand genommen werden."

Anders als sein Vater und seine beiden Brüder war Walter Neumark nicht von der Deportation vom 23. September 1940 nach Brandenburg betroffen. Im Zuge der Verlegung aus Alsterdorf kam Walter Neumark über das Versorgungsheim Oberaltenallee schließlich in das Versorgungsheim Farmsen. Von dort wurde er am 15. Mai 1939 nach Hause entlassen und arbeitete bis 1940 nach seinen Angaben in einem Rohproduktenlager und danach in Schnelsen. Am 29. November 1940 wurde er mit einem Krankentransportwagen in die Alsterdorfer Anstalten eingeliefert, wo er bis zu seiner Überführung in die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn und dem Weitertransport in die Jüdische Heil- und Pflegeanstalt Bendorf–Sayn bei Koblenz am 21. April 1941 blieb.

In Bendorf–Sayn wurden jüdische Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung, die bisher überlebt hatten, infolge einer Verfügung des Reichsinnenministeriums vom 12. Dezember 1940 zentral von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland aufgenommen und betreut. Die Patienten dieser Anstalt wurden im Frühjahr 1942 nach Osten deportiert, darunter auch Walter Neumark, der am 22. März 1942 in das Durchgangslager Izbica gebracht und entweder dort oder in einer der Mordanstalten (z. B. Sobibór) ermordet wurde.

Noch am 16. September 1940 hatte sich die Abteilung für Zwillingsforschung des Universitätskrankenhauses Eppendorf für Richard und Walter Neumark interessiert, doch da war das Schicksal der beiden Brüder schon besiegelt, und die Anfrage wurde nicht mehr berücksichtigt.

Anna Neumark lebte noch bis zu ihrer Deportation nach Minsk in der Grindelallee 23, zuletzt vermutlich allein. Sie kam mit dem zweiten Deportationszug, der am 18. November 1941 von Hamburg nach Minsk fuhr, am 23. November 1941 dort an. In Minsk existierte ein "Sondergetto" für die deutschen Jüdinnen und Juden. Jeder Person standen dort nur 1,5 qm zur Verfügung, die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Im Minsker Getto wurden die arbeitsfähigen Jüdinnen und Juden zu schwerer körperlicher Arbeit herangezogen. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Minsk war Anna Neumark fast 55 Jahre alt. Ob auch sie zum Arbeitsdienst eingeteilt wurde, wissen wir nicht. Sie ist vermutlich spätestens bei der Erschießungsaktion am 8. März 1943 umgekommen, bei der ein Großteil der Hamburger Jüdinnen und Juden getötet wurde. Bereits zehn Tage vor Anna Neumark, am 8. November 1941, wurden ihre Schwägerin Bertha und deren Ehemann Ernst Hauptman nach Minsk deportiert. Auch sie kamen wahrscheinlich dort ums Leben.

Das Ehepaar Anna und Edgar Neumark ist gemeinsam mit seinen drei Söhnen, Karl-Heinz, Richard und Walter, im Hamburger Gedenkbuch aufgeführt. Zu ihren Lebzeiten hatten sie nur kurze Zeitspannen zusammen verbracht.

Von Edgar Neumark wissen wir, dass er wegen psychischer Probleme behandelt wurde, noch bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Auch seine Söhne, die in den 1910er Jahren geboren wurden, waren offenbar in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt. Mit dem Aufstieg der NSDAP veränderte sich der Blick der Behörden auf die Familienmitglieder: Sie sahen nicht mehr hilfsbedürftige Personen, sondern Juden, die aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden sollten, und psychisch Kranke, die "unnütze Esser" waren und einen Homosexuellen, der aus Sicht der Machthaber eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Diese Familie hatte im nationalsozialistisch geführten Deutschland keine Überlebenschance.

Die geistige Behinderung der drei Söhne, die einer besonderen Unterstützung bedurft hätten, wurde als "volksgefährdend" bezeichnet und für "unheilbar" erklärt, bewusst überspitzt und maßlos übertrieben. Auch Richards Verurteilungen sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Generell ist festzuhalten, dass keine noch so schwere "Krankheit" irgendjemandem das Recht gegeben hätte, die Familie Neumark zu deportieren und zu ermorden.

Für Anna, Edgar, Karl-Heinz, Richard und Walter Neumark liegen Stolpersteine in Hamburg-Rotherbaum, Grindelallee 21–23.


Stand: Juli 2019
© Nelly Birgmeier/Sigurd Brieler/Anika Reineke/Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht Strafsachen 10611/38 Richard Neumark, 238/40 Richard Neumark; 242-1 II Strafvollzugsanstalten 22594 Richard Neumark; 332-5 Standesämter 2025 Geburtsregister Nr. 509/1882 Fanny Neumark, 2055 Geburtsregister Nr. 2931/1883 Bertha Neumark, 2131 Geburtsregister Nr. 4254/1886 Neumark Richard, 2592 Heiratsregister Nr. 1391/1878 Meyer Joseph Meyer Neumark/Hanna Berwin, 7156 Sterberegister Nr. 790/1934 Fanny Levinson, 8059 Geburtsregister Nr. 349/1920 tot geboren, Eltern Max und Fanny Levinson, 8728 Heiratsregister Nr. 111/1919 Max Levinson/Fanny Neumark, 8730 Heiratsregister Nr. 619/1919 Ernst Hauptmann/Bertha Neumark; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 8. 1939 bis 27. 1. 1941; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Nr. 28013 Walter Neumark; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Edgar Neumark der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; Patienten-Karteikarte Walter Neumark der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Patientenakte Walter Neumark der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Aufnahme- und Abgangsbücher, Patientenakten V 316, Walter Neumark, Erbgesundheitskarteikarte Karl-Heinz Neumark, Erbgesundheitskarteikarte Walter Neumark; Mitteilung Michael Wunder vom 18.1.2008; Auskunft E-Mail vom 26.1.2008 Hildegard Thevs. Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz von 1800 bis 1945, S. 265ff. Wunder, Michael, Die Auflösung von Friedrichsberg-Hintergründe und Folgen, in: Hamburger Ärzteblatt (HÄB) 1990 (44). Landeswohlfahrtsverband Hessen, Erinnern und Gedenken, Kassel 2008, S. 30. http,//www.stgeorg-borgfelde.de/seiten/geschichte/der-stadtteil-borgfelde.php (Zugriff 20.1.2008).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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