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Emilie Warnecke
Emilie Warnecke
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Emilie Warnecke * 1876

Danziger Straße 19 (Hamburg-Mitte, St. Georg)


HIER WOHNTE
EMILIE WARNECKE
JG. 1876
EINGEWIESEN 1885
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
‚HEILANSTALT‘
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 4.3.1944

Henriette Wilhelmine Emilie Warnecke, geb. 7.9.1876 in Hamburg, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 11.6.1885, abtransportiert am 16.8.1943 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof"), dort gestorben am 4.3.1944

Danziger Straße 19 (St. Georg)

Henriette Wilhelmine Emilie Warnecke (Rufname Emilie) kam am 7. September 1876 in der elterlichen Wohnung Ecke Süderstraße und Amsinckstraße 79 im Hamburger Stadtteil Hammerbrook zur Welt. Sie war das älteste von drei Kindern des Arbeiters Heinrich Emil Christian Warnecke, geboren am 26. März 1850 in Hamburg, und seiner Ehefrau Anna Margaretha, geborene Steingrüber, verwitwete Knutzen, geboren am 13. August 1843 in Muggesfelde, Kreis Segeberg.

Nach Emilie wurden zwei weitere Kinder geboren: Gustav Ferdinand Emil am 9. August 1877 in der Amsinckstraße 79 und Carl Franz Max am 3. August 1879 in der Brandstwiete 12.

Wahrscheinlich hatten die Eltern außerhalb Hamburgs geheiratet. Nähere Personendaten der Eheleute konnten in den Hamburger Personenstandsverzeichnissen nicht gefunden werden.

Bei Emilie Warnecke traten während der Kindheit Keuchhusten und Lungenentzündung auf. Durch eine Erkrankung mit Scharlach war ihr rechtes Trommelfell geschädigt. Der Arzt und Physikus Hermann Gustav Gernet beurteilte Emilie Warnecke 1885. Er schrieb, sie sei an den Folgen von Kinderkrankheiten der ersten Lebensjahre trotz kräftiger körperlicher Entwicklung geistig so geschwächt, dass ihr Zustand immer mehr den Charakter des Idiotismus [nicht mehr gebräuchliche Bezeichnung für geistige Behinderung] angenommen habe. Sie habe eigentümliche Krampfanfälle "epileptiformer Art" erlitten. Versuche, sie die Schule besuchen zu lassen, seien erfolglos gewesen. Wiederholt sei sie aus der Wohnung gelaufen und dann auf der Straße aufgegriffen worden, ohne dass sie imstande gewesen wäre, über sich Auskunft zu geben. Obgleich die Eltern für sie täten, was sie könnten, würde ihr Zustand sich im Hause immer bedenklicher gestalten. Das Kind müsse, solle aus ihm noch etwas werden, einer Anstalt übergeben werden.

Nach ihrer Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten am 11. Juni 1885 (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) wurde Emilie Warnecke als "gutmütiges, dummes, aber sehr lebhaftes und lautes Mädchen, das zu einfachen Arbeiten zu verwenden ist", beschrieben. Die Diagnose lautete: Pfropfhebephrenie [Dieser Begriff bezeichnet eine Unterform der Schizophrenie].

Erst 1892 hielt ein kurzer Bericht fest, dass bei ihr etwa alle sechs Monate jeweils sehr starke Krampfanfälle aufgetreten seien. 1901 hieß es, sie habe sich durch den Besuch der Anstaltsschule "nicht die geringsten Kenntnisse" aneignen können, Handarbeiten verstehe sie nicht, sie verrichte sehr leichte Hausarbeiten, zeige sich gutmütig, manchmal launisch.

Ab 1904 wurden diverse Krankheiten notiert: Wegen Gelenkrheuma befand sie sich mehrmals im Lazarett der Anstalt, ein Drüsenabszess wurde ambulant behandelt, ebenso ein Überbein an der Hand. 1922 litt sie an einer Lungenentzündung, 1925 an einem Magenkatarrh.

Am 3. Januar 1922 starb Emilies Mutter Anna Margaretha Warnecke. Ihr Tod wird in der Patientenakte ebenso wenig erwähnt wie der des Vaters am 11. September 1930. Wir wissen nicht, ob sie vom Ableben ihrer Eltern erfahren hat und wie sie darauf reagierte.

In ihrer Akte hieß es wiederholt, sie sei erregt gewesen, einmal habe sie dabei eine Fensterscheibe zerschlagen und sich Schnittwunden am linken Arm zugezogen, die im Lazarett hätten versorgt werden müssen. Gelegentlich musste Emilie Warnecke wegen angeblich widersetzlichen Verhaltens zur Strafe das Bett hüten. Auch 1929 notierte das Personal, sie sei stark erregt gewesen und habe gedroht, sich die Pulsadern aufzuschneiden bzw. sich aus dem Fenster zu stürzen. Mitte Dezember 1929 stürzte sie sich dann tatsächlich aus dem Fenster, weil sie zur Strafe wieder ins Bett sollte. Sie zog sich bei dem Sturz einen Armbruch, Gesichtswunden, Hautabschürfungen am Knie, im Gesicht und an beiden Armen zu. Wegen der Erregung wurde sie 1930 auch mehrmals im Wachsaal isoliert. Gegen ihre Erregungen erhielt sie Luminal und Morphium-Scopolamin-Injektionen. (In "Wachsälen" wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. In den Alsterdorfer Anstalten wurden diese Ende der 1920er Jahre eingeführt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.)

Besondere Erwähnung fand in der Patientenakte, dass Emilie Warnecke Mitte 1930 aus der Anstalt fliehen wollte. Wegen ihrer Erregtheit sei sie im Wachsaal einem Dauerbad ausgesetzt gewesen. Kurze Zeit später soll sie in ihrer Erregung geschrien haben, "wo soll ich denn mit meinem Kram bleiben; Mama, Papa, ich will hier raus, ich will einen Mann haben, ich will heiraten." 1931 setzten sich die Berichte über Emilie Warnecke im Wesentlichen unverändert fort. Sie äußerte auch Suizidabsichten und rief nach ihren verstorbenen Eltern.

Im Juni 1931 musste Emilie Warnecke vier Tage im Wachsaal bleiben. Es wurde immer wieder berichtet, sie sei sehr gereizt und erregt, habe Mitpatientinnen geschlagen, bespuckt, ihnen Haare ausgerissen und sich selbst durch Kratzen verletzt. In den Folgejahren wiederholten sich die Berichte. Immer wieder wurde Emilie Warnecke im Wachsaal isoliert.

Erst im April 1943 kam es zu einer Veränderung. Nun hieß es, dass Emilie Warnecke ihre Körperpflege unter Aufsicht selbst besorgen könne und anderen Patientinnen gern beim Ankleiden und bei der Arbeit behilflich sei. Zugleich soll sie jedoch über Kleinigkeiten immer in Erregung geraten sein und Streit gesucht haben. Insgesamt scheint sie für die Betreuerinnen eine sehr anstrengende Patientin gewesen zu sein.

Ihr Gewicht, das 1934 noch mit 59 kg notiert wurde, betrug im Herbst 1942 nur noch 40,5 kg.

Der letzte Eintrag in Emilie Warneckes Alsterdorfer Patientenakte datiert vom 16. August 1943. Er lautet: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Bombenangriff verlegt nach Wien. Gez. Doktor Kreyenberg.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") in Wien "verlegt". Unter ihnen befand sich Emilie Warnecke.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.
Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf. Emilie Warnecke gehörte zu ihnen.

In der Wiener Anstalt soll sich Emilie Warnecke zunächst ruhig verhalten haben, jedoch "wegen ihrer Unbeholfenheit zu keiner Arbeit geeignet" gewesen sein. Anfang 1944 habe sie im Wachsaal von einem Fritz phantasiert, den sie heiraten werde. Sie habe "jämmerlich" geweint.
Unter dem 19. Februar findet sich nur ein kurzer Eintrag in der Patientenakte: "Schwach, verfällt." Sie wog noch 39 kg.

Wenige Tage später, am 4. März 1944, starb Emilie Warnecke angeblich an "Marasmus und Lungentuberkulose" (Marasmus = Entkräftung), letzteres versehen mit einem Fragezeichen.

Emilie Warnecke wurde 68 Jahre alt.

Stand: Dezember 2024
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg 1885, StaH 332-5 Standesämter 1874 Geburtsregister Nr. 3489/1876 (Henriette Wilhelmine Emilie Warnecke), 1898 Geburtsregister Nr. 3104/1877 (Gustav Ferdinand Emil Warnecke), 1945 Geburtsregister Nr. 3132/1879 (Carl Franz Max Warnecke), 860 Sterberegister Nr. 9/1922 (Anna Margarethe Warnecke), 962 Sterberegister Nr. 1381/1930 Heinrich Emil Christian Warnecke; Evang. Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte 218 Emilie Warnecke. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff.

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