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Sitzende Gertrud Bechtold, ca. 25 Jahre alt
Gertrud Bechtold, ca. 25 Jahre alt
© Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv

Gertrud Bechtold * 1899

Leibnizstraße 10 (Wandsbek, Eilbek)


HIER WOHNTE
GERTRUD BECHTOLD
JG. 1899
EINGEWIESEN 26.5.1935
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT’ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 19.4.1945

Gertrud Bechtold, geboren am 2.1.1899 in Hamburg, gestorben am 19.4.1945 in der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien

Leibnizstraße 10

Als Gertrud Bechtold zehn Tage nach ihrer Geburt plötzlich Krämpfe bekam, erhielt sie in der katholischen Kirche in Wandsbek die Nottaufe, denn ihr Vater, der aus Bilfingen stammende Goldarbeiter Valerian Bechtold, war katholisch. Ihre Mutter Mathilde, geborene Sodemann, bezeichnete sich als konfessionslos, erzog ihre Tochter aber evangelisch. Gertrud überlebte, litt aber zeitlebens an epileptischen Anfällen.

Mit neun Monaten lief sie und lernte mit einem Jahr sprechen. Sie besuchte die Volksschule Käthnerort und verließ sie ohne Abschluss. Entzündungskrankheiten im Kopfbereich, darunter eine Gehirnhautentzündung, hatten bleibende Hirnschäden verursacht. Diese und eine wahrscheinlich durchgemachte Kinderlähmung hinterließen eine bleibende Lähmung des rechten Armes und der rechten Gesichtshälfte sowie ihre verzögerte geistige Entwicklung. Der Hausarzt, Paul Borgzinner, weigerte sich 1912, Gertrud vorschriftsmäßig zu impfen, weil er die Impfung wegen ihres Nervenleidens für gefährlich hielt. Gertruds Krankheit äußerte sich in Anfällen, großer Unruhe und leichter Erregbarkeit, die mit symptomfreien Zeiten wechselten.

Die Anstaltsaufenthalte begannen 1914, als Gertrud wegen epileptischer Anfälle in das Allgemeine Krankenhaus Eppendorf eingeliefert wurde. Nach zehn Tagen wurde sie bereits wieder entlassen, jedoch nach weiteren zehn Tagen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Trotz der Behandlung mit dämpfenden Mitteln wie Luminal und Brom hielten ihre Zustände an. Im Mai 1916 wurde sie laut Attest "wegen zunehmender Unruhe, die ihre Umgebung weder bei Tag noch bei Nacht zur Ruhe kommen" ließ, in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg überwiesen. Es beschäftigte Gertrud sehr, dass sie noch nicht konfirmiert und damit "noch kein Fräulein" sei. Sie erlebte immer wieder Anfälle, nach denen sie längere Zeit benommen und verstimmt blieb. Während eines Erregungszustands im Sommer 1919 beschimpfte sie ihre Pflegerinnen und wurde daraufhin in ein Dauerbad gelegt. Betroffene wurden dabei über Stunden oder gar über Tage in eine Wanne mit lauwarmem Wasser gelegt, die mit einem Segeltuch oder Deckel verschlossen wurde. Da die Anfälle sich häuften, wenn Gertrud aufstand, verbrachte sie viel Zeit im Bett. Als sich ihr Befinden besserte, konnte sie schreiben und in geringem Umfang Kontakt zu ihrer Umwelt aufnehmen. Gertruds Eltern hatten sich inzwischen getrennt. Valerian Bechtold ging als Goldarbeiter nach São Paulo, Mathilde Bechtold arbeitete als Wirtschafterin in einem Privathaushalt. Sie besuchte ihre Tochter häufig, bis Gertrud selbstständig genug war, einmal wöchentlich zu ihr nach Hause zu kommen. Im Jahr 1924 verlief Gertrud Bechtolds Leben gleichförmig. Als sie 1927 in einem Erregungszustand gewalttätig wurde, wurde sie "zur Behandlung" gewickelt. Patientinnen und Patienten wurden bei dieser Methode in feuchte Leinentücher gerollt, die sich beim Trocknen zusammenzogen, so dass die so Behandelten buchstäblich ruhig gepresst wurden. Gertrud Bechtolds Anfälle und Gereiztheit ließen sich jedoch nicht wirklich kontrollieren. Wenn es ihr gut ging, strickte sie trotz ihres gelähmten Armes emsig.

Nach der Machtübergabe an Hitler und der Einführung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurde auch Gertrud Bechtold begutachtet und als nicht erbkrank eingestuft, weshalb sie nicht sterilisiert wurde. Die Anfälle wurden seltener.

Nach fast 20-jährigem Aufenthalt in Friedrichsberg wurde Gertrud am 16. Mai 1935 nach Alsterdorf zurückverlegt. Ihr Leben verlief auch dort im Wechsel zwischen heftigen Anfällen und ruhigen Phasen. Sie bedauerte ihre Ausfälle, vermochte sie aber nicht zu unterbinden. Medikamente halfen nicht: Erhielt sie starke Beruhigungsmittel, häuften sich die Anfälle, so dass sie das Bett hüten musste. Dem Pflegepersonal fiel auf, dass es Gertrud nach jedem Urlaub sehr viel besser ging.

Die Gesundheits- und Fürsorgebehörde trug die Kosten und bemühte sich um deren Minderung. Als Patientin, die "nichts Nennenswertes leistete" außer zu stricken, war Gertrud Bechtold in die höchste Pflegestufe Gruppe III eingestuft, doch die Anstaltsleitung gab dem Behördenwunsch nach und verpflegte sie versuchsweise nach Gruppe II. Dabei blieb es.

Gertrud Bechtolds Mutter Mathilde ging eine zweite Ehe ein und lebte nun als Tilly Kühn in der Stoeckhardtstraße in Hamburg-Hamm. Dort verbrachte Gertrud jetzt regelmäßig drei Tage Anstaltsurlaub im Monat, was jedoch mit der Ausbombung der Mutter Ende Juli 1943 und deren Evakuierung endete.

Am 18. August 1943 wurde Gertrud Bechtold zusammen mit 227 Mädchen und Frauen in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien abtransportiert. Bei ihrer An­kunft wog sie 56 kg. Ob sie unter der neuen Situation litt, ist nicht bekannt, ihr Zustand änderte sich zunächst nicht.

Die Mutter heiratete nach dem Tod ihres zweiten Mannes 1943 erneut und lebte nun unter dem Namen Hitzfeld zunächst in Mainburg/Hallertau, danach in der Altmark bei Seehausen. Sie hielt brieflichen Kontakt zur Anstaltsleitung, weil Gertrud nicht selbst schreiben konnte, und plante einen Besuch.

Gertrud fügte anfangs eigene Grußkarten bei. Sich häufende Anfälle schwächten sie erheblich und zwangen sie zur Bettruhe. Im Juli 1944 wurde zur Abklärung von Anfällen und Lähmungserscheinungen eine Encephalographie, eine gefährliche Diagnosemethode, mit der auch Therapieversuche verbunden waren, durchgeführt, die Gertrud ohne Komplikationen vertrug. Das Ergebnis zeigte eine Veränderung der linken Hirnkammer, bot aber keinen neuen Therapieansatz.

Möglicherweise ausgelöst durch eine Mitteilung über Gertruds Zustand am 13. September 1944 bat die Mutter die Anstaltsleitung am 15. September 1944, im Falle des Todes ihrer Tochter um Einäscherung der Leiche und Überführung der Asche nach Hamburg-Ohlsdorf. Das Antwortschreiben vom Oktober 1944 bestätigte Gertrud Bechtolds unveränderten Zustand und fügte bezüglich eines Besuches hinzu, "wenn die Patientin nicht gerade Anfälle hat, würde sie Sie erkennen". Drei Monate später wurde die Mutter über den unveränderten Zustand ihrer Tochter bei zunehmender Häufigkeit der Anfälle informiert. Allein im Dezember hatte Gertrud 45 Anfälle erlitten und rapide abgenommen, ihr Gewicht betrug noch 38 kg. Am 18. April 1945 wurde in der Akte zunehmender Verfall und am Tag darauf Gertrud Bechtolds Tod festgehalten, dazu die Diagnose "Schwachsinn mit epileptischen Anfällen nach Encephalitis. Marasmus. Enterokolitis" (Gehirnentzündung, hochgradige Auszehrung infolge Unterernährung, Darmentzündung). Gertrud starb völlig ausgezehrt im Alter von 46 Jahren. Ihre Mutter erhielt die Todesnachricht am 16. Mai 1946, ein Jahr nach Kriegsende, in Hamburg. Dass ihrem Wunsch nach der Überführung der Asche ihrer Tochter nach Hamburg entsprochen wurde, ist wegen der Wirren bei Kriegsende unwahrscheinlich.

Stand Februar 2014
© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 387; StaH 332-5 Standesämter, 6414-645/1898; Jenner, Meldebögen, in: Wunder/Genkel/Jenner, Auf dieser schiefen Ebene; Wunder, Abtransporte, in: Wunder, Genkel, Jenner, Auf dieser schiefen Ebene; ders., Exodus, ebd.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link Recherche und Quellen.

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