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Paul Blumenthal
© Jubiläumsschrift des 11. Deutschen Jugendgerichtstages der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte

Paul Blumenthal * 1880

Sievekingplatz 1 Ziviljustizgebäude (Hamburg-Mitte, Neustadt)


DR. PAUL
BLUMENTHAL
AMTSGERICHTSRAT ALTONA
JG. 1880
DEPORTIERT 1941
MINSK

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Weitere Stolpersteine in Sievekingplatz 1 Ziviljustizgebäude:
Heinrich Basch, Franz Daus, Dr. Hermann Moritz Falk, Hermann Feiner, Richard Hoffmann, Kurt (Curt) Ledien, Lambert Leopold, Wilhelm Prochownick, Alfred Rinteln, Anna Rosenberg, Walter Rudolphi, Leonhard Stein

Dr. Paul Blumenthal, geb. 13.2.1880 in Hannover, am 8.11.1941 nach Minsk deportiert

Eppendorfer Landstraße 30 und Sievekingplatz 1

Der Jugendrichter Paul Blumenthal muss eine ganz besondere Persönlichkeit gewesen sein. In zwei Nachrufen und einem Zeitzeugenbericht wird sein besonderes Engagement "in seinem Wirken für die Jugend" hervorgehoben und seine Beliebtheit sowohl im Freundes- und Kollegenkreis als auch unter jugendlichen Delinquenten betont. "Als realistischer Idealist, abhold allen großen Worten und Gesten" sei er durchs Leben gegangen, "ein weiser Freund und Helfer, ein großer, gütiger Mensch", hieß es 1947 im Beitrag der "Gilde Soziale Arbeit".

Die Nachrufe wurden 1947 und 1959 verfasst, zu einer Zeit, als "die Unfähigkeit zu trauern" und die Verdrängung von Schuldgefühlen die Erinnerung an zwölf Jahre NS-Herrschaft bestimmten.

Geboren wurde Paul Blumenthal als Sohn des Kaufmanns Moritz Blumenthal in Hannover. Sein Vater führte ein angesehenes Textilgeschäft, seine Mutter Eugenie war eine geborene Dinkelspiel aus Mannheim. 1881 kam seine Schwester Erna, später verheiratete Polak, zur Welt (s. dort), 1882 die zweite Schwester Vera. 1884 folgte der Bruder Walter, der Medizin studierte. Er war wahrscheinlich als Schiffsarzt tätig, bevor er in Koblenz Leitender Arzt in einem Krankenhaus wurde. Seine Frau Annemarie, geb. Schwanebeck, hatte er in einem Lazarett kennengelernt, wo sie als Pflegerin eingesetzt war. Das Paar hatte zwei Kinder, einen 1920 geborenen Sohn und eine 1923 geborene Tochter, später ebenfalls Ärztin. Nach deren Aussage ist Walter Blumenthal 1931 an einer Blutvergiftung gestorben. Er hatte sich während einer Operation infiziert. Seine Familie soll in der NS-Zeit "im wesentlichen unbehelligt” (Zitat des Enkels) geblieben sein.

Die Blumenthals lebten assimiliert, Paul war evangelisch getauft. Menschlichkeit und Gerechtigkeit waren ihm in der Familie als tief verankerte Werte vermittelt worden. Paul sollte das Geschäft des Vaters übernehmen, brach aber eine in Iserlohn begonnene kaufmännische Lehre nach wenigen Wochen ab, kehrte auf die Schule zurück und legte am Gymnasium in Burgsteinfurt das Abitur ab.

1898 begann er das Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, Semester in Berlin und Göttingen folgten. Als er 20 Jahre alt war, starb sein Vater. Nachdem seine Schwester Vera nach der Geburt einer Tochter in Berlin gestorben war, zog Pauls Mutter 1907 dorthin, um Hans Plöger, ihren Schwiegersohn, zu unterstützen. Eugenie Blumenthal zog ihre Enkelin, die ebenfalls Vera hieß, auf und führte den Haushalt. Anfang der 1930er Jahre heiratete Vera Plöger den schwedischen Kaufmann Conny Elmstedt. Eugenie Blumenthal begleitete sie nach Stockholm und lebte dort bis zu ihrem Tod im Juli 1942 in der Familie ihrer Enkelin.

Zurück zu Paul Blumenthals Studium. Vielseitig interessiert, hörte er in seinen letzten Semestern auch historische und staatswissenschaftliche Vorlesungen und besuchte ein Versicherungsseminar. Daneben hatte er Kontakt zum "Nationalsozialen Verein", den der Theologe und Politiker Friedrich Naumann gegründet hatte. "Naumann wirkte stark auf die junge Generation der Jahrhundertwende, besonders auf deren soziale Vorstellungen" heisst es im Lexikon. In diesem Umfeld zeigte sich schon Paul Blumenthals Fähigkeit zum "networking", wie es heutzutage genannt wird. "Freunde gewann er wie selten einer. Die Freundschaft hielt und pflegte er über Jahrzehnte und alle Entfernungen hinweg. Er suchte immer neue Menschen, führte sie mit seinen alten Freunden zusammen und gewann dadurch an Verbindungen und Einfluß, [später] stets alles mit seiner beruflichen Arbeit verbindend", so hieß es in einem Nachruf.

Im Oktober 1901 promovierte Paul Blumenthal in Göttingen. "Der Scheinkaufmann", lautete der Titel seiner Dissertation. Das Thema an sich hatte ihn angeblich nicht interessiert, sondern die Arbeit soll lediglich dazu gedient haben, den akademischen Abschluss zu erwerben. Seine Referendarzeit begann der junge Jurist am Amtsgericht Elze, dann wechselte er nach Winsen an der Luhe. Ab 1906 war er Assessor. Während dieser Zeit kam er in Kontakt mit dem von Pastor Walter Classen gegründeten "Volksheim" im Hamburger Arbeiterviertel Hammerbrook. Hierbei handelte es sich um ein "Haus der offenen Tür" für Jugendliche. Paul bot seine Mitarbeit an und mietete sich im Stadtteil ein Zimmer, in dem er von Sonnabend bis Montag übernachtete. Sonntags war er bei Turnspielen als Schiedsrichter tätig, und "als Wanderführer war er unübertrefflich". Zweifelsohne sammelte Paul Blumenthal dort wertvolle Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu.

Im Winter 1907/1908 ließ er sich beurlauben und unternahm auf eigene Kosten eine Reise durch den Osten und mittleren Westen der USA, um sich über die dortigen straf- und vormundschaftsrechtlichen Einrichtungen für Jugendliche zu informieren. Anscheinend waren in Deutschland Rufe nach einer Reform des bestehenden Systems laut geworden, und Amerika galt als Vorbild. Paul Blumenthal nahm dort an Gerichtsverhandlungen teil, studierte Fachliteratur und führte zahllose Gespräche mit Lehrern, Heimleitern und anderen, die mit der "verwahrlosten Jugend" zu tun hatten. Seine Erkenntnisse verarbeitete er in einem 108 Seiten umfassenden Werk, das unter dem Titel "Was können wir von Amerika bei der Behandlung unserer verwahrlosten und verbrecherischen Jugend lernen?" 1909 in Berlin erschien. Schon dieses Projekt zeugte von dem großen persönlichen Einsatz für seine Arbeit, der sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog. Besonders wichtig war es ihm, ein Vertrauensverhältnis zu den Jugendlichen aufzubauen und auf sie zuzugehen. So gab es für ihn z.B. keinen festen Dienstschluss, damit er auch abends noch Gespräche mit Eltern und Jugendlichen führen konnte. Diese sollten nicht gezwungen sein, für einen Termin bei ihm tagsüber den Arbeitsplatz verlassen zu müssen und dadurch eventuell Schwierigkeiten zu bekommen.

Zum Juni 1910 wurde Paul Blumenthal als Amtsrichter nach Bottrop versetzt. Bis 1914 engagierte er sich dort zudem als sehr aktiver Vorsitzender des Sportvereins VFB 1900.
Im Ersten Weltkrieg diente Paul Blumenthal als Kammerunteroffizier bei der Marine. Einige "Jugendbewegte" unter den Soldaten hatten sich in Ostende/Belgien einen Treffpunkt geschaffen, und er wurde der "Mittelpunkt der Zusammenkünfte". "Auf den ersten Blick sah er in seiner verschlissenen ... Seebatallionsuniform ... besonders unvorteilhaft aus, wie er auch im zivilen Leben auf sein Äußeres in Bezug auf Kleidung wenig Wert legte. Wer aber einen Strahl aus diesen gütigen grauen Augen in dem bärtigen Gesicht aufgefangen, wer seine Freude am Dabeisein erlebt hatte, und wer gar in ein Gespräch mit ihm gekommen war, vergaß ihn nicht mehr", hieß es in einer Rede über ihn auf dem Deutschen Jugendgerichtstag 1959.

Nach Kriegsende ist Paul Blumenthal nach Bottrop zurückgekehrt.

Anfang der 1920er Jahre wurde er in das Preußische Justizministerium nach Berlin berufen. Als Sachverständiger für Vormundschaftswesen und Jugendfürsorge bereitete er zusammen mit einem Kollegen das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt und das Preußische Ausführungsgesetz vor. Als Berater des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages, der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen sowie anderer Fachgremien beeinflusste er später die weitere Entwicklung dieser Rechtsgebiete.

Nach Abschluss der Aufgaben in Berlin bat Paul Blumenthal um seine Rückversetzung in die Praxis. Im November 1925 zog er von Bottrop nach Hamburg um. Er war als Amtsgerichtsrat im preußischen Altona tätig und für das Vormundschafts- sowie das Jugendgericht zuständig. Diese Verbindung seiner Aufgaben sei eine "außerordentlich glückliche Lösung" gewesen, so eine Zeitzeugin. Sie berichtete: "Einmal in der Woche z. B. ging er am Abend über die Reeperbahn und über die Nebenstraßen von St. Pauli ... und sammelte dort gewissermaßen die Jungen und auch ein wenig die Mädchen auf, die auf die schiefe Bahn geraten waren. Es war in Altona bekannt, daß die Polizei nur in den seltensten Fällen einzugreifen brauchte. ... Herr Dr. Blumenthal fuhr jeden Monat einmal zum Wochenende nach Neumünster [wo sich eine Einrichtung der Jugendfürsorge befand] und ließ sich dort die Liste der Jugendlichen zeigen, die in den nächsten Wochen oder Monaten entlassen werden sollten. Er fragte dann: Habt ihr Arbeit ? und kümmerte sich darum, dass sie irgendwie untergebracht wurden."

Paul Blumenthal war unverheiratet und lebte bei seiner Schwester in der Haynstraße 26. Er ging völlig in seiner Arbeit auf. Daneben war er, wie erwähnt, als Berater verschiedener Gremien tätig und hielt Vorträge über Jugendfürsorge an der Volkshochschule. Sowohl unter seinen Zuhörerinnen und Zuhörern dort als auch unter den Referendaren, die er ausbildete, gewann er junge Menschen, die sich für Jugendliche in schwierigen Situationen engagierten und ihnen zur Seite standen. Wiederholt zwangen ihn gesundheitliche Probleme zu Ruhepausen. Mehrmals musste er sich wegen Erschöpfung und Kreislaufstörungen einer Kur unterziehen, so auch im März 1933. Er verbrachte mehrere Wochen in der Heide, "bis seinen Gastgebern energisch nahegelegt wurde, den Juden nicht länger zu beherbergen". Paul Blumenthal trat seinen Dienst wieder an, wurde aber in ein anderes Dezernat versetzt und war nicht länger Vormundschafts- und Jugendrichter. Als Weltkriegsteilnehmer war er vorerst noch von der Entlassung ausgenommen. Ende 1935 erfolgte dann seine Versetzung in den Ruhestand. Der Pensionär schaffte sich einen Hund an und ging mit ihm täglich im Borsteler Moor spazieren. Es scheint so, als ob der früher in der Öffentlichkeit so aktive Mann das Beste aus seiner Situation zu machen wusste. Er unternahm zwei große Schiffsreisen durchs Mittelmeer und um Afrika herum. "Ein reger Verkehr mit den Freunden füllte die Tage und Abende", hieß es in einem Nachruf. "Seiner verständnisvollen und warmherzigen Anteilnahme waren gerade sie sicher. Sein weiser Rat war vielen Hilfe und Trost". Bemerkenswert, dass er, der Entrechtete und Ausgegrenzte, denen, die zur Mehrheit gehörten, beistehen konnte. Warum eine Auswanderung für ihn nicht infrage kam, obwohl Quäker ihm Hilfe anboten? Wegen "der Verbundenheit mit unserem Land, mit den Freunden und das Wissen um den tiefen Schnitt, den jede Emigration bedeutet". Außerdem waren seine Schwester und der taubstumme Schwager finanziell von ihm abhängig. Die drei waren 1939 in die Eppendorfer Landstraße 30 umgezogen.

Der oben zitierten Zeitzeugin hat Paul Blumenthal erzählt, "wie dann, als die Schwierigkeiten während des Krieges sich ergaben, die Lebensmittel rationiert wurden und jüdische Mitbürger nur kleine Rationen usw. bekamen. Gelegentlich lag damals auf dem Balkon seiner Wohnung eine Ladung Fisch, die irgendwelche seiner früheren Schutzbefohlenen ihm hingelegt hatten, weil sie ganz genau wussten, Dr. Blumenthal ist Jude und er kann an der Fischzuteilung nicht teilnehmen."

Vor seiner drohenden Deportation hatte er viele seiner Habseligkeiten an Freunde verschenkt. Seine wertvolle Bibliothek zum Thema Jugendrecht erhielt ein Seminar an der Universität Hamburg.

Auf dem Transport nach Minsk, den er mit Schwester und Schwager antrat, zog sich der 60jährige eine Lungenentzündung zu und verstarb bald nach der Ankunft. So berichtete es einer seiner ehemaligen Referendare, der sich Ende 1941 das Getto zeigen ließ und dabei in einer Baracke zufällig ein Wasserglas mit der Namensaufschrift "Paul Blumenthal" entdeckte. So erfuhr er von dessen Tod, "aber auch, wie Blumenthal seinen Leidensgefährten durch seine souveräne gütige Persönlichkeit ein starker menschlicher Halt gewesen war, sodass sie ihm alle tief nachtrauerten."

Stand November 2014
© Sabine Brunotte

Quellen: 1; 4; StaHH 314-15 OFP, R 1940/89; StaHH 351-11 AfW, 2626;
Jugendrichter Dr. Paul Blumenthal, Auszug aus der Jubiläumsschrift des 11. Deutschen Jugendgerichtstages der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. im Oktober 1959; dtv Lexikon, 1997;
Gilde Soziale Arbeit 1947, Unseren toten Freunden Worte des Dankes; Schicksal Jüdischer Juristen in Hamburg im Dritten Reich, Niederschrift einer Podiumsdiskussion mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen sowie eines Vortrages von Gert Nicolaysen über die Rechtsfakultät der Universität Hamburg 1933, Hamburg 1985, S. 8–10; Bergemann/ Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus, 2004, S. 144 f.; Mosel, Wegweiser, Heft 2, Hamburg 1995, S.12; Auskunft Riksarkivet Schweden, E-Mail vom 2.6.2010; mündliche Auskunft Stadtarchiv Hannover, Telefonat vom 24.8.2010; Auskunft Stadtarchiv Bottrop, E-Mail vom 2.11.2010; schriftliche Auskunft P. Blumenthal, E-Mail vom 30.9.2014.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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