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Max Warisch * 1895

Brahmsallee 16 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1942 Auschwitz ermordet 28.08.1942
1939 Flucht nach Belgien

Weitere Stolpersteine in Brahmsallee 16:
Charlotte Bravo, Ruth Isaak, Hanna Isaak, Michael Isaak, Pauline Isaak, Daniel Isaak, Betty Jacobson, Recha Nathan, Helene Rabi

Max Warisch, geb. am 25.6.1895 in Hamburg, Januar 1939 nach Belgien geflüchtet, Mai 1940 nach Frankreich deportiert, am 28.8.1942 in Auschwitz ermordet

Brahmsallee 16

Verschiedene Zweige der Familie Warisch lebten seit Generationen im Hamburger Grindelviertel in den Straßen Klosterallee, Dillstraße, Hochallee und Brahmsallee.

Für Max Warisch, dem ein Stolperstein vor dem Hause Brahmsallee 16 gewidmet ist, waren die familiären Verbindungen fester Bestandteil seines Lebens und bestimmend für seinen Bildungs- und Berufsweg. Sein Vater, Samuel Warisch, geboren 1853, war Auktionator. Er starb 1938 als Witwer, seine Ehefrau Helene, geborene Wiener, war schon elf Jahre früher, 1927, verstorben. Max war der jüngste ihrer drei Söhne.

Hermann, der Älteste, 1888 geboren, heiratete die sechs Jahre jüngere ebenfalls jüdische Käthe Kessler aus einer begüterten Berliner Familie. Die von Hermann Warisch jr. und seinem Compagnon gegründete offene Handelsgesellschaft Kleve & Warisch für Im- und Export von rohen Tierhaaren lief sehr erfolgreich. Seit 1933 verdrängten jedoch "arische" Konkurrenten die jüdischen Unternehmer; Restriktionen auf dem Devisenmarkt und Schikanen bei der Zollfahndung erschwerten das auf Einfuhrgenehmigungen angewiesene Geschäft so stark, dass Hermann Warisch sich 1935 entschloss, mit seiner Frau und drei Kindern nach Belgien zu emigrieren und zu versuchen, sein Geschäft von Antwerpen aus weiterzubetreiben. Er wohnte dort unter der Adresse Korte Lozana 11.

Der 1890 geborene zweite Sohn von Samuel und Helene Warisch, Jakob, folgte dem beruflichen Beispiel seines Onkels Adolph Warisch, der eine kleine Privatbank betrieb. Jakob absolvierte nach dem Besuch der Realschule eine Lehre bei der angesehenen Bank Warburg, was sich für seine Berufsaussichten günstig auswirkte. Zunächst arbeitete er bei der Firma Adolph Warisch und sammelte Erfahrungen in einer süddeutschen Bank. 1923 ließ er in Hamburg ein eigenes kleines Bankgeschäft ins Handelsregister eintragen. Ein Wagnis, das er im Vertrauen auf die Unterstützung seines reichen Schwiegervaters Jacques Kessler aus Berlin einging, der sein Prokurist wurde. Jakobs Frau Dora war die Schwester von Käthe, der Frau seines Bruders Hermann. Ein fast gleichaltriger Vetter, James Warisch, geboren 1891, knüpfte als Dritter die Bande zwischen den Familien Warisch und Kessler. Trotz des familiären Rückhalts hatte es Jakob Warisch nicht leicht, die Jahre von Finanz- und Wirtschaftskrise durchzustehen. Aber erst nach dem Pogrom vom November 1938 floh er überstürzt, ohne Ausweispapiere und Arbeitserlaubnis, zu seinem Bruder Hermann nach Antwerpen.

Max Warisch wuchs unter ähnlichen Lebensbedingungen auf wie seine älteren Brüder. Nach beendeter Schulzeit absolvierte er eine kaufmännische Lehre in einem Großhandelsgeschäft für Polstermaterialien. Am Ersten Weltkrieg nahm er als einfacher Soldat teil. Danach arbeitete er als Handlungsgehilfe an verschiedenen Stellen, bis er sich 1920 als Inhaber eines eigenen Geschäfts in das Handelsregister eintragen ließ. Obwohl seine Kultussteuerkarte auf ein gutes Einkommen schließen lässt, geriet er schon bald in Verzug mit den Beiträgen an die Handelskammer. Er begründete das Versäumnis damit, dass sein Geschäft keinen Gewinn abwerfe, er auf Angestellte verzichten müsse und fast ausschließlich von Vertretungen lebe. 1929 und 1931 entging er der Liquidation nur, weil sein Geschäft als "unpfändbar" galt. Der "überaus schlechte Geschäftsgang", auf den er sich berief, machte ihm sehr zu schaffen. Auf eine Finanzhilfe aus dem Hause Kessler, wie sie seine beiden älteren Brüder erhielten, konnte er nicht hoffen. Offenbar erlaubten ihm seine prekären ökonomischen Verhältnisse keine Heirat. Die Not des selbstständigen Kleinunternehmers während der späten 1920er-Jahre überdeckte zu Beginn der NS-Herrschaft zunächst die viel größere, noch kaum geahnte Gefahr, die allen Juden drohte. Unmittelbar betroffen war die Verlobte von Max, Hildegard Cohen. 1934 wurde die Lehrerin an der
höheren Mädchenschule Osterstraße als Jüdin aus dem Beruf entfernt. Zur Begründung diente das neu erlassene "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Hildegard musste nun den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter mühsam durch Gelegenheitsarbeiten verdienen. Für Max Warisch wurde die NS-Verfolgung lebensbedrohlich, als er 1938 zusammen mit vielen anderen jüdischen Männern verhaftet wurde, die Nacht vom 10. auf den 11. November als "Schutzhäftling" im berüchtigten Polizeigefängnis Fuhlsbüttel verbringen musste und dann ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert wurde, wo er die Häftlingsnummer 11238 erhielt. Aus den Schilderungen Betroffener ist bekannt, wie gedemütigt und zerschlagen manche Juden nach wochenlanger Haft von dort zurückkamen. Max Warisch wurde am 15. Dezember nach Hamburg entlassen, wo er umgehend seine Flucht vorbereitete. Er hinterließ keine bedeutenden materiellen Werte und hatte keinerlei Garantie, im Ausland Arbeit zu finden. Auf seiner Kultussteuerkarteikarte wurde seine Ausreise mit Ziel "Bolivien" vermerkt, auf der seines Bruders Jakob war als Emigrationsland "Mandschurei" angegeben. Beide Brüder strebten letztlich in die USA. Erste Aufnahme fanden sie bei ihrem Bruder Hermann in der Lozanastraße 11 in Antwerpen.

Belgien war zu der Zeit, als Max Warisch flüchtete, fast das einzige europäische Land, das noch Emigranten aus Deutschland und Österreich aufnahm. Der Flüchtlingszustrom wurde jedoch so groß, dass auch Belgien die Aufnahme stoppte. Nur wer vor April 1939 angekommen war, erhielt eine befristete Aufenthaltsgenehmigung unter der Bedingung, sich um Aufnahme in ein anderes Land zu bemühen. Die Bevölkerung wurde misstrauisch gegenüber Fremden. Man fürchtete Spione unter ihnen und fand, dass sie den Arbeitsmarkt und den sozialen Frieden störten. Die belgische Regierung reagierte nervös, zwischen dem 15.September und dem 15. Oktober 1939 ordnete sie eine Ausländerzählung an. Durch unterschiedliche Ausweise sollten die "unerwünschten" illegalen Fremden von schon länger in Belgien lebenden Emigranten unterschieden werden. Wegen einer eventuellen Übernahme von Ausländern wurden Kontakte zu französischen Behörden hergestellt.

Am 8. Mai 1940 überrollte die deutsche Wehrmacht die neutralen Länder Dänemark und Norwegen und rückte am 10. Mai in die Niederlande und ins ebenfalls neutrale Belgien ein. Schon in den frühen Morgenstunden desselben Tages wurden durch den belgischen Rundfunk alle männlichen Ausländer aufgerufen, sich an bestimmten Punkten einzufinden. In der Mehrzahl waren es "rassisch" verfolgte Juden aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen und politische Gegner des NS-Regimes, die dem Befehl Folge leisteten, ohne zu wissen, was ihnen bevorstand. Tausende von belgischen Polizisten und Gendarmen ergriffen Maßnahmen zur Verhaftung der Versammelten und ihrer anschließenden Abschiebung nach Frankreich. Eisenbahnen wurden für den Transport der Flüchtlinge requiriert, ganze Bahnstrecken dem Verkehr entzogen. Über die Zusammensetzung der Transporte gehen die Angaben auseinander, aus Brüssel und aus Antwerpen seien es je 3000 Internierte gewesen, als Gesamtzahl wurde 10.000 genannt. Der Aufbruch geschah so plötzlich, dass sich die Männer nicht verproviantieren und mit passender Kleidung ausstatten konnten. In der Enge der Waggons war es unerträglich heiß, es gab nichts zu trinken. Beim ersten Sammelpunkt der Reise, dem Stopp an der Grenze in Tournai, begriffen die meisten wohl erst, dass es nach Frankreich ging. Das Ziel war ungewiss. Frankreich fühlte sich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem von Franco beherrschten Spanien wie auch aus Hitler-Deutschland moralisch verpflichtet. Für republikanische Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg waren im Frühjahr 1939 in aller Eile große Auffanglager am Rande der Pyrenäen und am Meer eingerichtet worden. Ihre Ausstattung war äußerst primitiv, aber sie konnten jetzt die Massen aufnehmen, die vor der NS-Verfolgung geflohen waren. Die Bevölkerung sah freilich in den Internierten vor allem deutsche Feinde und begleitete die Transportzüge mit Verwünschungen.

Der Leidensweg von Max Warisch lässt sich anhand von Dokumenten ziemlich genau verfolgen. Der Transport, dem er angehörte, erreichte nicht in direkter Fahrt das endgültige Ziel St. Cyprien am Rand der Pyrenäen. Am 15. Mai 1940 wurden die Männer in ein Lager südlich der Loire, St. Livrade im Departement Lot-et-Garonne, einquartiert. Nichts erinnert heute mehr an das Camp, das noch während des Krieges wieder aufgelöst wurde. Die aus Belgien abgeschobenen Flüchtlinge blieben dort zehn Tage lang und wurden dann in das nahegelegene Lager Villemur verbracht. Betroffenenberichten zufolge waren in diesen Transitlagern Polizisten und Militärs, darunter auch Offiziere, eifrig dabei, sich die letzten Habseligkeiten der Deportierten anzueignen. Am 6. Juni traf Max Warisch mit seiner Gruppe in St. Cyprien ein. Das große Sammellager, auf einer Landzunge zwischen Meer und Brackwasser errichtet, "nichts als Stacheldraht und Leere", bestand aus den Resten des Camps aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Im Mai 1940 stand es fast leer, bis es die aus Belgien deportierten Männer wieder füllten, ja überfüllten. Die Ankommenden wurden in Baracken eingewiesen, die nahezu verfallen waren, keinen Bretterboden hatten und nur mit primitivstem Mobiliar ausgestattet waren.

Die Geschichte dieses Orts wurde erst in jüngerer Zeit historisch untersucht. So wissen wir, dass sich hier fünf aus Hamburg gebürtige Männer mit Namen Warisch befanden: außer den drei Brüdern der 1891 geborene James und aus der jüngeren Generation Hermanns Sohn Alfred, Jahrgang 1922. Ob sie sich hier alle getroffen und vielleicht in der gleichen Baracke gewohnt haben, wissen wir nicht.

Hermannn Warisch beschrieb später das "berüchtigte Lager St-Cyprien", das unter "notorischer Aufsicht der Gestapo" gestanden habe. Bekannt sei es wegen des ständigen Mangels an Trinkwasser und "wegen der unglaublich traurigen sanitären Verhältnisse und der mangelhaften Nahrung der Inhaftierten" gewesen. "Wir hatten absolut nichts zu essen, nährten uns größtenteils von roten Rüben und schlechtem Brot. Was zur Folge hatte, dass viele von uns an Dyssenterie erkrankten, an der leider ein großer Teil der Internierten zu Grunde ging." Das war nicht übertrieben. Die Inhaftierten – von der zuständigen Kommandantur in Perpignan wurde ihre Zahl mit 5065 angegeben – richteten unter dem Datum des 24. Juli 1940 eine Eingabe an das Rote Kreuz, in dem sie die Zustände beklagten: "Das Wasser zum Trinken und zum Zubereiten der Lebensmittel ist ungefiltert, die WC sind auswärts, die Menge der Fliegen ist unerträglich, in den Strohsäcken wimmelt es von Mäusen, Ratten, Läusen, Flöhen und anderem Ungeziefer, die Baracken sind schadhaft und haben zu viele Risse, es fehlt fast ganz an Medikamenten, Desinfektionsmitteln und Hygieneartikeln."

Der deutsche Sieg über Frankreich löste bei den Internierten unterschiedliche Reaktionen aus. Wer vor der Verfolgung der Nazis geflohen war, konnte nur entsetzt sein über den Lauf der Dinge, während es in den Lagern genügend Deutsche gab, die sich von den siegreichen Nationalsozialisten Befreiung erhofften. Im Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 stimmte die französische Regierung zu, alle in französischem Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen unverzüglich den deutschen Truppen zu übergeben (Repatriierung). Das bedeutete, dass auch alle "rassisch" und politisch Verfolgten an die deutsche Reichsregierung ausgeliefert werden sollten. Die deutsche Regierung hatte aber zu diesem Zeitpunkt gar kein Interesse an der Auslieferung von "Juden und Emigranten". Also blieben diese in den Lagern, während Tausende deutscher Staatsbürger – aus St. Cyprien über 1000 Personen – entlassen wurden. Um eine bessere Kontrolle über die ziemlich chaotisch verfügten Entlassungen zu erlangen, erhielt im Juli 1940 eine deutsche Kommission unter dem Legationsrat Ernst Kundt vom deutschen Außenministerium den Auftrag, alle Lager im Süden Frankreichs zu inspizieren und zu sondieren, welche Gefangenen nach Deutschland zurückkehren sollten. St. Cyprien wurde besonders schlecht beurteilt. Auch die parallel stattfindende französische Inspektionsreise kam zu dem Ergebnis, die Baracken in St. Cyprien befänden sich "im Zustand völliger Unbewohnbarkeit". Im Zuge einer Lagerreform wurde nun auch den "rassisch" verfolgten unpolitischen Juden eine Rückkehr freigestellt. Alfred Kantorowicz schrieb in "Exil in Frankreich": "Noch im Jahre 1940 gingen Juden aus dem unbesetzten Teil Frankreichs freiwillig in die deutschen Herrschaftsgebiete zurück, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass es für unpolitische jüdische Flüchtlinge Schrecklicheres geben könnte als das Lager St. Cyprien." Verständlich ist immerhin, dass deutsche Juden versuchten, zu ihren in Belgien zurückgebliebenen Familien zu gelangen. Im Oktober 1940 wurde St. Cyprien aufgelöst und die Insassen ins Lager Gurs am Westrand der Pyrenäen bei Pau verlegt, ein Umzug, der keine Verbesserung brachte.

Hermann Warisch und sein Sohn Alfred mussten ihn nicht mehr mitmachen. Ihnen bot sich eine legale Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Voraussetzung war, dass sie über etwas Geld verfügten und bereits ein gültiges Visum besaßen. Im Besitz einer Anlaufadresse in Marseille und eines "Herberge-Ausweises" (certificat d’hébergement pour Marseille) konnten sie am 20. September St. Cyprien verlassen. Es ist nicht anzunehmen, dass Hermann Warisch bei seiner Entlassung durch eine Hilfsorganisation unterstützt wurde, denn das sehr aktive Comité d’Assistance aux Réfugiés (CAR) wurde, wie auch andere Flüchtlingshilfen, erst später gegründet. Während der großen Welle der Repatriierungen waren kurze Zeit auch andere rechtmäßige Entlassungen aus einem Internierungslager möglich. Allerdings standen Hermann und Alfred Warisch in Montpellier weiterhin unter Polizeiaufsicht, bis sie im Juni 1941 in den Besitz der nötigen Papiere gekommen waren und bis sich die in Antwerpen verbliebene Ehefrau und die zwei Töchter eingefunden hatten. Im Durchreiseland Spanien wartete die Familie noch einmal sechs Wochen, bis sie endlich eine Schiffspassage nach New York bekam. Dort gründete Hermann Warisch das Geschäft mit seinem früheren Partner zum dritten Mal neu.

Dem zweiten Sohn Warisch, Jakob, gelang am 31. Dezember 1940 die Flucht aus dem Lager Gurs. Er lebte zunächst noch an verschiedenen Orten in Südfrankreich unter Polizeiaufsicht. Im Oktober 1942 flüchtete er in die Schweiz, wo er in einem Flüchtlingslager interniert wurde. Er blieb unter Meldepflicht und ohne Arbeitserlaubnis in der Schweiz, bis er 1946 mit seiner Frau und Tochter Ilse von Bilbao aus nach Philadelphia gelangte.

Von den drei Brüdern blieb nur Max im Lager Gurs zurück. Das Lager stand unter Kontrolle der mit Deutschland kollaborierenden französischen Vichy-Regierung. Es war stark überfüllt, denn kurz vor den 3870 Internierten aus St. Cyprien waren 6500 aus Baden und der Pfalz deportierte Juden hier eingetroffen. Die Zustände in Gurs waren unerträglich, auch hier herrschte ständiger Mangel an Wasser, Nahrung und Kleidung. Infolge fehlender Hygiene brachen typhusartige Seuchen aus. Max Warisch lag einige Zeit wegen Gelbsucht im Krankenhaus in Pau. Er hatte keine Familie, die ein wichtiges Motiv für seine Freilassung hätte sein können. Früher hatte er noch ab und zu einen Brief von seiner Verlobten Hildegard Cohen erhalten. Aber ins Hospital wurde keine Post befördert, seit Januar 1941 war Max Warisch fast ganz von der Verbindung nach Hamburg abgeschnitten. Nur sein Vetter, der ebenfalls noch in Gurs interniert war, brachte ihm gelegentliche Nachrichten aus der Heimat. Sie nahmen den Weg über die USA. Diese Kontaktmöglichkeit nutzte nun auch Max Warischs Verlobte Hildegard Cohen. Sie schilderte ihre Erlebnisse und die Lage der Juden in Hamburg ihrer engen Freundin und Kollegin Trude Simonsohn, die mit ihrer Mutter nach New York emigriert war. Und sie bat, den Brief ins Lager Gurs an folgende Adresse von Max weiter zu leiten: "Max Warisch, Ilot (Block) D baraque Va", damit er erfahren konnte, wie es ihr ging. "Schrecklich, dass man gar nichts Näheres von ihm selber weiß", schrieb sie ihrer Freundin. Am Ende jedes an Freundin Trude gerichteten Berichts über die Zustände in Hamburg fügte Hildegard noch einige direkt an Max gerichtete Zeilen an, sodass er in Gedanken ihre Sorgen teilen konnte. Umgekehrt erfuhr Hildegard aus dem Brief, den Max im April 1941 an "Fräulein Trude Simonsohn" gerichtet hatte, dass er von ihr Päckchen bekommen sollte. Hoch erfreut dankte er und bekannte, er könne alles gut gebrauchen: Zucker, Kondensmilch, Konserven aller Art. "Mir geht es den Umständen nach noch zufriedenstellend, trotzdem ich seit dem 11. Mai 1940 bereits das vierte Lager kennengelernt habe. Ich hoffe, dass sich in einiger Zeit meine Lage etwas verbessern wird, da ich evtl. in ein anderes Kamp kommen werde. Außerdem trifft in diesen Tagen mein neues Affidavit ein, wodurch ich ebenfalls Chancen habe, in ein Lager in der Nähe von Marseille zu kommen." Er wartete vergebens.

Vier erhaltene Briefe von Hildegard Cohen an ihre Freundin Trude Simonsohn vom Oktober und November 1941, überliefert von Ursula Randt, erlauben uns einen Einblick in die schicksalhafte Beziehung der beiden Liebenden. Ihre Situation war ähnlich bedrängend und doch so unterschiedlich, dass sie sich nur sehr vage ein Bild von Lage und Stimmung des anderen machen konnten. Max erfuhr, dass Hildegard die verantwortungsvolle Aufgabe der Leitung des jüdischen Waisenhauses übernommen hatte und sich darüber freute. Sie sprach ihr "Liebes Mäxchen" am Ende des Briefes vom 2. November 1941 an: "Die schöne Zeit, die wir hier gemeinsam verlebten, erscheint mir nur noch wie im Traum. Und trotzdem hatten wir damals schon Sorgen, aber sie scheinen einem heute wie ein Nichts." Konnte Hildegard nachempfinden, was es hieß, dass Max in verschiedenen Lagern interniert wurde? Konnte er umgekehrt ermessen, in welcher nervlichen Anspannung Hildegard täglich vergebens auf die sicher zugesagten Ausreisepapiere nach Amerika wartete? Verstand er so gut wie die Freundin in Amerika, was Hildegards Formulierung meinte, dass am 22. Oktober 1941 "so viele meiner Bekannten sehr traurige Post bekamen", und wie zutiefst niedergeschlagen sie war, als ihr Bruder Woldemar im November 1941 "verreisen musste", gefasst darauf, sie und ihre Mutter würden ihm bald in die Deportation folgen? Hildegard ermahnte sich selbst zur Disziplin: "Kopf hochhalten, vor allem für mich, die ich ein Heim zu leiten habe und den Kindern ein Vorbild zu sein habe. Aber wie schwer fällt mir dies manchmal." Die Pflicht hielt sie aufrecht. Wie hätte sie sich in der Hektik übermäßiger Arbeitsbelastung vorstellen können, dass ihr Max unter der Arbeitslosigkeit und dem mühsam eintönigen Einerlei der freudlosen Zeit litt. Wie sie wartete auch er vergebens auf die erlösenden "Papiere". Am 12. November schrieb Hildegard tief deprimiert am Ende ihres Briefes: "Von Dir, mein lieber Max, hörte ich auch schon lange nichts mehr, hoffentlich geht es wenigstens Dir einigermaßen. Wer hätte das gedacht, dass wir noch einmal so getrennt würden, ob wir uns wohl je wiedersehen? Ich bezweifle es. Und trotz allem habe ich Arbeit in Haufen, aber jetzt ist es nicht mehr so, dass die Arbeit einen die Sorgen vergessen lassen, sondern sie übermannen einen so, dass sie einen bei der Arbeit lähmen." Tatsächlich sahen sie einander nie wieder.

Im Sommer 1942 wurde Max Warisch endlich in ein anderes Lager verschickt. Aber es lag nicht in der erhofften Richtung. Auf Hitlers Anordnung sollte die Regierung in Vichy 100.000 Juden nach Deutschland überführen. Dieser Befehl betraf auch Max Warisch. Der Transport ging aus vom Transitlager Les Milles, untergebracht in einer alten Ziegelfabrik bei Aix-en-Provence und erreichte am 13. August 1942 das berüchtigte Sammellager Drancy zwanzig Kilometer nordöstlich von Paris. Von dort wurden insgesamt 65.000 Juden mit der Eisenbahn in die deutschen Vernichtungslager im Osten transportiert. Max Warisch wurde am 19. August 1942 von Drancy nach Auschwitz "überstellt" und dort neun Tage später ermordet. Laut Sterbeurkunde beim Sonderstandesamt Arolsen starb Max Warisch am 28. August 1942 um 23.30 Uhr in Auschwitz, Kasernenstraße, an einem "Herzklappenfehler".

Hildegard Cohen wurde zusammen mit 14 der von ihr betreuten Kinder ungefähr zur gleichen Zeit, am 11. Juli 1942, von Hamburg aus "mit unbekanntem Ziel" deportiert. Der Transport endete in Auschwitz. Ein überlebender Zeitzeuge berichtete: "Ich habe sie selbst mit ihren Kindern noch auf dem Bahnhof Ludwigslust zuletzt gesprochen. Sie fuhr mit den Kindern zusammen und war sehr gefasst, zumal ja auch niemand diese Art des Schicksals von uns geahnt hätte."

Stand: September 2016
© Inge Grolle

Quellen: 1; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 17719 und 17720; StaH 741-4 Fotoarchiv 2/49/15: Auskunft von holocaust resources@yadvashem.org. Residenzliste 11188258_0_1; 64759801_0_1: 65861872_0_1; 658671_0_1; 658670_0_1; 658669_0_1; 658668_0_1; 49550772_0_1; 1188150_0_1; KL GCC/86 Ordner 98, S. 89 Sachsenhausen; Archives des Pyrénées Atlantiques, Kopie der Fiche personelle von Hermann Warisch; Randt, Jüdische Waisenhäuser, in: Wamser/Weinke (Hrsg.), Jüdisches Leben, S. 60–82; Eggers, Unerwünschte Ausländer; Bervoets, La liste de Saint-Cyprien; Klarsfeld, Les Transferts; Sielemann, Zielort, in: Zeitschrift für Hamburgische Geschichte Bd. 95, S. 91–111; Sonderstandesamt Bad Arolsen, Schreiben vom 26.4.2016.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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