Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Selly Baruch * 1874

Parkallee 7 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1942 Theresienstadt
1944 Auschwitz ermordet

Weitere Stolpersteine in Parkallee 7:
Constanze Mathiason

Selly Baruch, geb. am 11.5.1874 in Bad Segeberg, am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt und von dort am 15.5.1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet

Stolperstein Parkallee 7

Will man verstehen, warum Selly Baruch bereits im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ihre Geburts- u. Heimatstadt Bad Segeberg im Alter von 59 Jahren fluchtartig verließ, muss man wissen, dass der Antisemitismus gerade in dieser Kleinstadt auf besonders fruchtbaren Boden fiel.

Der vergleichsweise späte, dafür aber rasante Aufstieg der NSDAP im Kreis Segeberg, der 1925 nur 94 jüdische Bewohner zählte, erfolgte erst Ende der 1920er Jahre. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929, die in der Region zu vermehrten Zwangsversteigerungen führte, galten die "Braunen" fortan als Heilsbringer, während den demokratischen Parteien der Weimarer Republik die Reparationszahlungen und die Missstände angelastet wurden.

Als langjährige politische Wegbereiterin der Nationalsozialisten erwies sich die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Antijüdische Äußerungen und Übergriffe häuften sich. Am 27. August 1929 schließlich gründete sich während einer Versammlung der NSDAP im "Hotel Germania" – Juden war der Zutritt verboten – deren Ortsgruppe Bad Segeberg. Konnte die Partei bei der Reichstagswahl im September 1930 im Kreis Segeberg bereits mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen gewinnen, stieg dies im November 1932 schon auf knapp 68 Prozent. Eine Gegenkraft war de facto nicht vorhanden. Der vierte Sohn von Kaiser Wilhelm II, Prinz August Wilhelm von Hohenzollern, ein hoher SA-Führer, der gern den Kurort Bad Segeberg besuchte, sah 1932 dort sogar ein "Stück Hitler-Land". Zu dieser Zeit ereigneten sich auch die ersten Gewalttaten gegenüber jüdischen Geschäftsleuten. Als am 30. Januar 1933 ein Fackelzug durch Bad Segeberg marschierte, wurden Geschäfte geplündert. Das "Segeberger Kreis- und Tagblatt" wusste zu berichten, dass jene "dem Volkszorn zum Opfer gefallen" seien.

Der zügigen Gleichschaltung von Institutionen des öffentlichen Lebens folgte am 1. April 1933 der Aufruf zum Boykott der jüdischen Geschäfte in der Stadt, von der lokalen Presse als "Abwehrkampf" bezeichnet. Die NSDAP agitierte gezielt gegen die teils persönlich und namentlich bekannte jüdische Bevölkerung, vormals Nachbarn und Geschäftspartner. Konfrontiert mit eskalierender Gewalt und Hetze versuchten viele Segeberger Jüdinnen und Juden – so auch Selly Baruch – jener bedrohlichen Lage zu entfliehen und in der Anonymität der Großstädte eine schützende Zuflucht zu finden. Eine trügerische Hoffnung.

Selly Baruch war am 11. Mai 1874 in Bad Segeberg geboren worden. Die Spuren ihrer Vorfahren lassen sich bis in die Zeit der Mitte des 18. Jhdts zurück verfolgen, als sich die ersten jüdischen Bewohner in Segeberg ansiedelten. Ihr Urgroßvater Jacob Baruch und seine Ehepartnerin hatten zwei Kinder, Tochter Zwicka Cäcilie (geb. 14.2.1789 in Segeberg, gest. 31. Oktober 1864 in Segeberg) und Sohn Levin (Levy), der am 6.6.1797 dort geboren worden war. Der Volkszählung von 1835 ist zu entnehmen, dass Levin Baruch, von Beruf Lederhändler, einen Ladenhandel in der Lübecker Straße 61 in Segeberg betrieb. Seit dem 12. Oktober 1831 war er mit Sara (Särchen) Samuel verheiratet, die in Lübeck-Moisling zur Welt gekommen war. Sie engagierte sich bei der Sterbegilde Segeberg als Kassiererin. Sellys Großeltern väterlicherseits verstarben beide in Segeberg, der Großvater am 29. Mai 1846, ihre Großmutter im Jahr 1871.

Aus der Ehe von Levin und Sara Baruch gingen sieben Kinder hervor. Sohn Samuel Levin erblickte am 15.1.1834 in Segeberg das Licht der Welt. Von 1862 - 1866 übte er als Kultusbeamter den Beruf eines Religionslehrers im mecklenburgischen Gadebusch aus. Hier lernte er die am 13.3.1841 in Gadebusch geborene Clara Lindenberg kennen. Am 30. Dezember 1863 schlossen sie dort den Bund der Ehe. Im Jahr 1866 zog das Paar nach Segeberg, wo Samuel Levin weiterhin das Amt des Kultusbeamten bekleidete und seiner bisherigen Tätigkeit als Religionslehrer nachging.

1892 eröffneten Samuel Levin und Clara in ihrem Wohnhaus in der Kurhausstraße 31 die Pension Baruch, in der sie koschere Kost anboten. Dort gab es einen "Mittagstisch, zu dem orthodoxe Kreise Zutrauen haben", wusste Oberrabbiner Lerner der "Hochdeutschen Israelitengemeinde Altona"zu berichten. Kleinere Gemeinden, so auch Segeberg, verfügten aus Gründen der Kostenersparnis meist nicht über einen eigenen ortsansässigen Rabbiner. Dessen Aufgabenbereiche fielen dann in den Verantwortungsbereich des Kultusbeamten, der somit drei Berufe in sich vereinte. Neben dem Religionsunterricht hatte er zudem das Kantorat inne und die Schechita (Schächtung). Letzterer Part, essentiell für die Vorhaltung koscheren Essens, galt als wenig beliebt und gern wurde hier das Zitat von Direktor Holzmann des Berliner Lehrerseminars bemüht: "Für den Mann im Lehrerstande – passt nicht das Messer im Gewande".
Sellys Vater Samuel Levin verstarb am 30. August 1898 in Segeberg.

Selly, das siebte Kind ihrer Eltern, hatte elf Geschwister. Es war ihr jedoch nicht vergönnt, ihnen allen persönlich zu begegnen, denn ihre Brüder Luis, geboren am 29.11.1863 in Gadebusch, der am 16.5.1865 ebenfalls dort geborene Isidor wie auch Bernhard, geb. am 6.3.1873 in Segeberg, starben im Säuglingsalter. Auch drei Schwestern starben jung: Frieda, geb. 1876 in Segeberg mit 12 Jahren, Emmy, geb. 1878 in Segeberg mit zehn Jahren und Bertha, geb. 1880 in Segeberg mit acht Jahren.

Ihre anderen Geschwister erreichten das Erwachsenenalter: Auguste, geb. 5.2.1867 in Segeberg, später Inhaberin eines Modegeschäfts (gest. 3.1.1938 in Hamburg), Anna, geb. 13.3.1869 in Segeberg (ermordet im Vernichtungslager Chelmno), Julius, geb. 3.4.1871 in Segeberg (später Kaufmann, gest. 1934 in Berlin), Siegfried, geb. 11.3.1883 in Segeberg (am 3.2.1943 nach Auschwitz, dort ermordet) und Paula, geb. 14.10.1886 in Segeberg (am 15.5.1944 nach Auschwitz, dort ermordet).

Selly feierte am 7. April 1889 ihre Bat Mitzwa. 1925 übernahm sie die Pension ihrer Mutter Clara, ein Jahr bevor diese 1926 im Alter von 85 Jahren in Bad Segeberg verstarb. Der Tradition verpflichtet, kochte sie ebenfalls rituell und bereitete koschere Speisen zu, welche bei den jüdischen Kurgästen großen Anklang fanden. Anlässlich ihres 135-jährigen Bestehens richtete die Segeberger Sterbegilde 1927 zum Gedenken an die Verstorbenen und Gefallenen des Ersten Weltkrieges in der Pension Baruch ein Festessen aus.

1933 befanden sich lt. Volkszählung noch 32 jüdische Einwohner in Bad Segeberg.
Die meisten verließen angesichts der Drangsalierungen und Gewalt und auch infolge des Boykottaufrufs vom 1. April 1933 - "Kein Deutscher kauft noch beim Juden!" die Stadt. Viele verlagerten ihren Wohnsitz nach Hamburg wie die ledig und kinderlos gebliebene Selly Baruch.

Seit dem 1. November 1933 war sie in der Parkallee 7 in Hamburg-Harvestehude gemeldet. Dort mietete sie für eine Jahreskaltmiete von 1752 RM eine 7½ Zimmerwohnung in der ersten Etage links mit eigenem Telefonanschluss an. Hier baute sie, wie schon zuvor in der Segeberger Kurhausstraße, einen Pensionsbetrieb mit koscherer Küche auf. Nach dem Krieg bezweifelte der Hamburger Landesverband des Gaststätten- und Hotelgewerbes, dass sie eine Pension geführt habe und vermutete, es sei "lediglich eine gewerbliche Zimmervermietung" gewesen. Dafür reichte ein Gewerbeschein, sie musste keine Konzession erwerben. Tatsächlich meldete sie das Gewerbe zur Zimmervermietung erst am 19. Januar 1940 an und erhielt die Genehmigung, verbunden mit der Auflage, Zimmer ausschließlich an Juden zu vermieten, wie die Zentralgewerbekartei des Amtes für Wirtschaftsordnung festhielt.
In der Hausmeldekartei der Parkallee 7 wird Selly als "Haushaltsvorstand" vermerkt .
Ihre Kultussteuerkarte – der Beitritt zur Jüdischen Gemeinde erfolgte am 18. August 1937 – bescheinigt Selly Baruch lediglich mäßige bis keine zu
versteuernden Einnahmen.

Aus der Hausmeldekartei wird ersichtlich, dass Sellys Schwester Anna, die am 11. September 1906 in Segeberg den Kaufmann Ernst Beer (geb. 8.9.1881 in Märkisch Friedland, ermordet am. 8. September in Chelmno) geheiratet hatte, zusammen mit ihrer Tochter Gisela (geb. 8.2.1913 in Segeberg – ebenfalls ermordet in Chelmno) über die Jahreswende 1939 in der Parkallee 7 zu Besuch war. Auch ihre Schwester Auguste nahm sie auf, bevor diese am 3. Januar 1938 im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg verstarb.

Sellys Schwester Paula hatte ihren Wohnsitz ebenfalls nach Hamburg verlagert. Ihre erste Adresse lautete Kielortallee 25. Hier heiratete sie am 28. Dezember 1937 in zweiter Ehe den am 5.5.1879 in Hamburg geborenen Kaufmann Berman Levy. In erster Ehe war sie mit dem Kaufmann Friedrich Brandl (geb. 3.1.1889 in Frankfurt am Main) verheiratet gewesen, der von Segeberg nach Hamburg gezogen und mit nur 26 Jahren am 1. Juni 1915 in der Privatklinik Wünsch im Mittelweg 144 verstorben war.

Auch für Berman war es die zweite Eheschließung, nachdem seine am 24. Juli 1904 mit Minna Heymann in Friedrichstadt geschlossene erste Ehe am 24. März 1936 geschieden worden war. Zur Zeit der Volkszählung vom 17. Mai 1939 lebte das Ehepaar in der Moltkestraße 1 (Generalstabsweg).

Seit dem 25. Februar 1942 lebte Selly in der Kielortallee 22, ein "Judenhaus". Da sie älter als 65 Jahre war, wurde sie von den Deportationen 1941 zurückgestellt und für den ersten Hamburger Transport nach Theresienstadt am 15.7.1942 vorgesehen. Der Vermerk auf der Kultussteuerkarte "ausgeschieden durch Abwanderung" beschloss ihre Mitgliedschaft.

Der Sondertransport der Deutschen Reichsbahn, der die Bezeichnung "VI/1" erhielt und dem 926 Personen angehörten – darunter Selly Baruch, ihre Schwester Paula, und ihr Schwager Berman – verließ den Hannoverschen Bahnhof Richtung Theresienstadt und erreichte die kleine böhmische Stadt einen Tag später. 1943 wurden 23 Menschen dieses Zuges nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 124 Personen folgten im Jahr darauf.
Während Berman Levy die unmenschlichen Bedingungen in Theresienstadt nicht überlebte (gest. 4. Mai 1944), befanden sich auch Selly und Paula auf jenem Transport "Dz", ein verschleiernd "Arbeitseinsatztransport" genannter Todeszug, der am 15. Mai 1944 2503 Insassen in das Vernichtungslager brachte. Dieser und zwei weitere Transporte nach Birkenau am 16. und 17. Mai mit jeweils 2500 Menschen sollten das hoffnungslos überfüllte Lager für den Besuch des Internationalen Roten Kreuzes ansehnlicher machen.

In Auschwitz wurden Selly Baruch und Paula Levy wahrscheinlich sofort ermordet. Sie wurden auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt.


Mein besonderer Dank gilt Herrn Erich Koch, Schleswig, für dessen freundliche Unterstützung.

Stand: April 2018
© Michael Steffen

Quellen: 4; 5; StaH 351-11 2549 Amt für Wiedergutmachung; 332-8 A51 Meldewesen Film Nr. 4227; 522-1, 128 Bd. 29; Adressbücher Hamburg 1935–1942; JSHD Foschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein", Datenpool Erich Koch, Schleswig; Bettina Goldberg "Abseits der Metropolen – die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein",Neumünster 2011, Seiten 148, 581; Gerhard Paul, Miriam-Gillis Carlebach (Hrsg.) "Menora und Hakenkreuz", Neumünster 1998, Seiten 185f., 331ff.; Helge Buttkereit "Verdrängen, Vergessen, Erinnern", Bad Segeberg 2017, Seiten 14ff., 115ff.; Alfred Gottwaldt, Diana Schulle "Die ,Judendeportationen’ aus dem Deutschen Reich 1941–1945", Wiesbaden 2005, Seiten 298, 430f.; www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/lerner-maier, zugegriffen am 28.2.2018.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang