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Bereits verlegte Stolpersteine



Siegfried Findelkind * 1943

Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik) (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


SIEGFRIED
(FINDELKIND)
JG. 1943
ERMORDET 9.10.1944

Weitere Stolpersteine in Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik):
Andreas Ahlemann, Rita Ahrens, Ursula Bade, Hermann Beekhuis, Ute Conrad, Helga Deede, Jürgen Dobbert, Anneliese Drost, Rolf Förster, Volker Grimm, Antje Hinrichs, Lisa Huesmann, Gundula Johns, Peter Löding, Angela Lucassen, Elfriede Maaker, Renate Müller, Werner Nohr, Harald Noll, Agnes Petersen, Renate Pöhls, Gebhard Pribbernow, Hannelore Scholz, Doris Schreiber, Ilse Angelika Schultz, Dagmar Schulz, Magdalene Schütte, Gretel Schwieger, Brunhild Stobbe, Hans Tammling, Peter Timm, Heinz Weidenhausen, Renate Wilken, Horst Willhöft

Kinderkrankenhaus Rothenburgsort

Im früheren Kinderkrankenhaus Rothenburgsort setzten die Nationalsozialisten ihr "Euthanasie-Programm" seit Anfang der 1940er Jahre um.
33 Namen hat Hildegard Thevs recherchieren können.

Eine Tafel am Gebäude erinnert seit 1999 an die mehr als 50 ermordeten Babys und Kinder:

In diesem Gebäude
wurden zwischen 1941 und 1945
mehr als 50 behinderte Kinder getötet.
Ein Gutachterausschuss stufte sie
als "unwertes Leben" ein und wies sie
zur Tötung in Kinderfachabteilungen ein.
Die Hamburger Gesundheitsverwaltung
war daran beteiligt.
Hamburger Amtsärzte überwachten
die Einweisung und Tötung der Kinder.
Ärzte des Kinderkrankenhauses
führten sie durch.
Keiner der Beteiligten
wurde dafür gerichtlich belangt.



Weitere Informationen im Internet unter:

35 Stolpersteine für Rothenburgsort – Hamburger Abendblatt 10.10.2009

Stolpersteine für ermordete Kinder – ND 10.10.2009

Stolpersteine gegen das Vergessen – Pressestelle des Senats 09.10.2009

Die toten Kinder von Rothenburgsort – Nordelbien.de 09.10.2009

35 Stolpersteine verlegt – Hamburg 1 mit Video 09.10.2009


Wikipedia - Institut für Hygiene und Umwelt

Gedenken an mehr als 50 ermordete Kinder - Die Welt 10.11.1999

Euthanasie-Opfer der Nazis - Beitrag NDR Fernsehen 29.05.2010

Hitler und das "lebensunwerte Leben" - Andreas Schlebach NDR 24.08.2009
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Siegfried, geb. 1943 vermutlich in Hamburg, ermordet am 9.10.1944

Siegfried war ein Findelkind. Die Umstände, unter denen er als Neugeborener oder als Säugling gefunden wurde, sind nicht bekannt. Vermutlich ging er im Juli/August 1943 während der Zerstörung großer Teile Hamburgs durch die Luftangriffe verloren.

Siegfried wurde mit der Perspektive einer Adoption einem Ehepaar in Langenhorn in Pflege gegeben und nach seinem Pflegevater benannt; er erhielt einen Amtsvormund. Die Pflegeeltern blieben in Kontakt mit den Einrichtungen, in die Siegfried in der Folgezeit eingewiesen wurde. Die erste war das private Hamburger Säuglingsheim in der Hochallee 1. Von dort wurde er durch dessen Leiter, Ludwig Gmelin, in die damaligen Alsterdorfer Anstalten überwiesen.

Siegfried war bei seiner Aufnahme in Alsterdorf am 16. März 1944 vermutlich eineinhalb Jahre alt, wie aus seiner körperlichen Entwicklung geschlossen wurde. Auffällig waren seine stark vorgewölbte Stirn und die noch weit geöffnete große Fontanelle, die sich normalerweise um das erste Lebensjahr schließt. Er reagierte nicht auf Geräusche, seine Pupillen veränderten sich nur ganz wenig bei wechselndem Licht, und ob er überhaupt sehen konnte, ließ sich nicht sicher feststellen. Seine Arme und Beine blieben meist gebeugt, er konnte den Kopf nicht heben und nicht sitzen. Siegfried wirkte "völlig blöde", reagierte auf nichts und stieß während der Untersuchung fast ununterbrochen ein wimmerndes Geschrei aus. Der Arzt schätzte sein "subjektives und körperliches Befinden" als "ausreichend" ein und stellte die Diagnose "Idiotie (Hydrocephalus/Wasserkopf)".

Siegfrieds Ernährung machte große Schwierigkeiten, denn von der eingeflößten Milchsuppe behielt er nur wenig bei sich. Im April 1944 erkrankte er an Windpocken und kam auf die Krankenstation, wo er auch nach seiner Genesung verblieb. Die Person auf dem Foto, die Siegfried hält, ist ein "Hilfsmädchen", eine Patientin in Schwesterntracht, jedoch ohne Haube. Sie lebte nach dem Zweiten Weltkrieg noch viele Jahre in Alsterdorf.

Der Schriftverkehr in den Unterlagen beginnt sieben Wochen nach Siegfrieds Aufnahme und endet mit seiner Verlegung in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort am 5. September 1944. Er gibt Aufschluss darüber, wer wann über Siegfrieds Schicksal entschied: Am 4. Mai 1944 holte der Amtsvormund Fischer vom Jugendamt, das die Kosten für Siegfrieds Unterbringung und Behandlung trug, Angaben zum Personenstand und dem vermutlichen Ort und Tag seiner Geburt ein. Der leitende Arzt Gerhard Schäfer teilte eine Woche später mit, das Findelkind sähe aus, als ob es 1½ Jahre alt wäre. Er fügte hinzu: "Es hat einen Wasserkopf und ist völlig idiotisch."

Acht Wochen später, am 1. Juli 1944, forderte das Gesundheitsamt Hamburg die Krankengeschichte des Kindes an; das Aktenzeichen verwies auf den "Reichsausschuss", irgendwer hatte Siegfried bereits im Mai 1944 gemeldet. Schon Anfang Juni kündigte der "Reichsausschuss" Wilhelm Bayer die Einlieferung von Siegfried an. Auch Hans Grieve, Obermedizinalrat im Gesundheitsamt Hamburg und Leiter der 1942 als selbstständige Abteilung eingerichteten Beratungsstelle für "Erb- und Rassenpflege" beim Gesundheitsamt Hamburg, Graumannsweg 17, wurde einbezogen. Nach weiteren zwei Monaten ordnete er Siegfrieds Verlegung von Alsterdorf nach Rothenburgsort an. (1948 begründete er dies damit, der Amtsvormund habe einen entsprechenden Antrag gestellt. Es sei reiner Zufall gewesen, dass er Siegfried habe nach Rothenburgsort verlegen lassen, er hätte ebenso gut in das Säuglingsheim Hochallee oder in die Altonaer Kinderklinik eingewiesen werden können. Er stritt ab, dass der "Reichsausschuss" involviert gewesen sei.)

Am 5. September 1944 wurde Siegfried im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort aufgenommen und auf der chirurgischen Station untergebracht. Die Ärztin, Lotte Albers, die ihn untersuchte, beschrieb ihn als einen etwa zweijährigen Jungen mit großem Kopf und kleinem Körper, dessen Körperlänge und -gewicht unter der Norm lagen. Der sonstige Befund deckte sich mit dem in Alsterdorf erhobenen. Sie fügte hinzu, dass er am Daumen lutsche. Ihre Diagnose ging über die frühere hinaus, hatte sie doch außer "Hydrocephalus und Idiotie" noch Blindheit und Taubheit festgestellt. Auf ein Gespräch mit den Pflegeeltern oder dem Amtsvormund über die mögliche "Behandlung" fehlt jeder Hinweis. In den viereinhalb Wochen seines Aufenthalts im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort wurden an Siegfried etliche sehr eingreifende und quälende Untersuchungen vorgenommen, darunter zwei Encephalographien (s. Erläuterungen), die erste zwei Tage nach seiner Aufnahme, die zweite elf Tage später. Aus den Ergebnissen wurde auf eine Unterentwicklung des Gehirns geschlossen. Die Pflegeeltern wurden erst eine Woche nach der Verlegung informiert.

Die ärztliche Versorgung wechselte von Lotte Albers zu Ingeborg Wetzel, die weitere belastende Untersuchungen, die letzte am 2. Oktober, durchführte, deren diagnostischer oder therapeutischer Wert nicht erkennbar ist. Am frühen Morgen des 9. Oktober starb Siegfried. Ingeborg Wetzel hatte ihm unter Assistenz der Stationsschwester Martha Müller die Luminal-Spritze verabreicht.

Zwischen Siegfrieds Tod und der Meldung durch das Kinderkrankenhaus an das Standesamt vergingen acht Tage. In dieser Zeit wurde Siegfrieds Körper von Josef Heine im AK St. Georg seziert und das Gehirn histologisch untersucht. Der Befund mit der Sektions-Nr. 778 ging am 26. Oktober 1944 im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort ein.

© Hildegard Thevs

Quellen: Archiv der Ev. Stiftung Alsterdorf, V 261, Kopie der Originalakte im StaH 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2000/1, 26; StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht – NSG, 0017/002; 332-5 Standesämter, 1237+338/1944.

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