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Hertha Lüdeking * 1904

Billhorner Mühlenweg 19 (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


HIER WOHNTE
HERTHA LÜDEKING
JG. 1904
DEPORTIERT 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET
26.6.1944

Weitere Stolpersteine in Billhorner Mühlenweg 19:
Richard Bähre

Hertha Lüdeking, geb. 4.8.1904 in Hamburg, gestorben am 26.6.1944 in der "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt" der Stadt Wien

Billhorner Mühlenweg 19 c, Eingang zum Spielplatz (Hardenstraße 6)

Hertha Lüdeking wurde als erstes von fünf Geschwistern in Rothenburgsort geboren, das damals noch zur Landherrenschaft Marschlande gehörte. Es war eine Zangengeburt. Sie wurde mit drei Monaten am 6. November 1904 in der St. Thomas-Kirche getauft. Zwei ihrer Geschwister starben früh an "Lebensschwäche".

Erstmals im Alter von 1 ½ Jahren erlebte Hertha Lüdeking einen Krampf, seit dem dritten Lebensjahr stand fest, dass sie an Epilepsie litt. Ihre Entwicklung war und blieb verzögert. Mit sieben Jahren brachten ihre Eltern, der Maschinist Ludwig Lüdeking und seine Ehefrau Minna, geb. Niek, sie in den damaligen Alsterdorfer Anstalten unter, weil sie keine Schule be­suchen konnte und wegen ihrer Unruhe schwer zu beaufsichtigen war.

In den zehn ersten Jahren ihres Aufenthalts in "Alsterdorf" durchlebte sie schwere Infektionskrankheiten, nahm weder am Unterricht noch an irgendwelchen Arbeiten teil. Zeitweilig konnte sie sich nicht allein bewegen, blieb liegen und sprach vor sich hin, ohne Beziehung zu ihrer Umgebung aufzunehmen. Zu anderen Zeiten jedoch tanzte und hüpfte sie gewandt. Ihre Angehörigen besuchten sie häufig und holten sie besuchsweise nach Hause. Als ihr Vater Ludwig Lüdeking bei der Kaiserlichen Marine diente und dem Kommando der I. Abteilung der II. Werft-Division in Wilhelmshaven zugewiesen war, erhielt er Weihnachten 1917 Urlaub, um seine Tochter zu sehen.

In den zwanziger Jahren veränderte sich Herthas Verhalten kaum. Sie war inzwischen ausgewachsen, 142 cm groß und wog 54 kg. Die Ursache für ihre Probleme blieb zweifelhaft, die Ärzte gingen von einer Fehlfunktion der Hypophyse aus, der zentralen Hormonsteuerung.

1931 wurde Hertha Lüdeking selbstständiger. Sie zog sich mit Hilfe an, aß allein, sprach, hielt sich sauber, kannte ihre Umgebung und nannte sich selber "Augenstern, süße Deern" oder "Augenstern, Geburtstagskind, alle Glocken läuten, alle Kinder gelacht". Sie regte sich leicht auf, wenn ihr jemand zu nahe kam, und benutzte dann "sehr hässliche Ausdrücke". Am liebsten spielte sie auf ihrer Mundharmonika. Nach einer Bronchitis stellte sich der Verdacht auf Tuberkulose ein, ein Jahr später erholte sie sich nur langsam von einer Lungenentzündung. Als sie Anfang Dezember 1932 wieder einmal am Fenster saß und interessiert hinaussah, wurde sie gefragt, was sie dort sehe. "Zeppelin kommt geflogen, hoch am Himmel über Nacht, hat die Bombe in der Gondel, schmeißt sie runter, dass es kracht", sang sie als Antwort. Tatsächlich flogen öfter Zeppeline über Hamburg.

Inzwischen 28 Jahre alt, teilte Hertha Lüdeking morgens die Kleidung der Kinder aus und versuchte dabei, ihre Namen zu nennen. Im Sommer wurde erstmals beobachtet, dass sie sich an etwas rückerinnerte: Sie spielte mit einer Holzperle, als sie einen Krampfanfall erlitt. Nachdem er abgeklungen war, ging sie an den Ort zurück und spielte weiter mit der Perle. Sie sang viel, kannte viele Lieder und lebte in gutem Einvernehmen mit ihren Kameradinnen. Ihr Gewicht stieg auf 75 kg.

Mitte der 1930er Jahre zeigte Hertha zunehmend aggressives Verhalten und schaffte es, obwohl sie angegurtet war, nach draußen zu flüchten. Schon einmal zuvor, 1921, hatte sie enorme Energien entwickelt, als es ihr trotz einer "Schutzjacke" gelungen war, Bettzeug und Stiefel zu "zerpflücken". 1940 wurde sie pflegebedürftig und sollte in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt werden, was jedoch unterblieb.

Am 16. August 1943 wurde Hertha Lüdeking zusammen mit 227 anderen Frauen und Mädchen in die "Wagner von Jauregg-Heil-und Pflegeanstalt der Stadt Wien", den ehemaligen "Steinhof", transportiert. Ihr Elternhaus war inzwischen zerstört, eine neue Anschrift der Eltern hatte sie nicht erhalten. Bei der Aufnahme in Wien wirkte sie auf das Personal teilnahmslos und desorientiert, sprach wenig, weinte ab und an, erwies sich aber als weniger pflegebedürftig als zuvor. Sie erlitt auch nur selten einen Anfall. In den folgenden Monaten verlor sie ständig an Gewicht. Als sie im Juni 1944 an starken Durchfällen erkrankte, wurde extra vermerkt, dass sie abmagerte, was ein Ergebnis der Hungerrationen war.

Der Akteneintrag an ihrem Todestag, dem 26. Juni 1944, besagt, dass eine "Enterocolitis", eine Dünn- und Dickdarmentzündung, die Todesursache gewesen sein soll. Der Sektionsbefund wies dagegen eine Lungenembolie infolge einer Venenentzündung im rechten Bein aus. Er hielt auch fest, was angesichts eines Gewichts von 32 kg bei 142 cm Größe zynisch klingt: graziles Skelett, rückgebildete Muskulatur, spärliches Unterhautfett. Hertha Lüdeking, die 40 Jahre alt geworden war, wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.

Offenbar entstand während Hertha Lüdekings Aufenthalt in Wien keine neue Verbindung zu ihren Angehörigen in Hamburg. Die Direktion der Anstalt "Steinhof" verständigte die Leitung der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten von Herthas Tod, die daraufhin Minna Lüdekings Adresse nach Wien schickte. Die Mutter erhielt im 11. Juli 1944 ein Schreiben, das über Herthas Ergehen von ihrer Ankunft in Wien bis zu ihrem Tod Auskunft gab.

© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 160; Jenner, Meldebögen; Wunder, Abtransporte; ders., Exodus.

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