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Bereits verlegte Stolpersteine



Lucie und Cuddl Suhling am Gartentor Wattkorn 7
Lucie und Cuddl Suhling am Gartentor Wattkorn 7
© Privatbesitz

Carl Suhling * 1904

Wattkorn 7 (Hamburg-Nord, Langenhorn)


HIER WOHNTE
CARL SUHLING
JG. 1904
VERHAFTET 1933
’VORBEREITUNG ZUM HOCHVERRAT’
KZ FUHLSBÜTTEL
1943 STRAFBATAILLON 999
HINGERICHTET MÄRZ 1945
BEI SARAJEVO

Siehe auch:

Carl Suhling, geb. am 26.9.1905 in Hamburg, von 1933 bis 1939 mehrmals im Konzentrationslager Fuhlsbüttel inhaftiert, von 1943 bis 1945 im Strafbataillon 999, umgekommen im März 1945 in Jugoslawien

Wattkorn 7

Am 23. März 2011 wurde auf Vorschlag der "Willi-Bredel-Gesellschaft. Geschichtswerkstatt e. V." in Hamburg-Nord, ein Stolperstein zum Andenken an Carl Suhling vor dem Hause Wattkorn 7 verlegt.

HIER WOHNTE 1928 – 1945
CARL SUHLING
JG. 1904
1933 – 1939 DREIMAL KOLA FU
WEGEN "VORBER. ZUM HOCHVERRAT"
1943 – 1945 STRAFBATAILLON 999
HINGERICHTET MÄRZ 1945
BEI SARAJEVO

Die Eltern von Carl Suhling, der "Schriftgießer Carl Friedrich Peter Suhling, wohnhaft in Hamburg, Fuhlsbütteler Straße 280 und seiner Ehefrau Wilhelmine Friederike Sophie Suhling, geborene Kümmerle, beide evangelischer Religion", zeigten an, "dass am sechsundzwanzigsten September des Jahres tausendneunhundertundvier nachmittags um zwölf ein halb Uhr ein Knabe geboren sei und dass das Kind den Vornamen Carl erhalten habe." So steht es in der Geburtsurkunde. Carl war das jüngste Kind des Ehepaars Suhling und der lang ersehnte "Stammhalter". Seine vier älteren Schwestern Anna, Emmi Marie, Olly (Olga) und Dora (Dorothea) waren noch im 19. Jahrhundert geboren. Der kleine Carl – von seiner Familie "Kalli" genannt – verlebte seine Kindheit und Jugend in Barmbek. Die Familie bewohnte die Hälfte eines Doppelhauses. (Das Gebäude wurde Anfang der 1930er Jahre abgerissen.)

Als "Kalli" neun Jahre alt war, wurde sein Vater als Sanitäter an die Front befohlen, überlebte den Ersten Krieg schwer verwundet: Er war fast blind. Anfang 1918 starb Kallis Mutter. Diese beiden folgenschweren Begebnisse erschütterten die Familie. Ganz besonders schwer trafen sie Kalli, der beim Tod seiner Mutter erst 13 Jahre alt war.

Kalli war ein sehr guter Schüler, erhielt mehrere städtische Auszeichnungen für seine Leistungen in Mathematik und anderen naturwissenschaftlichen Fächern. Im Frühjahr 1919 beendete er die Schule. Gern hätte Kalli seine Ausbildung an einer weiterführenden Einrichtung fortgesetzt, aber sein Vater war durch seine schwere Verwundung erwerbsunfähig. Kalli begann eine Schlosserlehre, die er 1922 beendete.

Nach dem Tod von Kallis Mutter herrschten im Hause Suhling unerfreuliche Verhältnisse. Kalli hatte einmal – um seinen Hunger zu stillen – von dem wenigen Essen genommen, das die Familie nach dem Kriege hatte. Die Vorräte wurden vor dem Jungen weggeschlossen. Ende 1922 – mit 18 Jahren – war er körperlich und seelisch in einem hoffnungslosen Zustand. Doch dann hatte er Glück: Der Nachbar, Kapitän Tode, war für einige Zeit an Land. Er sah den hilfsbedürftigen Jungen und nahm sich seiner an: "De Jung verhungert mijo to Hus, ick nehmem mit op See!" Und so begann Kallis Seefahrtszeit: Er begann als Messraum-Junge ohne Heuer, dann wurde er Junge, Jungmann, Leichtmatrose und Matrose. Aus dem Kalli der Kindheit wurde der Seemann "Cuddl". Von 1923 bis 1928 heuerte er auf verschiedenen Dampfschiffen an, lernte nicht nur deutsche Häfen, sondern einen großen Teil der Welt kennen: das Mittelmeer und die Levante. Mehrere Fahrten führten ihn auch nach Südamerika und Asien.

1919 hatte die Hamburger Bürgerschaft beschlossen, im Norden Hamburgs eine Kleinhaussiedlung für Kriegsteilnehmer und kinderreiche Familien nach den Plänen von Fritz Schumacher zu errichten. Als Kriegsinvalide konnte Cuddls Vater 1924 in Langenhorn ein Grundstück erwerben und mit einem zinslosen Kredit bauen. Die neue Adresse, Wattkorn 7, war nun auch das Zuhause von Cuddl und später das von Cuddls Familie.

1928 musste Cuddl abheuern, da er sich mit Malaria infiziert hatte. Unter dieser Krankheit hatte er sein Leben lang zu leiden. 1928 wurde er Mitglied der KPD. Nach den Jahren auf See fand er in Hamburg keine Arbeit. Er zog zu seiner Schwester Olly nach Liebenwalde nördlich von Berlin. Olly und Robert Neddermeyer bauten dort mit Cuddls Hilfe eine Hühnerfarm, auf der Cuddl bis 1932 arbeitete. 1931 lernte er dort seine Frau Lucie kennen, sie heirateten 1932 in Liebenwalde. In ihren Erinnerungen beschreibt Lucie ihren Mann:
"Cuddls ganzes Wesen, seine großzügige Art zu denken und zu leben, sich leger zu kleiden, zogen mich an. Er wirkte auf mich wie ein Typ aus den Büchern Jack Londons, wie ein Globetrotter. Seine meist etwas zusammengekniffenen Augen, die zwar alles wahrnahmen, aber irgendwie immer in die Ferne zu schauen schienen, sein schwarzes, volles Haar mit den grauen Schläfen, der ganze gutgewachsene Kerl [...] ich hatte mich von Herzen in ihn verliebt und wusste: diesen für’s Leben. Wenn Cuddl mich bei meinen Besuchen in Liebenwalde vom Bahnhof abholte, stand er da in seinem Troyer, Manchesterhose, die blaue Schirmmütze auf dem Kopf, die unvermeidliche Pfeife im Mund. Blumen bekam ich auch, aber die trug er nicht offen, die waren in seiner Aktentasche. Cuddl sagte nicht viel, war überhaupt ein großer Schweiger, was mich nicht störte, ich redete und lachte gern."

Cuddl und Lucie waren Mitglieder in der Ortsgruppe der KPD in Liebenwalde. Aber Cuddl zog es zurück nach Hamburg. Mitte 1932 bezogen sie das Dachgeschoss im Wattkorn 7. Sie wurden Mitglieder in der KPD-Parteigruppe Langenhorn, die aus etwa 70 Frauen und Männern bestand. Ihre Hauptaufgabe sahen sie darin, die Bürger*innen zu warnen: Sollte Hitler in Deutschland an die Macht gelangen, würde es Krieg geben.

Mit dem wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten begann auch innerhalb der Familie Suhling eine Spaltung: Die einen bekannten sich zum NS-Regime und die anderen bereiteten sich als Antifaschist*innen auf die Illegalität vor. Cuddls Schwestern Anna und Dora und ihre Ehemänner folgten dem neuen Regime.

Cuddl, Lucie und Robert Neddermeyer leisteten aktiven Widerstand und wurden wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Cuddl war als ehemaliger Technischer Leiter des Rotfrontkämpferbundes in Langenhorn im Juni 1933 das erste Mal in Haft genommen worden. Im KZ Fuhlsbüttel wurde er schwer misshandelt. Da von ihm offenkundig keine Aussagen zu erpressen waren, entließ man ihn im August, und er konnte im September 1933 die Geburt der Tochter Ursula erleben.

Am 1. Oktober 1934 wurde Cuddl das zweite Mal verhaftet – wie auch seine Frau Lucie. Es fanden Prozesse statt, in denen sie wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt wurden: Cuddl zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus, die er im KZ Fuhlsbüttel verbringen musste, Lucie zu zwei Jahren Zuchthaus. Die einjährige Tochter nahmen Verwandte auf.

Nach seiner Entlassung fand Cuddl Arbeit als Lkw-Fahrer – bis zur erneuten Festnahme von Cuddl und Lucie am 30. Dezember 1938. An diesem Tag wurden etwa 30 Personen aus ihrem Freundeskreis verhaftet. Die nun fünfjährige Tochter brachte die Gestapo ins Waisenhaus Elise-Averdieck.

Als Cuddls Schwester Emmi erfuhr, dass Ursula im Waisenhaus war, wandte sie sich an die Gestapo an der Stadthausbrücke. Es kam zu einer Begegnung Emmis mit Cuddl, bei der er gefesselt war, und er weinte, als er seine Zustimmung gab, seiner Schwester das Kind anzuvertrauen. Die Kindesmutter wurde nicht in diese Entscheidung einbezogen.

Die Gestapo-Verhöre der Gefangenen dauerten Monate, brachten aber nicht die erhofften Resultate, sodass im März 1939 alle freikamen. Cuddl arbeitete nach seiner Entlassung wieder bei seiner alten Firma. Er war aufgrund seiner Vorstrafen wehrunwürdig, eine Einberufung zur Wehrmacht war nicht zu befürchten. 1940 und 1942 wurden die Söhne Peter und Günter geboren.

Am 1. September 1939 begann der deutsche Überfall auf Polen. Cuddl wurde "dienstverpflichtet", dabei mit seinem Lkw Transporte für die Wehrmacht zu leisten. Vorläufig war er dem Gesichtsfeld der Gestapo entzogen, aber über Jahre wurde er wieder von seiner Familie getrennt. Ende Juni 1943 musste er nach Hamburg zurückkehren, wurde in das Strafbataillon 999 der Wehrmacht gezwungen und am 25. Juli 1943 vom Hannoverschen Bahnhof Hamburg in das Ausbildungslager Heuberg – ein ehemaliges KZ – nach Stetten am kalten Markt deportiert.

Nach der großen Niederlage der deutschen Armeen in der Schlacht vor Moskau war im Oktober 1942 die "Bewährungsdivision 999" aufgestellt worden, um alle Kräfte für den "Endsieg" zu mobilisieren. 28 000 politische Gegner des Naziregimes und Kriminelle erklärte man für die Dauer des Krieges als "bedingt wehrwürdig". Die Ausbildung der 999er dauerte ca. drei Monate, danach erfolgte ihr Fronteinsatz. Cuddls Einheit kam in die Sowjetunion nach Cherson an der Dnjeprmündung. Dort nahm die Zahl der Überläufer zur Roten Armee ständig zu. Daraufhin wurden alle Politischen 999er Anfang 1944 entwaffnet – auch Cuddl – und in Viehwaggons als Militärgefangene in einer 18-tägigen Fahrt nach Deutschland zum Truppenübungsplatz Baumholder gebracht. Dort sollten sie vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Zu den Verfahren ist es nicht mehr gekommen. Die Front brauchte "Menschenmaterial" dringender. Die 999er kamen von Baumholder nach Volos am Ägäischen Meer in Griechenland.

Von dort aus sollten sie den Rückzug der regulären Wehrmachtseinheiten sichern. Ihr Weg führte sie durch den Balkan über Albanien nach Jugoslawien. Die 999er setzten auf dem Rückzug ihren Widerstand fort: Es sollten sich möglichst viele Soldaten in die Gefangenschaft retten – für die meisten die einzige Chance, am Leben zu bleiben.
Cuddl ist dieser Schritt nicht gelungen. Er kehrte aus dem Krieg nicht zurück. Den letzten Brief schrieb er am 22. Februar 1945 aus Vlasenica bei Sarajewo.

Sein weiteres Schicksal konnte nie endgültig geklärt werden.

Stand: Januar 2023
© Ursula Suhling (24.9.1933 – 26.2.2022)

Quellen: StaH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 30262 Carl und Lucie Suhling; Oberlandesgericht Hamburg, Urteil gegen Carl Suhling (Knust u. Gen.) vom 25.7.1935; Karin Pochert, persönliche handschriftliche Erinnerungen an Carl Suhling, Hamburg 2011; Hans Burckhardt/Günter Erxleben/Kurt Nettball: Die mit dem blauen Schein. Über den antifaschistischen Widerstand in den 999er Formationen der faschistischen deutschen Wehrmacht (1942 bis 1945), Berlin 1982; Hans-Peter Klausch: Die 999er. Von der Brigade "Z" zur Afrika-Division 999: Die Bewährungsbataillone und ihr Anteil am antifaschistischen Widerstand, Frankfurt am Main 1986; Hans-Peter Klausch: Die Geschichte der Bewährungsbataillone 999 unter besonderer Berücksichtigung des antifaschistischen Widerstands, Köln 1987; Lucie Suhling: Der unbekannte Widerstand, Kiel 1998; Ursula Suhling: 999er Strafsoldaten – deportiert vom Hannoverschen Bahnhof, Hamburg 2014; Ursula Suhling: Wer waren die 999er? Strafsoldaten in Wehrmachtsuniform – deportiert vom Hannoverschen Bahnhof Hamburg, Hamburg 2017.

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