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Selma Sussmann
Selma Sussmann
© Privatbesitz

Selma Sussmann (geborene Gerolstein) * 1889

Magdalenenstraße 28 (Eimsbüttel, Rotherbaum)

1941 Riga

Weitere Stolpersteine in Magdalenenstraße 28:
Leopold Sussmann

Selma Sussmann, geb. Gerolstein, geb. am 21.10.1889, deportiert am 6.12.1941 nach Riga, dort verschollen

Magdalenenstraße 28

Selma Gerolstein wurde als zweite Tochter des Ehepaars Joseph und Johannette Gerolstein am 21. Oktober 1889 in Limburg/Lahn geboren. Die Familie lebte in Limburg, Fischmarkt Nr. 6. Selmas Eltern waren jüdischen Glaubens. Der Vater betrieb seit 1889 eine koschere Metzgerei. Von seinem Schwiegervater hatte er zudem ein Gasthaus (existiert heute als Gaststätte "Zum Burgkeller") übernommen, das er 1911 verkaufte. Bei Selmas Geburt 1889 war ihre ältere Schwester Bella fünf Jahre alt.

Am 4. September 1903 kam der fast 14jährigen Selma bei einem großen Ereignis für die Jüdische Gemeinde wie die Stadt, der Einweihung der Neuen Synagoge, eine große Aufgabe zu: Sie durfte die Schlüssel überreichen. Der "Nassauer Bote" berichtete: "Eine seltene Feier veranlaßte gestern die Bürger unserer Stadt, und zwar die Bürger aller Konfessionen, ihren Häusern Flaggenschmuck anzulegen, nämlich die Einweihung der neuen israelitischen Synagoge. [...] Mit einer kurzen Widmung überreichte Frl. Selma Gerolstein die Schlüssel dem Herrn Architekten Spahr. Dieser übergab sie dem Herrn Bürgermeister Kauter, der dieselben wieder dem Herrn Bezirksrabbiner Dr. Weingarten überreichend den Wunsch aussprach, daß das neue Gotteshaus dem Segen und Wohle der Gemeinde, der Stadt und des ganzen Vaterlandes dienen möge."

Wie ihre Schwester Bella besuchte auch Selma vermutlich die evangelische Höhere Töchterschule, nach der Direktorin umgangssprachlich Thau-Schule, genannt.

1911 findet sich im Adressbuch der Stadt Limburg folgender Eintrag: Sussmann Leopold, Regierungs-Baumeister, Neumarkt 10, II. In dem Gebäude befand sich auch das Warenhaus der Geschwister Mayer, das von der jüdischen Familie Putzinger betrieben und 1935 "arisiert" wurde. Leopold Sussmann (Biographie siehe www.stolpersteine-hamburg.de) arbeitete bei der Maschinen- und Werkstätteninspektion Limburg für die Königliche Eisenbahndirektion Frankfurt a. Main über den Einsatz von Ölfeuerung bei Lokomotiven und publizierte dazu.

Ihn, ihren zukünftigen Ehemann, lernte die junge Selma wahrscheinlich in Limburg kennen. Wie sie stammte der Diplom-Ingenieur Leopold Sussmann aus einer jüdischen Familie und gehörte Zeit seines Lebens einer Jüdischen Gemeinde an. Er war am 6. März 1876 in Wendisch-Buchholz geboren worden und dort, in Bad Muskau und Berlin aufgewachsen. In Berlin hatte er die Reifeprüfung abgelegt, Ingenieurwesen studiert und seine Laufbahn bei der Reichsbahn begonnen, für die er – und mit ihm später auch Selma - mehrfach den Wohnort wechseln musste. Am 1. April 1912 wurde Leopold Sussmann zum Reichsbahnrat befördert. Sechs Wochen später, am 21. Mai 1912 heiratete der 36jährige die 22jährige Selma in Berlin.

Leopold Sussmann war zu der Zeit bereits in Stettin u.a. bei den Vulkanwerken als Abnahmebaumeister beschäftigt. Die junge Ehefrau gebar dort sieben Monate nach der Eheschließung, am 23. Dezember 1912, Tochter Flora Käthe. Namensgeberinnen waren vermutlich Leopolds Mutter Flora und seine Schwester Käthe. Die Familie lebte in der Pestalozzistraße 21 im 1. Stock.

Anfang April 1914 übertrug die Reichsbahn Leopold Sussmann die Vorstandsstelle des Eisenbahnamtes Abteilung 4 in Bromberg. Die kleine Familie zog um und ließ sich in der Danziger Straße 120 nieder. Vermutlich in der Zeit dort gebar Selma Sussmann ein weiteres Kind, das jedoch mit 4 Jahren verstarb. Als drittes Kind der Familie kam in Bromberg am 12. November 1918 Sohn Peter Gerhard auf die Welt.

Nach dem Ersten Weltkrieg kämpften polnische Einwohner der Provinz Posen für die Eingliederung nach Polen, eingegangen in die Geschichte als Posener Aufstand. Im Versailler Vertrag wurde festgeschrieben, den größten Teil der Provinz Posen an Polen abzutreten. Viele deutsche Bewohner verließen darauf das Gebiet, so auch die Familie Sussmann, die 1920 nach Frankfurt zog, wo Leopold Sussmann eine Position als Vorstand des Eisenbahnwerkstättenamts bei Nied übertragen wurde.

1922 bis 1923 findet sich Leopold Sussmann im Frankfurter Adressbuch unter der Adresse Eppsteiner Str. 33 und 1924 als Regierungsbaurat und Mitglied der Abteilung III der Reichsbahn Direktion Frankfurt. In dieser Zeit, am 29. April 1922, verstarb Selmas Vater Joseph Gerolstein in Limburg, was Selmas Schwester Bella den Behörden meldete, die, verheiratet mit dem nichtjüdischen Metzger August Kaffai, noch am Ort lebte. Acht Jahre später, 1930, starb ebenfalls dort Selmas Mutter Johannette Gerolstein im Altersheim des Klosters Bethlehem.

Leopold Sussmann war in seinem Fach Wärmewirtschaft und in der Optimierung von Arbeitsabläufen hochspezialisiert, so dass ihm eine Leitungsposition des Dezernats 63 für Wärmewirtschaft in der Geschäftsführenden Direktion des Werkstättenwesens für die Bezirke der Reichsbahndirektionen Altona übertragen wurde, die auch für Hannover, Münster (Westf.), Oldenburg und Schwerin zuständig war. So zog die Familie wieder um, diesmal in die Nähe von Hamburg. Ab 1926 lebte sie gutbürgerlich in einer eigenen Doppelhaus Villa im Vorort Othmarschen, Gottorpstraße 14 (das ab 1938 zu Hamburg gehörte). Selma Sussmann war 37 Jahre alt, die Kinder Flora Käthe 14 Jahre und Sohn Peter Gerhard 8 Jahre. Leopold Sussmann konnte seit 1927 die Bezeichnung Reichsbahn- Oberrat führen.
Wie im gehobenen Bürgerstand nicht unüblich, standen Selma Sussmann eine Erzieherin für die Kinder und Köchin und Wäscherin bei der Haushaltsführung zur Seite.

Im Alter von 15 Jahren ging Tochter Flora Käthe eigene religiöse Wege. Palmsonntag 1928 wurde sie in der evangelischen Christuskirche Othmarschen konfirmiert, nachdem sie sich im Februar des Jahres dort hatte taufen lassen.
Sohn Peter Gerhard besuchte nach der Grundschule des Bertalyzeums in Groß Flottbek seit 1929 das Christianeum in Othmarschen.

Nach der Reifeprüfung ging Käthe Flora 1931 zum Studium nach München. Um der dortigen antisemitischen Stimmung zu entkommen, wechselte sie mit ihrem nicht jüdischen Verlobten, dem Medizinstudenten Ferdinand Otto Fischer, nach Paris. In Frankreich durchlebte Käthe eine turbulente und gefährliche Flucht mit Verhaftungen. Unter dem Namen Edith Schmidt konnte sie untertauchen. Zuletzt arbeitete sie in der Gemeinde Die im Département Drômefür die Résistence.
Noch bis 1938 konnten ihre Eltern sie finanziell unterstützen, und bis dahin verbrachten sie gemeinsame Familienurlaube in Dänemark. Ein letztes Mal sahen Käthe und ihre Eltern sich 1938, nachdem Käthe in Hamburg der Pass entzogen worden war. Leopold Sussmann hatte ihr Devisen für ein Rückflugticket nach Paris besorgt.

Das Jahr 1933 veränderte das Leben der Familie Sussmann in Hamburg radikal. Die Nationalsozialisten entließen u.a. jüdische Beamte nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und versetzten diejenigen, die bereits vor 1914 Staatsdiener gewesen waren, in den vorzeitigen Ruhestand. Leopold Sussmann reichte seinen entsprechenden Antrag auf Versetzung in den Ruhestand zum 1. Januar 1934 ein, der am 19. September 1933 durch den Generaldirektor der Deutschen Reichsbahngesellschaft mit einem Ruhegehalt von 561,42 Reichsmark bewilligt wurde.

Das bedeutete deutliche wirtschaftliche Einschränkungen. Die Familie musste umziehen, aus dem eigenen Haus in Othmarschen wechselte sie in eine Mietwohnung im Stadtteil Rotherbaum, in der Magdalenenstraße 28. Hier war die Familie ab dem 13. Juni 1936 gemeldet, 1940 findet sich "Sussmann, Leop., Oberbaurat i.R., Magdalenenstraße 28" letztmalig im Hamburger Adressbuch.

Ostern 1937 hatte Peter Gerhard Sussmann frühzeitig die Reifeprüfung am Christianeum ablegen können. Am 15. April immatrikulierte er sich an der Universität Hamburg in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät im Fach Physik. Das Dokument seiner Einschreibung war gelb, denn ab dem Jahr 1935 kennzeichnete dieser Farbcode jüdische Studierende. Peter Gerhard Sussmann hatte bei der "Volkszugehörigkeit" zu Recht eingetragen: "deutsche". Dies war gestrichen und durch "Jude" ersetzt worden.

Im Zuge der Verhaftungen jüdischer Männer nach dem Novemberpogrom 1938 wurden auch Leopold und Peter Gerhard Sussmann in Haft genommen und ins das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nachdem beide freigekommen waren, beantragte der 20jährige Peter Gerhard im Februar 1939 die Auswanderung über England in die USA zur Fortsetzung seines Physikstudiums. Da er noch nicht volljährig war, musste sein Vater Leopold dem Antrag zustimmen. Mitte März 1939 konnte Peter Gerhard über Dänemark nach England fliehen. Im Gepäck führte er Dokumente seiner Eltern mit. Geplant war, dass sie ihm folgen sollten. Dies sollte ihnen nicht mehr gelingen.

Sie erhielten in Hamburg den Deportationsbefehl für den 6. Dezember 1941. Dieser Transport hatte ursprünglich zwei Tage früher mit Ziel des Gettos von Minsk abgehen sollen, war aber verschoben worden. Da im Getto von Riga noch Massenerschießungen stattfanden, wurde der Hamburger Zug – wie auch die Züge aus Stuttgart, Nürnberg und Wien – ins behelfsmäßige Lager auf dem Gut Jungfernhof geleitet.
Der Zug aus Hamburg fuhr bis zum Güterbahnhof Šķirotava, von wo aus die Gefangenen durch tiefen Schnee in das 1,5 km südlich gelegene Außenlager getrieben wurden. Dort starben hunderte Menschen aufgrund von Hunger, Kälte und mangelnder medizinischer Versorgung, und die meisten derjenigen, die bis Frühjahr 1942 überlebt hatten, fielen am 26. März 1942 einer Massenerschießung, der sogenannten Aktion Dünamünde, zum Opfer.

Leopold und Selma Sussmann überlebten nicht. Ob sie verhungerten, erfroren, anders zu Tode kamen oder erschossen wurden, kann mangels Dokumente nicht festgestellt werden.

Noch 1953 steht in den Akten zur Wiedergutmachung des Landgerichts Hamburg zu Leopold und Selma Sussmann "evakuiert nach Riga".

Auf dem Jüdischen Friedhof Limburg wurde 1988 eine Gedenkstele errichtet, die die Namen der im Nationalsozialismus ermordeten Jüdischen Bürgerinnen und Bürger Limburgs trägt. Auch der Tochter der Stadt, Selma Sussmann, wird hier gedacht.

Ihre Kinder Flora Käthe und Peter Gerhard überlebten: Flora Käthe, Kathe McPhail, wurde 100 Jahre alt, Peter Gerhard starb 1999 in Wales. Beide hinterließen Kinder und Enkelkinder.

Selmas Schwester Bella hatte am 14. Mai 1906 in Limburg den katholischen Metzger August Kaffai geheiratet und war zum katholischen Glauben ihres Ehemanns konvertiert. Das Paar bekam drei Kinder, Anna Maria, Peter und Else Elisabeth.
Nach dem Tod ihres Mannes August im Oktober 1938 flohen Bella und ihre ledige Tochter Else Elisabeth im August 1939 in die USA zu Sohn Peter, der bereits im Sommer 1933 mit seiner jungen Frau Elsie, geb. Milbrandt, emigriert war und in deren Geburtsort Buffalo, NY, lebte. Auch er hatte den Beruf des Metzgers erlernt. Kurz bevor sie Deutschland verließen, waren die Familienmitglieder noch bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 erfasst und nach den NS-Rassegesetzen als Jüdin (Bella) und Halbjüdinnen (die Töchter) kategorisiert worden. Bella Kaffai starb am 13.7.1966 im Alter von 82 Jahren in Buffalo.

Tochter Anna Maria, verh. Wicker, konnte in Deutschland überleben.

Stand: März 2023
© Dorothea Thünken-Klemperer

Quellen: Stadtarchiv Limburg; StALM_II-632_Nr_210; StALM_II-626_Nr. 11; XIVc/1618; Klassenfoto mit Bella Gerolstein um 1896/97; StALM_II-749_Nr_91; StALM_II-757_Nr. 190; Staatsarchiv Hamburg; 361-2 II, 253; Bestand 522-1, Steuerkarte der Jüdischen Gemeinde Nr. 20685; 314-15_FVg 3615; 213-13_18635; Norddeutschland: Landeskirchliches Archiv der Evang.-Luth. Kirche > Kirchenkreis Hamburg-West Südholstein > Hbg-Othmarschen Christus > Konfirmationen 1927-1930, Bild 14; Archiv Christianeum Hamburg, Lebenslauf Peter Sussmann; Deutsche National Bibliothek; Leipzig, Deutschland; Herausgeber: Universitätsarchiv Hamburg, Best. 201c Abteilung 3 - Studium und Lehre, Immatrikulationskarten, Peter Gerhard Sussmann 1937 (geb. 12.11.1918); Hessisches Hauptstaatsarchiv; Wiesbaden, Deutschland; Personenstandsregister Sterberegister; Signatur: 307; Laufende Nummer: 903; Hessisches Hauptstaatsarchiv; Wiesbaden, Deutschland; Bestand: 912; Laufende Nummer: 3322; Stadtarchiv Limburg, Waldecker, C.; schriftl. Mitteilung vom 14.11.2022 u. schriftl. Mitteilung vom 16.11.2022; Renee McPhail, Mail vom 13.12.2022; M. Vigar, Mail vom 16.01.2023; Dokumente in Privatbesitz; M. Vigar, Mail vom 26.02.2023; Nassauer Bote vom 07.09.1903; Nassauer Bote, Todes-Anzeige, 19.12.1930; The Detroit News, Feb.17, 2013; Obituary; Ölfeuerung für Lokomotiven mit besonderer Berücksichtigung der Versuche mit Teerölzusatzfeuerung bei den preußischen Staatsbahnen, 1912; Springer Berlin, Heidelberg 1912; Adressbuch für Stettin und Umgebung, Ausgaben von 1913, 1914; Adressbuch nebst Allgemeinem Geschäfts-Anzeiger von Bromberg mit Vororten für das Jahr 1917; Amtliches Fernsprechbuch für den Oberpostdirektionsbezirk Hamburg 1930, Seite I/652; Altonaer Adressbuch, 1926, S.IV/69; Hamburger Adressbuch-Verl; Signatur: ZC 1018; Laufende Nummer: 57; Verzeichnis der Höheren Beamten der Preussisch-Hessischen Staatseisenbahnverwaltung, des Reichs-Eisenbahnamts und der Verwaltung der Reichseisenbahnen, Hannover; Die Reichsbahn, Amtliches Nachrichtenblatt der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und der Gesellschaft "Reichsautobahnen", Nr. 2, Jhg. 10 vom 10. Januar 1934, S. 48; Fanny England, Vom Waisenhaus zum Jungfernhof, Deportiert von Hamburg nach Riga: Bericht einer Überlebenden, Hamburg 2009; Scheffler, W., Schulle, D.; Buch der Erinnerung; Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, München 2003, S. 8 ff; https://www.limburg.de/Tourismus-Freizeit/Stadtarchiv/Archivalie-der-Woche-167-Helene-Thau.php?object=tx,3251.5&ModID=7&FID=3252.17677.1&NavID=3252.1327; https://kpbc.umk.pl/dlibra/docmetadata?id=13848#info; https://collections.arolsen-archives.org/de/search/topic/1-2-1-1_8228003?s=Deportation%20Hamburg%20Riga; http://www.riga-komitee.eu/gedenkstaetten/lager-gut-jungfernhof; http://www.riga-komitee.eu/historie/transporte-nach-riga; https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de980726; https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de980684;https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/900053241:61118?ssrc=pt&tid=25211763&pid=252012843027; https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_5367-0287?treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true&pId=2016320011; https://www.mappingthelives.org/bio/a1a05854-be22-4d1f-a1e5-f76a6206813b; https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/2975399:61119.

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