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Bereits verlegte Stolpersteine



Ellie Tichauer (geborene Rosenthal) * 1887

Alte Holstenstraße 61 (Bergedorf, Bergedorf)

1941 Minsk

Weitere Stolpersteine in Alte Holstenstraße 61:
Dr. Ernst Tichauer

Dr. Ernst Tichauer, geb. 8.10.1888 in Thorn, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk
Ellie Tichauer, geb. Rosenthal, geb. 6.11.1887 in Berlin, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk

Alte Holstenstraße 61 (Holstenstraße 4a)

Ernst Siegfried Tichauer wurde 1888 in Thorn in der Provinz Westpreußen geboren. Seine Eltern Max Tichauer und Henriette, geborene Soberski, müssen sich finanziell gut gestanden haben, denn sie konnten ihrem Sohn den Besuch des Gymnasiums und das Studium der Zahn­medizin ermöglichen. Von Thorn zog Familie Tichauer nach Berlin. Während des Studiums an der Berliner Universität lernte Ernst Tichauer Ellie Rosenthal, Tochter aus "gutem Hause", kennen. Ihr Vater war der Kommerzienrath Max Rosenthal; sein Ehrentitel deutet auf eine exponierte Stellung im Wirtschaftsbereich hin. Nach dem Studium eröffnete Ernst Tichauer 1912 in Berlin am Kottbusser Damm 20/21 eine Zahnarztpraxis. Am 5. Januar 1917 zog er nach Hamburg, ließ sich dort nieder und heiratete am 10. Februar 1917 Ellie Rosenthal.

Zu dieser Zeit dürfte seine Ehefrau bereits als Zahnärztin in der Praxis mitgearbeitet haben. Anfänglich wohnten sie zur Untermiete in "bester Hamburger Lage": An der Alster 60 Parterre, bei L’ Arronge, in der Nähe der Alster-Badeanstalt. Acht Monate später wurde Ernst Tichauer zum Krieg eingezogen, Ellie Tichauer wohnte in dieser Zeit in Berlin-Neukölln. Nach Ende des Ersten Weltkrieges bezogen die Eheleute Tichauer im Januar 1919 als Untermieter Räume in der Oderfelder Straße 15 (Harvestehude), aber schon ein halbes Jahr später zogen sie nach Bergedorf, wohin auch die Zahnarztpraxis verlegt wurde. 1921 wurde die Tochter Helga geboren. 1922 schrieb Ernst Tichauer eine zahnmedizinische Abhandlung zum Thema "Die Füllung in mechanisch-statischer Beurteilung". 1923 kam in Bergedorf der Sohn Klaus zur Welt. Die Tochter besuchte nach der Volksschule in Bergedorf die dortige Luisen-Schule, die sie aber Ostern 1938 zwangsweise ohne Abiturzeugnis verlassen musste. Der Sohn konnte nur bis März 1936 die Hansa-Oberrealschule in Bergedorf besuchen, dann wurde er zwangsweise an die Talmud Tora Schule (Rotherbaum) versetzt.

Die damalige Holstenstraße bildete über viele Jahre den Lebensmittelpunkt der Familie: Zuerst wohnte sie in der Holstenstraße 11 (1929–1932), später in der Holstenstraße 4a (1932–1938). Im Mai 1931 erwarben die Eheleute in Bergedorf ein Haus mit Grundstück in der Sichterstraße 6 (ehemals Boelckestraße bzw. Hauptmannstraße) für 20.000 RM – 1938 verkauften sie es notgedrungen für 15.000 RM. Die Zahnarztpraxis von Ernst Tichauer in der Holstenstraße war 1932 eine von 12 Praxen in Bergedorf, das damals 19.000 Einwohner zählte. Ab Januar 1933 versuchte die NSDAP Kunden und Patienten von jüdischen Kaufleuten, Ärzten und Juristen einzuschüchtern und fernzuhalten. An der Zahnarztpraxis Tichauer wurde ein Schild mit dem Satz "Wer zum Juden geht …" aufgehängt. Zusätzlich wurde dieses Schild und damit auch der Praxiseingang von dem Bergedorfer Tierarzt und Fleischbeschauer Carl Best (Reinbeker Weg 36) bewacht, der seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP und seit Januar 1934 Mitglied der Reiter-SA war. Seine Tochter war die beste Schulfreundin von Helga Tichauer gewesen.

Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Praxis waren zeitweilig SA-Männer postiert, sodass viele Patienten es nicht länger wagten, die Praxis zu besuchen – einige kamen erst bei Anbruch der Dunkelheit, um unerkannt zu bleiben. Den dadurch herbeigeführten Patientenrückgang verschärfte der NS-Staat am 27. Juli 1933 durch eine "Verordnung über die Zulassung von Zahnärzten und Zahnpraktikern zur Tätigkeit bei den Krankenkassen". Als Teilnehmer des Ersten Weltkrieges erhielt Ernst Tichauer zunächst eine Ausnahmegenehmigung, seine Praxis weiterhin zu betreiben. Die Drangsalierungen ließen jedoch nicht nach.

Im September 1935 trat das Ehepaar Tichauer in die Jüdische Gemeinde ein. Zum 31. Januar 1939 wurde Ernst Tichauer die Approbation entzogen und er wurde aus der Mitgliederliste der Zahnärztekammer gestrichen. Fortan durfte er nur noch jüdische Patienten behandeln. Briefbogen und Praxisstempel mussten nun einen Davidstern und den Zusatz "Zugelassen zur Behandlung jüdischer Zahnkranker" aufweisen.

Am 27. Februar 1939 zog das Ehepaar Tichauer nach Hamburg-Harvestehude in die Isestraße 55 in den 1. Stock rechts. Die Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung bewohnte seit Juni 1937 Moritz Weinberg mit Ehefrau und Sohn. Von dessen Wohnung durften sie 3 Zimmer sowie Küche und Bad nutzen, waren aber verpflichtet, jüdische Untermieter aufzunehmen. Im Juni 1940 zog das jüdische Ehepaar Erich und Johanna Meyer mit ihrer neugeborenen Tochter für wenige Tage ein, bevor es nach Castrop umzog. Im Januar 1941 emigrierte Familie Weinberg. Im März 1941 kamen die drei älteren Schwestern Pein – sie zogen im Dezember 1941 in ein anderes Quartier.

Da die neue Unterkunft kleiner war als in Bergedorf, verkauften die Tichauers notgedrungen die hochwertige Einrichtung des elterlichen Schlafzimmers. Die 1927 abgeschlossene Lebensversicherung bei der Provincial-Versicherung wurde zum 1. Januar 1939 aufgehoben. Die Auszahlung des so genannten "Rückkaufswertes" vor Ende der Laufzeit bedeutete aufgrund von Stornogebühren einen finanziellen Nachteil.

Ihre beiden minderjährigen Kinder hatten sie am 2. Februar 1939 mit einem Kindertransport über die Organisation der holländischen Quäker nach England geschickt. Die 16-jährige Tochter hatte in ihrem Koffer neben wenigen Kleidungsstücken, einem Dirndl, einem Regenmantel, einem alten Tennisschläger der Mutter und einem Fotoalbum auch Literatur eingepackt: Das jüdische Jahr, Theodor Storm "Von Moor und Heide" sowie das "Wunderbuch unserer Heimat". Im Gepäck des 14-jährigen Sohnes befanden sich u. a. Hut, Krawatte, Regenmantel, Badehose und ein Platten-Fotoapparat Agfa Standard 6x9 aus dem Jahre 1927.

Nach halbjährigem Schulbesuch in London unterbrach der Beginn des Zweiten Weltkriegs die Briefkontakte und Geldtransfers zwischen Deutschland und Großbritannien. Ohne Geldmittel der Eltern musste der Sohn die Schule verlassen und in einer Schuhfabrik arbeiten. Im Mai 1940 wurde der mittlerweile 17-Jährige als wehrfähiger "feindlicher Ausländer" zuerst in Großbritannien und später für zwei Jahre in Kanada interniert (vgl. ähnliche Biographie im Text zu Gerta und Ilse Lazarus/Stellingen, Sohn Jan). Von 1942 bis 1944 arbeitete er in Kanada in einer Schuhfabrik, ehe er sich mit 21 Jahren als Soldat zu den "Armed Forces Canada" meldete. Seine Schwester wurde im Frühjahr 1940 ebenfalls als "feindliche Ausländerin" für neun Monate auf der Isle of Man interniert, 1941 arbeitete sie als Sekretärin und ab 1944 als Lehrerin in Großbritannien.

Für die in Deutschland festsitzenden Eltern wurde die Lebenssituation immer bedrohlicher. Nach Berufsverbot, Strafsteuern und kompletter gesellschaftlicher Ausgrenzung folgte ab 19. September 1941 die Vorschrift, deutlich sichtbar einen Judenstern an der Kleidung zu tra­gen. Der mit dem Ehepaar Tichauer befreundete Kaufmann Paul Godau berichtete gegenüber dem Amt für Wiedergutmachung über die letzte gemeinsame Begegnung: "In unserer Gegenwart schloss Herr Dr. Tichauer die Wohnung ab und brachte die Schlüssel zur Gestapo nach der Moorweidenstraße zum Logenhaus, wo die Juden sich melden mussten."

Am 8. November 1941 wurden Ernst und Ellie Tichauer ins Getto Minsk deportiert. Bereits vor der Deportation waren die Wohnungsgegenstände von der Behörde erfasst worden. Im Auftrag des NS-Staates versteigerte der Auktionator Carl F. Schlüter (Versteigerungsräume Alsterufer 12) am 30. Dezember 1941 diverse Bilder und Drucke, Möbel, Hausrat und auch Kleidungsstücke aus dem Besitz der Familie Tichauer. Drei Damenmäntel von Ellie Tichauer erbrachten 23 RM, Maskeradenkleider und ein Zylinder wurden für 5 RM ersteigert. Insgesamt erbrachte die Versteigerung 1667 RM, die an das Deutsche Reich fielen.
Der Auktionator Arthur Landjunk (Versteigerungsräume Alter Wall 64) überwies am 2. April 1942 noch einmal 118,45 RM an die Oberfinanzkasse für Versteigerungserlöse aus dem Besitz der Tichauers. Welche Gegenstände versteigert wurden, ist in diesem Fall nicht mehr nachvollziehbar, da das Versteigerungsprotokoll nicht erhalten ist. Was aus der teuren Praxiseinrichtung mit lederbezogenem Behandlungsstuhl, Bohrer, Lampe, vollständigem Instrumentenschrank, Medikamenten und Füllmaterialien wurde, ist nicht bekannt. Eine Mitnahme ins Getto Minsk kann jedoch ausgeschlossen werden.

Eineinhalb Jahre später tauchten noch einmal Lebenszeichen der Eheleute Tichauer in NS-Akten auf: Aus einem Bericht aus dem Jahre 1943 über Erschießungsaktionen im Raum Minsk geht hervor, dass Ernst Tichauer gezwungen wurde, den Gefangenen die Goldzähne herauszubrechen, seine Frau musste ihm dabei assistieren. "Am 13. Apr. 1943 wurde der deutsche ehemalige Zahnarzt Ernst I. Tichauer und seine Frau Elisa Sara Tichauer geb. Rosenthal durch den SD (Hauptscharführer Rühe) ins Gerichtsgefängnis eingeliefert. Seit dieser Zeit wurden bei den eingelieferten deutschen und russischen Juden die Goldbrücken, Kronen und Plomben ausgezogen bzw. herausgebrochen. Dieses geschieht jedes Mal 1–2 Stunden vor der Betr. Aktion. Es wurden seit dem 13.4.1943 516 deutsche und russische Juden erledigt. gez. Günther". Da diese Häftlings-Sonderkommandos auch zu Zeugen der Abläufe in der NS-Mordmaschinerie wurden, achtete die SS darauf, dass sie "nach Abschluss der Aktion" erschossen wurden. Nach dem April 1943 gibt es keine Hinweise mehr über den Verbleib von Ernst und Ellie Tichauer. Später wurden sie von einem Amtsgericht auf das Jahr 1945 für tot erklärt.

Noch kurz vor dem Einmarsch britischer Truppen vernichtete die Zahnärztekammer in Hamburg Anfang 1945 die Unterlagen der ausgeschlossenen jüdischen Zahnärzte.

© Björn Eggert

Quellen: 1; 2; 4; 5; StaH 213-13 (Landgericht Hamburg), 820 E 312/62; StaH 213-13 (mit Unterakte 2 Wik 561/1953); StaH 213-13 Z 5648 (Hausverkauf 1938); StaH 221-11 (Staatskommissar für die Entnazifizierung), M 2462 (Dr. Carl Best); StaH 314-15 (OFP), FVg 3788 (Helga u. Klaus Tichauer); StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei); StaH 332-8 (Hauskartei), K 2445 (Isestraße 55); StaH 351-11 (AfW), Eg 061187 (Ellie Tichauer); StaH 351-11 (AfW), 260721 (Helga Tichauer); StaH 351-11 (AfW), 050423 (Klaus Tichauer); Landesarchiv Berlin, B Rep. 058, 1 Js 9/65, Box 80, Beistück 104, Schr. Gerichtsgefängnis Minsk v. 31.5.1943 an Generalkommissar von Weißruthenien in Minsk; TB 1929-1938 (Tichauer); TB 1936 (Tierarzt Best); AB Berlin 1912, 1913 (Ernst Tichauer); Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Kiek mol – neue und bewährte Stadtteilrundgänge, Hamburg 1998, S. 84 (Holstenstr. 9/11); Ingo Böhle, "Juden können nicht Mitglieder der Kasse sein", Versicherungswirtschaft und die jüdischen Versicherten im Nationalsozialismus am Beispiel Hamburgs, Hamburg 2003, S. 14; online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (Ernst Tichauer).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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