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Selma Beyer (geborene Gottschalk) * 1874

Grindelallee 168 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


HIER WOHNTE
SELMA BEYER
GEB. GOTTSCHALK
JG. 1874
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 11.11.1942

Weitere Stolpersteine in Grindelallee 168:
Cäcilie Kargauer, Gerd Kargauer, Norbert Kargauer, Ruth Julie Kargauer, Thessa Kargauer

Selma Beyer, geb. Gottschalk, geb. am 13.7.1874 in Nienburg/Saale, am 15.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 11.11.1942 umgekommen

Grindelallee 168

Ihre beiden Kinder Erich und Ilse bekam Selma für die damalige Zeit relativ spät. Erich wurde am 31. Dezember 1906 in Hamburg geboren, Ilse am 24. Juni 1909. Da war Selma schon Anfang bzw. Mitte Dreißig. Der gleichaltrige Vater, Selmas Ehemann Hugo Beyer, stammte ebenso wie sie nicht aus Hamburg. Er war am 23. Januar 1874 in Röbel an der Müritz geboren worden, wo auch seine Eltern Hermann und Karoline, geborene Bendix, bis zu ihrem Tod lebten. Hugo und Selma Beyer hatten am 6. Juni 1903 am Geburtsort der Braut, wie zu jener Zeit noch üblich, also in Nienburg an der Saale geheiratet. Dort wohnten auch Selmas Eltern, Hermann Gottschalk und Anna, geborene Salinger, und dort starben sie auch. Selma stammte zwar wie ihr Mann aus einer jüdischen Familie, doch war sie christlich getauft worden.

Zur Zeit der Hochzeit mit Selma lebte Hugo Beyer bereits seit mehreren Jahren in Hamburg und seine Frau zog nach der Hochzeit zu ihm. Er hatte 1907 in Hamburg ein Kommissionsgeschäft gegründet, betätigte sich also als eine Art Makler, der für Auftraggeber Käufer ihrer Waren suchte und den Verkauf abwickelte. Anfangs hatte er noch einen Kompagnon, ab 1909 führte er die Firma allein. Lange Jahre lief der Betrieb gut, Hugo Beyer hatte Geschäftsräume in der Bartelsstraße 65 gemietet und beschäftigte einen Kontoristen und eine Büroangestellte. Nach dem Ersten Weltkrieg aber verschlechterte sich die Auftragslage deutlich. Er zog mit seiner Firma in die Altonaer Straße 61 um und entließ seine Angestellten. Auch sein eigenes Einkommen verringerte sich rapide. Etwa zur gleichen Zeit scheiterte auch die Ehe zwischen Selma und ihm. Es kam nie zu einer Scheidung, beide lebten allerdings seitdem nicht mehr in einer "Ehegemeinschaft".

Selma und Hugo Beyers Sohn Erich hatte von 1912 bis 1921 die Realschule am Weidenstieg besucht – allerdings mit einer mehrjährigen Unterbrechung. Während des Ersten Weltkriegs lebte er von 1915 bis 1918 in Nienburg, wahrscheinlich bei seinen Großeltern. Dort besuchte er auch die Schule, zunächst die Mittelschule in Nienburg, ab 1917 die Realschule in Calbe an der Saale. Im Anschluss an seine Schulausbildung absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei der Hamburger Firma A. Lievendag & Co., Schuhwaren Engros und Export und blieb dort anschließend, von 1922 bis 1928, als Verkäufer und Vertreter für Nord- und Mitteldeutschland beschäftigt. Seine Schwester Ilse lernte nach der Schule Stenotypistin und Kontoristin.

Hugo Beyers Geschäfte verschlechterten sich weiterhin. 1928 musste er einen Offenbarungseid leisten. Sein Einkommen hatte zuletzt monatlich nur noch durchschnittlich 100 Reichsmark (RM) betragen. Ab 1929 bezog er Unterstützungsleistungen vom Wohlfahrtsamt. Gelegentlich unterstützte ihn seine Schwester. Als selbstständiger Kaufmann musste er Mitglied der Handelskammer sein, als er den Pflichtbeitrag nicht mehr zahlen konnte, wurde Ende 1931 bei ihm gepfändet. Da er mit Selma in Gütertrennung lebte, gab es jedoch nichts, was sich hätte pfänden lassen. Er besaß demnach selbst fast nichts mehr. 1932 bemühte er sich noch einmal, sein Geschäft wieder in Gang zu bringen, indem er einen Teilhaber suchte. Doch vergeblich. Er musste erneut Wohlfahrtsunterstützung beantragen. Nach wie vor lebte er in der Familienwohnung an der Grindelallee 168. Immer wieder versuchte er, beruflich und finanziell wieder auf die Beine zu kommen, doch wurde auch er ein Opfer der antisemitischen Boykotte, sodass sich seine Lage nicht mehr besserte.

Erich Beyer hatte mittlerweile zweimal den Arbeitgeber gewechselt. Zunächst war er von Ende 1928 bis Anfang 1930 für die Firma Rudolph Karstadt in Hamburg-Barmbek als Verkäufer und "Substitut" beschäftigt gewesen, hatte sich also innerhalb einer Abteilung um die Sortimentsgestaltung, Disposition und Lagerhaltung sowie um die Präsentation der Waren gekümmert. Anschließend arbeitete er für die Firma Schuh-Behr in Hamburg und war bei verschiedenen Schwesterfirmen als Geschäftsführer tätig, darunter in Hamburg, Harburg, Flensburg und Bremen. Bei Schuh-Behr handelte es sich um eine "Schuh-Dynastie" mit Zentrale in Hamburg, zu deren Inhabern Friedrich und Louis Behr gehörten (s. a. "Stolpersteine in Hamburg-Eimsbüttel und Hamburg-Hoheluft-West" und www.stolpersteine-hamburg.de).

Inzwischen waren jedoch die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht gekommen, die aktiv zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen und diesen unter Einsatz der SA zum Teil auch militant durchsetzten. Infolge des Boykotts verringerten sich die Umsätze der Firma Schuh-Behr dramatisch, die durch ihre Besitzer und Teilhaber plötzlich als "jüdisch" galt. Sie musste mehrere Tochterfirmen und Filialen schließen, darunter auch jene in Bremen, bei der Erich Beyer arbeitete. Damit war Ende 1933 seine berufliche Karriere beendet. Ab 1. Januar 1934 war er arbeitslos und das änderte sich auch nicht mehr. 1935 musste er Pflichtarbeit in einer Fabrik leisten. Da hatte er aber schon den Plan gefasst, Deutschland zu verlassen – zumal er, der nun selbst aus einer durch die NS-Rassenideologie als jüdisch kategorisierten Familie stammte, auch persönlich der zunehmenden Verfolgung, Entrechtung und Ausgrenzung ausgesetzt war. Zuletzt wohnte er zur Untermiete in der Pastorenstraße am Michel. Im April 1936 emigrierte er in die USA und änderte dort seinen Namen in Eric Boyer.

Auch Selma Beyer ging es seit etwa 1928 körperlich und psychisch schlechter und schlechter. Das Scheitern ihrer Ehe belastete sie ohnehin sehr. Da sie nicht berufstätig war und ihr Mann sie nicht mehr unterstützen konnte, verarmte auch sie zusehends und war ebenfalls auf die Fürsorge angewiesen. Auch bekam sie eine geringe Unterstützung von 7 RM monatlich von der Jüdischen Gemeinde. Immer wieder litt sie unter gesundheitlichen Problemen, die Fürsorgerinnen, die regelmäßig Hausbesuche bei ihr machten, stellten wiederholt fest, sie sei "körperlich sehr herunter". Selma war mit 1,50 Metern eine kleine Person. Auch wog sie nicht viel und machte auf die Fürsorgerinnen einen unterernährten Eindruck, sodass sie wiederholt eine Pflegezulage bekam. Ihre Kinder unterstützten sie zwar, hatten beide aber selbst nur noch ein geringes Einkommen. Im Sommer 1932 trennten sich Selma und Hugo Beyer auch räumlich und gaben die Wohnung in der Grindelallee 168 auf. Eine eigene Wohnung konnte sich Selma nicht mehr leisten und suchte sich ein möbliertes Zimmer zur Untermiete, erst im Eppendorfer Weg bei Mathiae, dann in der Bogenallee bei Iversen und ab September 1935 bei Wolfsberg in der Oberstraße 3. Ihre Möbel aus der früheren Wohnung hatte sie einlagern lassen – offenbar in der Hoffnung, es möge ihr irgendwann wieder besser gehen. Doch schien ihre aktuelle Situation aussichtslos. Sie erhielt von der Wohlfahrt monatlich 32 RM, außerdem die erwähnten 7 RM von der Jüdischen Gemeinde. Davon musste sie ihre Miete von 20 RM sowie 8 RM für das Einlagern der Einrichtung zahlen. So blieben ihr nur 4 RM im Monat zum Leben, entsprechend einer heutigen Kaufkraft von 20 bis 25 Euro. Hinzu kam die zunehmende Bedrohung als Jüdin im NS-Regime. Dass Selma Beyer christlich getauft war, änderte nichts angesichts der Tatsache, dass die Nationalsozialisten sie als "Rassejüdin" ansahen.

Ilse Beyers Lage gestaltete sich im NS-Regime ebenfalls zunehmend bedrohlicher. Immer wieder wusste sie nicht, ob sie ihre Arbeit noch behalten würde, kurze Anstellungen wechselten mit Zeiten der Arbeitslosigkeit. Schon immer wohnte sie zur Untermiete, eine eigene Wohnung hatte sie sich nie leisten können.

1937 zog Selmas Zwillingsbruder Oscar Gottschalk von Nienburg an der Saale nach Hamburg. Er war als Manufakturwarenhändler erfolgreich gewesen, eine Lähmung hatte ihn jedoch gezwungen, seine Berufstätigkeit aufzugeben. In Hamburg mietete er eine 2-Zimmer-Wohnung am Grindelberg 76 und Selma zog zu ihm. Nicht einmal mehr drei Jahre konnten die Geschwister so zusammenleben. Am 5. Januar 1940 starb Oscar Gottschalk im Jüdischen Krankenhaus an der Johnsallee infolge eines Darmtumors.

Zwei Monate später, im März 1940, verließ Ilse Beyer Deutschland und emigrierte in die USA. Vermutlich hatte ihr Bruder ihr ein Affidavit ausgestellt und bürgte für sie.

Weitere zwei Jahre später starb Hugo Beyer. Er erlitt auf der Straße einen Gehirnschlag. Nun war Selma Beyer ganz allein. Nach dem Tod des Bruders hatte sie weiter am Grindelberg bleiben können. Doch 1942 musste sie die Wohnung verlassen und ins "Judenhaus" an der Bundesstraße 43 ziehen. Dort erhielt sie auch den Deportationsbefehl. Am 15. Juli 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Sie starb nicht einmal vier Monate später an Herzmuskelschwäche. Selma Beyer wurde 68 Jahre alt. Vier Wochen nach ihrer Deportation versteigerte der Gerichtsvollzieher Bobsien im Auftrag der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten acht silberne Besteckteile aus Selma Beyers Hausrat. Den Netto-Erlös von 21,95 RM nahm Bobsien zugunsten der Stadt Hamburg ein.

Stand: Juli 2017
© Frauke Steinhäuser

Quellen: 1; 3; 4; 5; 7; 8; 9; StaH 214-1 Gerichtsvollzieherwesen 153; StaH 332-5 Standesämter 8180 u. 274/1942, 8168 u. 14/1940; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 30555, 2512, 2474 (darin die Fürsorgeakte Selma Beyer); 352-5 Todesbescheinigungen 1942 Standesamt 2a, Nr. 274 u. 1940 Standesamt 2a Nr. 14; StaH 552-1 Jüdische Gemeinden 992 e 2 Bd. 4 Transport nach Theresienstadt am 15. Juli 1942, Liste 1; www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/6114-selma-beyer.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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