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Inge Kersebaum * 1938

Langenhorner Chaussee 560 (Hamburg-Nord, Langenhorn)


ERMORDET IN DER
"KINDERFACHABTEILUNG"
DER HEIL- UND PFLEGEANSTALT
LANGENHORN

INGE KERSEBAUM
GEB. 17.12.1938
ERMORDET 9.1.1943

Weitere Stolpersteine in Langenhorner Chaussee 560:
Gerda Behrmann, Uwe Diekwisch, Peter Evers, Elke Gosch, Claus Grimm, Werner Hammerich, Marianne Harms, Hillene Hellmers, Helga Heuer, Waltraud Imbach, Hella Körper, Dieter Kullak, Helga Liebschner, Theo Lorenzen, Jutta Müller, Ingrid Neuhaus, Traudel Passburg, Edda Purwin, Angela Quast, Erwin Sänger, Hermann Scheel, Gottfried Simon, Monika Ziemer

Inge Kersebaum, geb. am 17.12.1938 in Hamburg, getötet am 9.1.1943 in der "Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn"

Asklepios-Klinik Nord-Ochsenzoll, Henny-Schütz-Allee, Gedenkort Haus 25, Einfahrt Langenhorner Chaussee 560

Inge Kersebaum kam am 17. Dezember 1938 in Hamburg zur Welt. Es war eine schwere Geburt. Sie war das zweite Kind von Hella Minna, geb. Putbreese, und dem Volksschullehrer Friedrich Christian Artur Kersebaum. Zunächst wuchs sie bei ihren Eltern in der Wohnung in Hamburg-Winterhude, Groothoffstraße 3, 1. Stock, mit ihren beiden älteren Geschwistern auf und wurde evangelisch-lutherisch getauft. Von ihrer Mutter wurde sie acht Monate lang gestillt.

Inges Entwicklung verlief nicht altersentsprechend. In Bauchlage konnte sie noch nicht den Kopf heben. Im Alter von neun Monaten wurde Inge am 21. August 1939 in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort gebracht und blieb dort bis Weihnachten. Die Ärzte diagnostizierten eine "Hypothyreose" (Schilddrüsenunterfunktion), die sie mit Thyreoidin-Tabletten behandelten und Gymnastik empfahlen. Zwischenzeitlich litt Inge an einer "Dyspepsie" (Verdauungsstörung), die aber behandelt werden konnte. In dem Bericht über den Aufenthalt in Rothenburgsort ist zu erfahren: "Das Allgemeinbefinden des Kindes wurde agiler, interessierter, es konnte schliesslich in Bauchlage den Kopf heben und spärliche Sitzversuche machen. […] Bei der Entlassung ist der Allgemeinzustand recht befriedigend. Die Mutter wurde angewiesen, Thyreoidin-Tabletten weiter zu geben."

Im Alter von drei Jahren wurde Inge am 20. Februar 1942 mit einem Attest von Dr. Keck (Sanitätsrat, Lappenbergsallee) und der Diagnose "Hypothyreosis" (mangelnde Versorgung des Körpers mit dem Schilddrüsenhormon Trijodthyronin) von ihrer Mutter in der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" gebracht. Ihr Vater, ehemals Volksschullehrer an der Schule Sachsenstraße, war zu dieser Zeit Soldat bei der Wehrmacht.

Dr. Knigges Bericht vom 15. April 1942 an den "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" in Berlin ließ keine Hoffnung zu: "Die Gehfunktion wurden erst mit 2 Jahren und 1 Monat erlernt. […] Es hat ein reizbares, bösartiges Temperament und schlägt andere Kinder, auf die es eifersüchtig ist. […] Ein Ansatz zum Sprechen ist bisher nicht beobachtet worden. Seiner Umgebung steht das Kind bisher gleichgültig oder ablehnend gegenüber. […] Es zerreist Wäsche und zerschlägt Spielsachen. […] Nach Krankheitsverlauf und vorliegendem Befund liegt eine Idiotie warscheinlich auf endokriner Grundlage vor. Das Kind eignet sich durchaus für eine Behandlung."

In der "Vorgeschichte" verzeichnete er: "Die Mutter und auch der Vater sind mit jeder Behandlung einverstanden." In einem Brief vom 10. August 1942 an Friedrich Knigge forderte Friedrich Kersebaum, da die bisherige Behandlung mit den Tabletten keinen Erfolg zeige: "Ich bitte Sie daher, mit einer stärker wirkenden Behandlungsmethode nicht länger zu zögern und werde mir erlauben, nach einiger Zeit wieder nach dem Verlauf anzufragen." Hella Kersebaum stand zu dieser Zeit kurz vor der Niederkunft ihres dritten Kindes.

Nach einer halbjährigen Beobachtungszeit blieb Knigge bei seiner Einschätzung und besiegelte die Tötung mit einem zweiten Schreiben vom 7. Oktober 1942 an den Reichsausschuss: "An der damals gestellten Diagnose‚ Geistige Entwicklungsstörung‘ bei Hypothyreose (Myxidiotie) hat sich nichts geändert. Auch in der inzwischen verflossenen Zeit ist eher ein Rückschritt wie ein Fortschritt zu verzeichnen. […] Ich weise nochmals daraufhin, dass ich bei dem vorliegenden körperlichen und psychischen Befund keine Bedenken trage, eine Behandlung, die von dem Vater von Anfang an dringend gewünscht wurde, baldmöglichst einzuleiten."

Die Protokolle der letzten Lebenstage von Inge belegen, dass die "Behandlung" von Friedrich Knigge durchgeführt wurde:
"6.I.43. Hat Fieber. Über den Lungen Bronchopneumatischer Befund.
9.I.43. Exitus letalis [Tödlicher Ausgang]
Diagnose: Myxoedem [ödemartige Schwellung der Unterhaut, verursacht durch
Schilddrüsenunterfunktion], Idiotie (Myxidiotie)".

Inge Kersebaum wurde in der der "Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" getötet. Am 9. Januar 1943 verstarb sie um 12:00 Uhr in Haus M 10, Frauenabteilung II. In dem Protokoll und der Todesbescheinigung gab Knigge als Todesursache "Myxoedem Idiotie Bronchopneumonie" an. Seine Unterschrift fehlt. Knigge tötete mit Luminal-Injektionen, einem Schlafmittel. Fieber und eine Lungenentzündung waren die Folge; die Kinder erlitten einen langsamen und qualvollen Tod. In den meisten Todesbescheinigungen, wie auch bei Inge, deutet der Zusatz "Bronchopneumonie" auf diese Tötung hin.

Inge wurde 4 Jahre, 3 Wochen und 2 Tage alt.

Um 13:30 Uhr erhielten die Eltern ein Telegramm: "Tochter Inge leider verstorben erbitten Geburts- und Elternheiratsurkunde zu Montag Anstalt Langenhorn".

Am 15. Januar 1943 wurde die Leiche von Inge Kersebaum um 12:00 Uhr von der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn", Haus 10, auf den Friedhof der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Bergstedt überführt. Die Beerdigung mit Pastor Hansen Petersen fand um 14:30 Uhr statt, Grablage A 6, Nr. 128. Ihre Grabstelle ist nicht mehr erhalten.

Nach dem Krieg gab Friedrich Knigge am 18. Januar 1946 in der Strafsache gegen ihn und andere wegen Mordes bzw. Sterbehilfe in der "Kinderstation" des Krankenhauses Langenhorn in einer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Hamburg zum Fall Inge Kersebaum als Rechtfertigung an: "An den Reichsausschuss habe ich zweimal berichtet. […] In beiden Fällen wies ich auf die absolute Unheilbarkeit und das durch ein Versagen wichtiger innersekretorischer Drüsen mitbedingte Gehirnleiden hin. […] Die Eltern äußerten ihren Unwillen über das Vorhandensein eines solchen Kindes und stellten von sich aus Betrachtungen an, warum man Kinder mit derartigen furchtbaren Zuständen nicht von ihrem Leiden erlösen könne. Ich erinnere mich noch, mit der Mutter dieses Thema besprochen zu haben. Eines besonderen Einverständnisses bedurfte es bei dieser Einstellung der Eltern nicht."

Der Vater Friedrich Kersebaum teilte in einem Brief zu der Vernehmung am 18. Januar 1948 u. a. mit: "Die Behauptungen des Herrn Dr. Knigge über unser Einverständnis sind unwahr und nie von uns gemacht worden. Meine Frau hing viel zu sehr an dem Kind um überhaupt auf solche Gedanken zu kommen und glaubte auch, das der Zustand des Kindes sich im 7. Lebensjahr ändern könnte, wie Herr Dr. Keck ihr einmal gesagt hatte." Seinen Aussagen nach wollte Inges Mutter, als sie die Nachricht vom Ableben ihrer Tochter bekam, sie noch einmal sehen und kam zwei bis drei Stunden später mit Inges Großmutter Gisela Kersebaum in das Krankenhaus. Dort verwehrte ihnen Friedrich Knigge den Zutritt: "[…] das Kind könne erst nach der Aufbahrung besichtigt werden, jetzt wäre das nicht möglich, da das Kind nicht mehr auf der Station wäre. Dieses Verhalten des Herrn Dr. Knigge befremdete sowohl meine Frau als auch meine Mutter sehr."

Stand: Januar 2023
© Margot Löhr

Quellen: StaH, 213-12 Staatsanwaltschaft, 0013 Bd. 060 Sonderakte Bd. 40, Schirbaum, Gottfried u. a., Akte 29554, 0017 Bd. 001, Bayer Dr. Wilhelm, u. a., S. 70, S. 138 f., S. 165–167; StaH, 332-5 Standesämter, Sterbefallsammelakten, 64247 u. 34/1943 Inge Kersebaum; StaH, 332-5 Standesämter, Sterberegister, 9942 u. 34/1943 Inge Kersebaum; StaH, 352-5 Standesämter, Todesbescheinigungen, 1943 Sta 1b Nr. 34 Inge Kersebaum; StaH, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2000/01, 64 UA 5 Akte 29554; Standesamt Hamburg 20, Geburtsregister, Nr. 2066/1938 Inge Kersebaum.

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