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Bereits verlegte Stolpersteine



Jenny Pincus und Emma Cohn
© Nishiura-Cohn

Jenny Pincus * 1871

Bornstraße 16 (Eimsbüttel, Rotherbaum)

1941 Minsk
ermordet

Weitere Stolpersteine in Bornstraße 16:
Emma Cohn, Sophie Oljenick, Gertha Pincus

Jenny Pincus, geb. 17.1.1871 in Hamburg, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk
Gertha Pincus, geb. 5.1.1872 in Hamburg, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Bornstraße 16

Jenny, Gertha, Rosalie und Leo Pincus waren Kinder des Hamburger Auktionators und Kaufmanns Jeremias Pincus, geboren 1838, gestorben 1896, und seiner ebenfalls aus Hamburg stammenden Ehefrau und Cousine Fanny Pincus, geborene Jacobsohn, geboren 1841, gestorben 1891. Die Eheleute hatten am 1. Februar 1868 in Hamburg standesamtlich geheiratet und wurden am 23. Februar 1868 von Oberrabbiner Stern in der Synagoge getraut. Auch die Großeltern, der aus Moisling bei Lübeck gebürtige Schneidermeister, Mützenmacher bzw. Kürschner Pincus Levin Pincus, geboren 1808, gestorben1884, und die Hamburgerin Betty Pincus, geborene Mathias, geboren 1807, gestorben 1890, sowie der Handelsmann Jermann Jacobsohn, geboren 1804, gestorben 1876, und Philippine Jacobsohn, geborene Philip, geboren 1805, gestorben 1892, hatten in Hamburg gelebt.

Nach Jenny Pincus, die in der 1. Elbstraße 45 geboren worden war, kamen die Geschwister Gertha am 5. Januar1872, Rosalie am 24. Dezember 1872 und Leo am 14. Februar 1877 zur Welt. Die Familie wohnte von 1867 bis 1880 am Großneumarkt 42 in Hamburg-Neustadt. Die Mutter Fanny Pincus starb 1891. Jeremias Pincus ging 1893 eine zweite Ehe ein mit Dora Unna, geboren am 22. Mai 1849 in Rendsburg. Die Familie wechselte in den 1890er Jahren in die Annenstraße 5 im Stadtteil St. Pauli, wo sie in einfachen Verhältnissen im Keller lebte. Später wohnte sie nach mehreren Wohnungswechseln in der Peterstraße 28 I. Stock in Hamburg-Neustadt zur Untermiete beim Handelsmann Elkan Gattel. Zur Familie Gattel gehörte der 1885 geborene Sohn Henry, der wie Gertha am 23. September 1940 in Brandenburg an der Havel ermordet wurde (siehe dort).

In fußläufiger Nähe zur Peterstraße 28 befand sich in der Hausnummer 17a von 1853 bis 1919 die Synagoge der Vereinigten Alten und Neuen Klaus; in der nahegelegenen Straße Kohlhöfen 17/18 war seit 1859 die Hauptsynagoge der Deutsch-Israelitischen Gemeinde.

Jeremias Pincus, Gerthas Vater, starb im März 1896 im Israelitischen Krankenhaus und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf neben seiner ersten Ehefrau Fanny beigesetzt. Seine zweite Ehefrau Dora Pincus, von der er zuletzt getrennt gelebt hatte, starb 1900 in Hamburg.

Jenny Pincus besuchte die Israelitische Töchterschule bis zum 14. Lebensjahr (also bis 1885). Sie erlebte die Einweihung des Schulneubaus im April 1884 in der Karolinenstraße 35 noch als Schülerin. 1886 begann sie eine Lehre bei der Firma Gebr. Heilbut. Danach war sie zunächst als Verkäuferin und später als Einkäuferin und Leiterin der Haushaltsabteilung beim Kaufhaus Tietz (ab 1897 am Großen Burstah und ab 1912 am Jungfernstieg) tätig, wo sie 28 Jahre lang blieb. Sie erhielt ein für Frauen stattliches Gehalt von monatlich 450 RM zuzüglich Tantiemen. Befreundet war sie mit der alleinstehenden Buchhalterin Emma Cohn, geboren am 2. Oktober 1874 in Hamburg.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde auch das im jüdischen Besitz befindliche Kaufhaus Tietz zur Zielscheibe der ersten großen antisemitischen Aktionen, nicht nur, weil es in jüdischem Besitz war, sondern auch, weil sich die nationalsozialistische Kampagne gegen Warenhäuser insgesamt richtete. Am 11. März 1933 sperrten Angehörige der SA den Zugang zum Warenhaus Tietz ab, die Polizei schritt nicht ein. Am 1. April 1933 gab es auch in Hamburg zentral gelenkte Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Anwälte, deren Einrichtungen mit Parolen wie "Kauft nicht beim Juden" beschmiert wurden. Ab dem 1. April 1933 wurde den Hamburger Warenhäusern Tietz, Karstadt, Woolworth und EPA (Einheitspreis-AG) vom Hamburger Senat ein 20prozentiger Strafaufschlag zur Gewerbesteuer auferlegt ("Warenhaussteuer"). Die im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1929 stark rückläufige Nachfrage hatte auch beim Warenhaus Tietz zu massiven Umsatzeinbrüchen und daraus resultierend zu Liquiditätsengpässen geführt. Der Entschuldungsplan von März 1933 war bereits klar nationalsozialistisch ausgerichtet und zielte auf die Verdrängung der jüdischen Geschäftsführer und Mehrheitseigentümer Georg Tietz (Berlin), Martin Tietz (Berlin) und Hugo Zwillenberg (Berlin) ab: Am 8. September 1933 wurde den leitenden jüdischen Mitarbeitern die Prokura entzogen und "arischen" Mitarbeitern übertragen. Die ersten langjährigen jüdischen Angestellten wurden entlassen. Dresdner Bank, Deutsche Bank sowie Commerz- u. Privat Bank AG erwarben die Aktien der Familie Tietz. Die im staatlichen Besitz befindliche Dresdner Bank, die gute Kontakte zur NSDAP unterhielt, übernahm federführend die "Gleichschaltung der Zentralverwaltung" des 1897 gegründeten Berliner Kaufhauskonzerns Tietz mit seinen Niederlassungen in Hamburg, München, Stuttgart, Karlsruhe, Straßburg, Gera und Weimar mit insgesamt rund 18 000 Beschäftigten. In der Folge verließen die ehemaligen jüdischen Mehrheitseigentümer den Konzern und auch Deutschland. 1935 wurde allen jüdischen Beschäftigten gekündigt, darunter in der Hamburger Niederlassung auch Jenny Pincus.

Nun arbeitslos geworden, zog die alleinstehende Jenny Pincus ihre Arbeitsstelle. Im Oktober 1935 mit ihrer Freundin Emma Cohn, mit der sie zusammenwohnte, aus der Isestraße 98 (Harvestehude) in die Lenhartzstraße 3 I. Stock (Eppendorf). Aufgrund ihrer langjährigen Betriebszugehörigkeit bezog Jenny Pincus ab März 1938 ein Ruhegeld von knapp 90 Reichsmark, das ab Juni 1941 auf 95,60 RM erhöht wurde. Ebenfalls im ersten Stock dieses Hauses hatte der Kaufmann Carl Löwenberg, geboren 1869, gestorben 1942, seine Wohnung, ein Stolperstein vor dem Haus erinnert an ihn.

Ab 15. September 1938 wohnte Jenny Pincus in der Bornstraße 16 (einem zum "Judenhaus" erklärten Gebäude) im Hochparterre mit bzw. bei ihrer Freundin Emma Cohn.

Von hier aus wurden beide Frauen am 18. November 1941 ins Getto Minsk deportiert. Der Deportationszug verließ den Hannoverschen Bahnhof in Hamburg und erreichte zwei Tage später die besetzte weißrussische Hauptstadt Minsk. Von den rund 7000 deutsch-jüdischen Häftlingen im Getto Minsk überlebte nicht einmal ein Dutzend den Hunger, die Infektionskrankheiten und die Erschießungsaktionen der SS. Die genauen Umstände und das Datum des Todes von Jenny Pincus sind nicht bekannt. Jenny Pincus war vermutlich längst gestorben oder ermordet worden, als ihr Name noch 1942 im Hamburger Adressbuch unter der Anschrift Bornstraße 16 wie folgt zu finden war: "Jenny Sara Pincus". Sie wurde vom Amtsgericht Hamburg auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt.

Gertha Pincus, geboren am 5. Januar 1872 in Hamburg, das zweite Kind von Jeremias und Fanny Pincus, litt an einer psychischen Krankheit bzw. an einer geistigen Behinderung. Als das Amt für Wohlfahrtsanstalten die Namen der im Versorgungsheim Farmsen lebenden Männer und Frauen jüdischer Abstammung der Staatsverwaltung der Hansestadt Hamburg mitteilte, war Gertha Pincus unter ihnen. Diese Meldung war veranlasst durch eine im Frühjahr/Sommer 1940 begonnene, gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten gerichtete Sonderaktion der "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Gertha Pincus traf am 18. September 1940 in Langenhorn ein. Am 23. September 1940 wurde sie mit weiteren 135 Patientinnen und Patienten aus norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und ermordete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Es ist nicht bekannt, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Gertha Pincus’ Tod erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten fast alle Patienten am 12. Januar 1940 ermordet hatten. Auch gab es dort kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Der Bruder der drei Schwestern, Leo Pincus, geboren am 14. Februar 1877 in Hamburg, war u. a. von 1896 bis 1910 als Handlungscommis (Handlungsgehilfe), später als Einkäufer und ab 1920 in eigener Firma als Agent mit Textilwaren-Vertretungen tätig (u. a. für die Bandweberei H. A. Nierhaus). Er heiratete 1906 Mathilde Hübener, geboren 1880, gestorben 1965. Die Eheleute lebten u. a. von 1910 bis 1928 in der Gosslerstraße 65 in Eppendorf und ab 1929 in der Innocentiastraße 47 in Harvestehude. Leo Pincus war 1915 als Soldat eingezogen worden. Er gehörte seit 1913 der Deutsch-Israelitischen Gemeinde sowie dem orthodoxen Synagogenverband an. Die von den Nationalsozialisten gegenüber jüdischen Gewerbetreibenden verfügten wirtschaftlichen Einschränkungen führten bei Leo Pincus zu einem spürbaren Geschäftsrückgang. Er zog nun mit seiner Ehefrau aus der 4 ½-Zimmer-Wohnung in der Innocentiastraße 47 in eine 3 ½-Zimmer-Wohnung in der Bornstraße 28 im Stadtteil Rotherbaum. Im Zuge des Novemberpogroms ("Reichskristallnacht") wurde er am 9. November 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt und misshandelt. Ende Dezember 1938 wurde er entlassen. Am 29. November 1939 emigrierten Mathilde und Leo Pincus mit einer italienischen Schiffslinie von Genua nach Valparaiso/Chile. In Santiago de Chile lebte ein Cousin der Ehefrau, der sie aufnahm. Sie lebten in finanzieller Not, erst ab 1941 fand Leo Pincus eine gering bezahlte Inkassotätigkeit. Das Klima und die traumatischen Erlebnisse im NS-Deutschland machten sich bei ihm in Form von gesundheitlichen Beschwerden bemerkbar; Leo Pincus starb 1946 in Santiago de Chile an einem verfolgungsbedingten Herzinfarkt. Seine Witwe Mathilde Pincus kehrte 1951 nach Hamburg zurück, auch sie vertrug das Klima in Chile nicht und litt unter asthmatischen Beschwerden.

Eine weitläufige Verwandtschaft zu den vier Geschwistern Martin Pincus (siehe www.stolpersteine-hamburg.de), Selma Pincus, Ella Valk, geborene Pincus und Rieckchen Weil, geborene Pincus ist denkbar, da beide Familienzweige aus Moisling bei Lübeck stammten.

Für Gertha Pincus ist ein Stolperstein neben dem von Jenny Pincus in Hamburg-Rotherbaum, Bornstraße 16, geplant. Dort liegt auch der Stolperstein für Jenny Pincus’ Freundin Emma Cohn.


Stand: Oktober 2018
© Björn Eggert/Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 231-7 Amtsgericht Hamburg, Handels- u. Genossenschaftsregister B 1995–76 (Zweigniederlassung Hermann Tietz, 1896–1935); 332-3 Zivilstandsaufsicht 1866–1875 B 16 Heiratsregister Nr. 150/1868 Jeremias Pincus/Fanny Jacobsohn, A 103 Geburtsregister Nr. 380/1871 Jenny Pincus, A 123 Geburtsregister Nr. 145/1872 Gertha Pincus, 332-5 Standesämter 17 Sterberegister Nr. 2649/1876 Jermann Jacobsohn, 161 Sterberegister Nr. 524/1884 Pincus Lewin Pincus, 275 Sterberegister Nr. 1300/1890 Betty Pincus geb. Mathias, 297 Sterberegister Nr. 2130/1891 Fanny Pincus geb. Jacobsohn, 327 Sterberegister Nr. 3602/1892 Philippine Jacobsohn geb. Philip, 395 Sterberegister Nr. 444/1896 Jeremias Pincus, 466 Sterberegister Nr. 893/1900 Dora Pincus geb. Unna, 1904 Geburtsregister Nr. 847/1877 Leo Pincus, 8610 Heiratsregister Nr. 490/1901 Rosalie Pincus/Isaac Siegmund Cohen, 8644 Heiratsregister Nr. 50/1906 Leo Pincus/Mathilde Hübener; 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, Bürger-Register 1855 (Schneidermeister Pincus Levin Pincus); 332-8 Alte Einwohnermeldekartei 1892–1925 Jeremias Pincus, Rosalie Pincus; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 1391 Jenny Pincus, 5007 Mathilde Pincus geb. Hübener, 3422 Leopold Bernstein, Tietz-Angestellter; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 8. 1939 bis 27. 1. 1941; Jüdischer Friedhof Ohlsdorf, Gräberkartei (Jeremias Pincus, Fanny Pincus geb. Jacobsohn, Pincus Lewin Pincus, Betty Pincus geb. Mathias); Stadtarchiv Gera, Auskunft vom 31. 3. 2014 zur Namensänderung des Tietz-Kaufhauses; Stadtarchiv Weimar, Auskunft vom 22. 4. 2014 zur Namensänderung des Tietz-Kaufhauses. Meyer, Beate, Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933–1945. Geschichte. Zeugnis. Erinnerung, Göttingen 2006, S. 62–64 (Deportationsziel Minsk), S. 174 (Kurzbiographie Jenny Pincus). Bajohr, Frank, "Arisierung" in Hamburg, Hamburg 1997, S. 55–57 (Kaufhaus Tietz). Enzensberger, Hans Magnus (Hrsg.)/Bischoff, Ulrike, Omgus. Ermittlungen gegen die Dresdner Bank 1946, Frankfurt 1986, S. XXXV (Tietz-Konzern). Hamburger Börsenfirmen, Hamburg 1935, S. 663 (Leo Pincus, Agent für Textilwaren, Lange Mühren 9), S. 852 (Hermann Tietz & Co.).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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