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Bereits verlegte Stolpersteine



Erika Timm, 1944
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Erika Timm * 1943

Andreasstraße 35 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
ERIKA TIMM
JG. 1943
EINGEWIESEN 1944
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 3.8.1944
KINDERFACHABTEILUNG
HEILANSTALT UCHTSPRINGE
ERMORDET 24.8.1944

Weitere Stolpersteine in Andreasstraße 35:
Siegmund Czaczkes, Leonie Czaczkes, Gregor Czaczkes

Erika Timm, geb. am 16.5.1943 in Hamburg, "verlegt" am 3.8.1944 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die "Landesheilanstalt" Uchtspringe, gestorben am 24.8.1944

Andreasstraße 35, Winterhude

Erika Timm kam am 16.5.1943 in Hamburg zur Welt. Sie war das dritte Kind von Ewald Timm, geboren am 31.7.1900, und Auguste, geb. Siegmüller, geb. am 8.5.1904. Die Eheleute hatten 1938 in Bad Lauterberg im Harz geheiratet. Der Vater, gebürtiger Hamburger, betrieb ein Lebensmittelgeschäft in Winterhude in der Andreasstraße 35, bis er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Seine Frau, in Hameln geboren, hatte vor der Heirat als Sekretärin gearbeitet. Erikas Bruder Manfred, geb. am 6.11.1939, war als Frühgeburt zur Welt gekommen und am 25.11.1939 in der Kinderabteilung des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg verstorben. Ihre Schwester Annegret wurde am 9.4.1942 geboren.

Kurz nach Erikas Geburt bemerkte der Kinderarzt K. H. Keck, der seine Praxis in der Gryphiusstraße 5 betrieb, dass sie mit einem Down-Syndrom (Trisomie 21) zur Welt gekommen war und überwies sie am 31. März 1944 zur Aufnahme in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Am 14. April 1944 wurde Erika in Alsterdorf aufgenommen. Sie kam zunächst auf die Kinder-Krankenstation.

Der Anstaltsarzt Gerhard Schäfer bestätigte die Diagnose. In seinem ärztlichen Gutachten beschrieb er Erika als "altersgemäß entwickeltes Kind in gutem Ernährungszustand". Bei ihrer Aufnahme habe sie kein Wort gesprochen, aber Anstrengungen dazu gemacht. Sie sei von freundlichem Charakter und lache, wenn man sich mit ihr beschäftige.

Das Personal hielt in Erika Timms Patientenakte fest, dass sie bei ihrer Aufnahme "am Zeug", also der Kleidung, und am Körper sehr sauber war. Sie habe auf Geräusche und Bewegungen reagiert. Vier Monate später, am 3. August 1944 wurde vermerkt, sie sei ein sehr schwaches Kind, habe in sich noch gar keinen Halt, könne noch nicht sitzen. Erika wurde mit Breikost gefüttert, aß aber nur sehr wenig. Sie habe aufmerksam umher gesehen und mit ihren Händen und Füßen oder gern mit einem Band gespielt.

Erikas Mutter war in der Zwischenzeit aus dem bombengefährdeten Hamburg nach Bad Lauterberg in den Harz gezogen. Dort erhielt sie ein Schreiben des Gesundheitsamtes Osterode mit der Aufforderung, ihre Tochter in die "Kinderfachabteilung" der "Landesheilanstalt" Uchtspringe bei Stendal "zur Behandlung" einzuliefern. Offenbar hatten die Alsterdorfer Anstalten dies durch eine Meldung Erikas an den "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" veranlasst.

Im Rahmen der nationalsozialistischen "Kinder-Euthanasie" waren Ärzte, Hebammen, Krankenhäuser und Entbindungsanstalten sowie Mitarbeiter der Fürsorgebehörde seit August 1939 verpflichtet, Neugeborene und Kleinkinder mit bestimmten "schweren angeborenen Leiden" – dazu zählten auch Kinder mit Down Syndrom – per Meldebogen zu erfassen und den zuständigen Gesundheitsämtern zu melden (später wurde das Alter der Kinder angehoben von zunächst bis drei auf sechzehn Jahre). Sogenannte Gutachter des obigen "Reichsausschusses" in Berlin bestimmten anhand der Meldebögen über das Schicksal der Kinder. Setzten sie auf einen Meldebogen zwei rote Pluszeichen, bedeutete dies in der NS-Diktion für die örtlich Verantwortlichen die Ermächtigung zur "Behandlung", in Wahrheit jedoch zur Tötung des Kindes.

Der Begriff "Kinderfachabteilung" wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der "Kinder-Euthanasie" dienten, also der Forschung an und Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig behindert waren.

Auguste Timm informierte am 23. Juli 1944 die Leitung der Alsterdorfer Anstalten: "Ich erhalte durch das zuständige Gesundheitsamt Osterode/Harz, als Vermittler des ‚Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden, Berlin W9’ die Aufforderung, unser Kind Erika, das z. Zt. bei Ihnen in Pflege ist in die Kinderfachabteilung bei der Landesheilanstalt Uchtspringe Kr. Stendal zur Behandlung zu bringen. Mein Mann ist z. Zt. gerade im Urlaub und wir sind gewillt, das Kind nach dort zu bringen. Im Augenblick erwarten wir von Uchtspringe Angabe des Aufnahmetages und ich schreibe Ihnen heute um Sie zu informieren. Gleichzeitig bitte ich aber um umgehende Mitteilung, wieweit Erika inzwischen gediehen ist und ob noch ein Transport ohne Kinderwagen, vielleicht nur mit einem grossen Kopfkissen, möglich ist. Ich lebe ja z.Zt. nicht in Hamburg, das erschwert alles sehr. Ich wäre daher für einen Rat dankbar." Ein Antwortschreiben findet sich nicht in der Patientenakte.

Die "Landesheilanstalt" Uchtspringe diente in der ersten Phase des "Euthanasie"-Programms bis Mitte 1941 als eine Zwischenanstalt für die Tötungsanstalten Bernburg und Brandenburg. Im Juni 1941 erhielt die Anstalt unter der Leitung des Direktors Ernst Besse eine "Kinderfachabteilung", in der Tötungen vorgenommen wurden. Die Kinder starben durch überdosierte Gaben von Medikamenten wie Luminal oder Morphium.

Erika Timm wurde am 3. August 1944 von ihren Eltern nach Uchtspringe gebracht. Sie starb drei Wochen später, am 24. August 1944, im Alter von fünfzehn Monaten.

Erika Timm ist nach heutigem Kenntnisstand das einzige Kind, das aus den Alsterdorfer Anstalten in die "Landesheilanstalt" Uchtspringe verlegt wurde.

Stand: August 2020
© Susanne Rosendahl

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 2943 Nr. 421/1900; StaH 332-5 Standesämter 13282 Nr. 1745/1900; StaH 332-5 Standesämter 1114 Nr. 595/1939; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 114 Timm, Erika; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 3. Aufl. Stuttgart 2016; Andreas Kinast, "Das Kind ist nicht abrichtfähig …" Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943 Hrsg.: Landschaftsverband Rheinland, SH-Verlag, 2010, www.beckassets.blob.core.windows.net (Zugriff 6.11.2019); Hildegard Wesse; Kriemhild Synder, Die Landesheilanstalt Uchtspringe und ihre Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen in Psychiatrie des Todes, NS-Zwangssterilisation und "Euthanasie" im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, S.75, stgs.sachsen-anhalt.de (Zugriff 6.11.2019).

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