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Bereits verlegte Stolpersteine



Edith Gerechter
© Privatbesitz

Edith Gerechter (geborene Fliess) * 1893

Karolinenstraße 5 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)

1941 Minsk

Weitere Stolpersteine in Karolinenstraße 5:
Hugo Gerechter, Erich Joseph Littmann, Sora Sonja Littmann, Lotte Littmann

Edith Gerechter, geb. Fliess, geb. 4.1.1893 in Stolp, deportiert nach Minsk am 8.11.1941
Hugo Gerechter, geb. 25.4.1891 in Hamburg, deportiert nach Minsk am 8.11.1941

Karolinenstraße 5 (Carolinenstraße 5, Haus 6)

Edith Gerechter, geb. Fliess, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Stolp in Pommern – heute S upsk in Polen. Sie hatte zwei Brüder und mehrere Schwestern. Ihre Mutter führte in Stolp ein großes Leinenwaren- und Wäschegeschäft und beschäftigte mehrere Hausangestellte. Später zog sie in ein Altenheim nach Berlin, wo sie Ende 1933 starb. Edith schloss eine Berufsausbildung ab und kam als gelernte Hutmacherin nach Hamburg, um eine Stelle zu suchen. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann, Hugo Gerechter, kennen und gab ihre Berufstätigkeit auf.

Hugo stammte aus einer jüdischen Arbeiterfamilie – seine Eltern hießen Hartwig und Bieske Gerechter. Er hatte drei Geschwister: Berthold, Röschen und Beate. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für das Deutsche Reich. Nach dem Krieg, im März 1919, meldete er einen Betrieb als Schlosser in der Dehnheide 141 an. Hier befand sich auch die Wohnung der Gerechters.

Edith brachte am 4. Februar 1921 ihr erstes gemeinsames Kind, den Sohn Heinz, zur Welt. Hugo machte sich als Kunst- und Bauschlosser zunächst in der Stückenstraße, später am Herrengraben in der Neustadt auch als Maschinenhändler selbstständig. Am 14. Mai 1925 wurde die Tochter Ruth geboren. Die Familie war – wie bereits die Vorfahren Hugo Gerechters – bis ca. 1931 in der Marienthaler Straße 113 in Wandsbek ansässig. Dann zog sie in eine größere Wohnung mit Balkon in der Schellingstraße. Ruth besuchte die Volksschule Rossberg.

Die Weltwirtschaftskrise belastete Anfang der 1930er Jahre die Werkstatt Gerechters, die er mit seinem Kompagnon, Jacob Neugarten, betrieb. Nach 1933 erlitt das Geschäft auch wegen der zunehmenden antisemitischen Diskriminierungen Einbußen – die Geschäftskontakte brachen zum Teil unvermittelt ab. Aus der Sicht der Tochter Ruth ging "es jeden Tag ums wirtschaftliche Überleben".

Im April 1935 zog die Familie Gerechter in die Nähe des Betriebes. Sie wohnte jetzt in einer billigeren Drei-Zimmer-Wohnung in Haus 6 der Karolinenstraße 5, um – so die Absicht Hugos – Geld für eine Auswanderung nach Palästina zu sparen. Edith hingegen hatte Einwände gegen eine Emigration. Ihre Gesundheit war nicht stabil genug und Ruth schrieb später: "Sie hatte Angst vor Arabern ... die immer wieder jüdische Siedler in Palästina überfallen."

Einige Häuserblocks entfernt befand sich die Israelitische Töchterschule, die Ruth ab Mai für die nächsten drei Jahre besuchte. Während ihr Bruder Heinz wenige Monate nach dem Umzug seine Schulzeit beendete und seinem Vater im Geschäft half, lernte Ruth erstmals etwas über die Inhalte des jüdischen Glaubens. Sie erlebte ihre Schule als einen vor Diskriminierung und Gewalt schützenden Ort, an dem niemand den Kontakt zu ihr abbrechen würde, weil sie Jüdin war.

Doch im Oktober 1938 wurden etliche polnische Mitschülerinnen nach Zbaszyn abgeschoben. Und kurz darauf, in der Nacht vom 9. auf den 10. November erlebte sie, wie jüdische Geschäfte in der Carolinenstraße geplündert und zerstört wurden. Sie warnte ihren Vater, als sie zwei Männer in Ledermänteln den Hauseingang betreten sah. So konnte er über das Dach flüchten und fand bei Bekannten in Billstedt Zuflucht.

Edith und Hugo Gerechter wussten nun – so vermutete Ruth in ihrem Buch "Langer Weg zur Freiheit" –, dass ihnen eine Ausreise nicht mehr gelingen würde und setzten alles dran, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Lord-Baldwin-Fund finanzierte Heinz’ und Ruths Ausreise nach England am 14. Dezember 1938.

Kurz darauf, im Januar 1939, wurde Hugo Gerechter gezwungen, sein Geschäft aufzugeben. Er übte noch etwa zwei Jahre lang eine unselbstständige Tätigkeit aus, fand "jedoch keine nachhaltige und ausreichende Lebensgrundlage" – so der Regierungsinspektor Fischer in seinen Ausführungen zu der "Entschädigungssache der Erbengemeinschaft nach Hugo Gerechter". Dies muss für den tatkräftigen Handwerker und meist gut gelaunten, kontaktfreudigen Mann schwer zu ertragen gewesen sein.

Hugo Gerechter war mit Heinz Severin befreundet. Dessen Sohn Günther erinnert sich gerne daran, dass Gerechter nach der Arbeit ins Zigarettengeschäft des Vaters in der Karolinenstraße 4 kam, um dort mit ihm zu klönen. Eines Tages, nachdem der Junge erfolglos versucht hatte, mit einer Kombizange eine Mutter zu lösen, erklärte ihm der Vater: "Die Zange hat Kraft, wenn Hugo oder ich sie in der Hand haben." So wurde Hugo Gerechter dem Kind zum nahezu unerreichbaren Vorbild eines handwerklich geschickten und starken Mannes.

Edith zerbrach an ihrem Schmerz über die Trennung von Ruth. In etlichen Briefen an die Tochter brachte sie ihre Sehnsucht und ihre Sorge um sie zum Ausdruck. Ruth schrieb später in ihrem Buch, dass die Mutter es bereute, "ihr Kind nicht bei sich behalten zu haben". Sie selbst musste sich währenddessen in England zurechtfinden und wollte "mit der schlimmen Vergangenheit und den jetzigen Verhältnissen in Deutschland ... nichts mehr zu tun haben". Deshalb antwortete sie nur selten.

Bis kurz vor der Deportation im Jahr 1941 unterstützte eine befreundete Nachbarin die Eheleute. Sie brachte Edith, die auf der Straße zusammengebrochen war, trotz "Betreuungsverbot ins Krankenhaus" – so schrieb Ruth Gerechter in ihrer Biografie. Jüdische Menschen durften in staatlichen Krankenhäusern nicht mehr behandelt werden. Die Nachbarin musste sich anschließend vor der Gestapo für ihre Beziehungen zu Juden rechtfertigen. Fortan traute sie sich nicht mehr, mit den Nachbarn zu sprechen, stellte aber nach Einbruch der Dunkelheit Lebensmittel auf die Fensterbank der Gerechters.

Günther Severin berichtet, dass Hugo Gerechter noch nach Erhalt des Deportationsbefehls an seinen Freund Heinz dachte und ihm ein Geschenk machte: "Die wollen uns irgendwo im Osten ansiedeln. Wir haben Bettwäsche, die könnt ihr nehmen."

© Christiane Jungblut

Quellen: 1; 2; 4; 5; 8; AB 1936, T. 1, 1938, T. 1; StaH 314-15 OFP, Abl. 1998/1, G 644; StaH 332-8 Meldewesen A51/1, K 2463; K 2514; StaH 351-11 AfW, Abl. 2008/1, 250491 Gerechter, Hugo; StaH 362-6/10 Talmud-Tora-Schule, TT 22; StaH 522-1 Jüd. Gemeinden, 992 e 1 Band 2; Ackermann/Gerechter, Langer Weg, 1991; Telefonat mit Günther Severin am 11.3.2008.

Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

Hier abweichend: (2) Bundesarchiv Berlin, R 1509 Reichssippenamt, Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939

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