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Bereits verlegte Stolpersteine



Lydia und Gottfried Wolff
© Privatbesitz

Lydia Wolff (geborene Lychenheim) * 1878

Isestraße 69 (Eimsbüttel, Harvestehude)

Freitod 18.07.1942 Hamburg

Weitere Stolpersteine in Isestraße 69:
Liesel Abrahamsohn, Johanna Adelheim, Henry Blum, Rosalie Blum, Louis Böhm, Gertrud Böhm, Bertha Brach, Hillel Chassel, Irma Chassel, Michael Frankenthal, Erna Gottlieb, Ella Hattendorf, Frieda Holländer, Gertrud Holländer, Henriette Leuschner, Elfriede Löpert, Helene Löpert, Walter Löpert, Ella Marcus, Ernst Maren, Josephine Rosenbaum, Günther Satz, Selma Satz, Else Schattschneider, Gottfried Wolff

Lydia Wolff, geb. Lychenheim, geb. 5.10.1878 in Richtenberg, Freitod am 14.7.1942
Dr. Gottfried Wolff, geb. 18.10.1870 in Lübtheen, Freitod am 14.7.1942

Isestraße 69

Gottfried Wolff stammte aus einer alten Mecklenburger Kaufmannsfamilie. Er wurde in Lübtheen geboren und hatte neun Brüder und eine Schwester. Er hatte sich aus der jüdischen Tradition gelöst und war in die Evangelische Kirche eingetreten. Seine Kinder und Enkel wurden evangelisch getauft und konfirmiert. Es sollte sich zeigen, dass dieser Schritt die Familie nicht davor bewahrte, von den Nationalsozialisten als Juden behandelt zu werden.

Gottfried Wolff studierte Jura und ließ sich als Rechtsanwalt und Notar in Parchim nieder. Seit 1901 war er am Landgericht Schwerin zugelassen. 1913 erwarb er das Grundstück und das Haus Blutstraße 8, in dem er die Wohnung für die Familie und seine Kanzlei einrichtete.

Die Wolffs hatten drei Kinder. Annemarie, geboren 1905, nahm sich später das Leben, und Käthe, (später verheiratete Freise), geboren 1909, kam wie ihre Eltern in der Schoah ums Leben. Der Sohn Hans, geboren 1907, war als erster in der Familie von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffen. Er wurde im Februar 1933 in Hamburg verhaftet. Seine Tätigkeit im Sozialistischen Studentenbund und in der SPD wurden ihm zur Last gelegt. Er kam zuerst in das KZ Fuhlsbüttel und wurde von dort in das KZ Oranienburg (später Sachsenhausen) gebracht. Am 15. September 1934, einen Tag vor seinem 26. Geburtstag, kam er nach eineinhalb Jahren Haft frei. Später wanderte er nach Südamerika (Venezuela) aus.

Gottfried Wolff konnte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch weiter in seiner gut gehenden Praxis in Parchim tätig sein. 1935 jedoch wurde ihm die Zulassung als Notar entzogen. Bis 1938 konnte er noch als Anwalt arbeiten. Danach durften jüdische Rechtsanwälte als "Konsulenten" nur noch jüdische Klienten juristisch vertreten und beraten.

In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde seine Kanzlei zertrümmert, Bücher und Akten auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Auch die Wohnung wurde verwüstet. Alle 15 jüdischen Einwohner Parchims wurden am 10. November in "Schutzhaft" genommen. Helmut Wolff, der damals fast fünfjährige Enkel Gottfried Wolffs, erinnert sich im Jahr 2020: "Nach der Zerstörung unseres Hauses…landeten meine Großeltern, meine Mutter und ich in irgendeinem Gebäude in einem Raum mit einer Durchgabeklappe z.B. für Essen und einem sehr kleinen, vergitterten Fenster." Sie wurden wahrscheinlich in den Zellen des Stadtpolizeiamtes oder des Amtsgerichtsgefängnisses eingesperrt. Die Frauen und Kinder dürften spätestens am nächsten Morgen freigelassen worden sein. Die fünf inhaftierten Männer wurden am 11. November in das Gefängnis Altstrelitz abtransportiert. Gottfried Wolff wurde dort bis zum 17. November festgehalten.

Im Dezember 1938 musste Gottfried Wolff das Haus und das Grundstück zwangsweise verkaufen, behielt aber das Wohnrecht noch bis zum 31. Dezember 1939. Der Weg führte 1938 nach Hamburg. Die Wolffs hofften, in der Anonymität der Großstadt der Verfolgung weniger ausgesetzt zu sein als in Parchim. Und sie hatten den Wunsch auszuwandern. In der Hansestadt verhandelte Gottfried Wolff vergeblich mit den britischen und irischen Konsulaten über eine mögliche Ausreise dorthin. Auch der Wunsch in die USA zu gehen, wo ein Bruder Lydias lebte, ging nicht in Erfüllung.
Eine wichtige Verbindung nach Hamburg lief offenbar über die Tochter Annemarie. Deren beste Freundin war die Schauspielerin Ilse Alexander, geborene Brach. Die beiden Frauen waren in Mecklenburg teilweise gemeinsam aufgetreten. Ilses Mutter, Bertha Brach, wohnte bei Ihrer Schwester Selma Satz in der Isestraße 69. Auch ihr Onkel Michael Frankenthal lebte seit dem Tod seiner Frau dort.

Selma Satz (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) war verwitwet, ihre beiden Söhne lebten 1939 nicht mehr mit in der Wohnung. Werner war im Dezember 1938 in die USA ausgewandert. Sein jüngerer Bruder Günther Satz (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) besuchte die jüdische Gartenbauschule in Ahlem. Da bot es sich für Selma Satz an, einen Teil der großen Wohnung unterzuvermieten, um damit das Einkommen zu verbessern. Der Zugang zu ihrem Vermögen war nämlich, wie für alle vermögenden Juden, gesperrt und sie durfte pro Monat nur eine bestimmte Summe zur Sicherung des täglichen Bedarfs abheben.

Im Jahr 1939 kamen Lydia und Gottfried Wolff zunächst dreimal zu Selma Satz als Hausgäste zu Besuch, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, zu Pfingsten 1939 luden die Wolffs Selma Satz zu sich nach Parchim ein, was sie nicht wahrnahm. Am 26. Juli 1939 schrieb sie an ihren Sohn: "Familie Wolff sind auf einige Wochen wieder zu Besuch bei mir, ich freue mich immer mal wieder mit den Leuten zusammen sein zu können…"

Zum 31. Dezember 1939 meldete sich Gottfried Wolff in Parchim ab und kam Anfang Januar 1940 mit seiner Frau endgültig nach Hamburg und zog offiziell als Untermieter bei Selma Satz in der Isestraße 69 ein. Am 25. Januar folgte Annemarie Wolff mit ihrem 1933 geborenen Sohn Helmut. Sein Vater, ein nichtjüdischer Anwalt und Korvettenkapitän, den Annemarie Wolff Anfang der 1930er Jahre kennen gelernt hatte, hatte sich geweigert, zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft eine Jüdin zu heiraten.

Die Familie konnte die beiden großen vorderen Zimmer und das Mädchenzimmer in Selma Satz‘ Wohnung beziehen. 1940 hielt sich für kurze Zeit auch die zweite Tochter der Wolffs, Käthe Freise, die in Thüringen lebte, in der Isestraße 69 auf.

In den Briefen der Selma Satz wird Annemaries Freundin Ilse Alexander häufig erwähnt: Sie schickte Geschenke an Enkel Helmut und besuchte die Familie in der Isestraße. Für Helmut war sie wie eine Tante. Sie war mit dem Schauspieler Georg Alexander verheiratet. Er gehörte zur nationalsozialistischen Elite der Filmwelt in Berlin. Durch diese Mischehe war Ilse geschützt.

Am 11. September 1940 kehrte Selmas Sohn Günther Satz in die Isestraße zurück. Er hatte die Schule in Ahlem verlassen müssen. Nun wurde es eng in der großen Wohnung. Das Verhältnis der beiden Familien zueinander blieb gut, auch wenn die Wolffs sich jetzt häufiger in ihren eigenen Wohnungsteil zurückzogen. Schon am 18. Oktober 1939 hatte Gottfried Wolff an seinem Geburtstag seine Vermieter zu einem gemütlichen Teenachmittag eingeladen. Ein Jahr später lud er zu seinem 70. Geburtstag auf ein Glas Wein zum Umtrunk ein.

Er war oft mit Michael Frankenthal und den Brüdern Hermann und Moritz Dugowski (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) aus der Isestraße 61 beisammen, gemeinsames Kartenspiel wird in den Briefen häufig erwähnt. Hermann Dugowski, schon seit 1910 verwitwet, war mit einer Schwester von Selma Satz und Bertha Brach verheiratet gewesen.

Auch zur Feier zu Michael Frankenthals 75. Geburtstag am 1. September 1941 waren die Wolffs eingeladen. Dort begegneten sie auch dem Rabbiner Carlebach (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) und dem Nachbarn Henry Chassel (siehe www.stolpersteine-hamburg.de), der unter vielen anderen Ämtern bis 1939 als Vorsitzender der Neuen Dammtor Synagoge gewirkt hatte.

Am 8. November 1941 musste die Wohngemeinschaft einen ersten schweren Schicksalsschlag verkraften. Günther Satz wurde nach Minsk deportiert. Seine Mutter, die auch auf der Deportationsliste stand, wurde zurückgestellt.

Im Februar 1942 musste die Wohnung in der Isestraße geräumt werden und die Bewohner in das Martin-Brunn-Stift, ein "Judenhaus", in der Frickestraße 24 übersiedeln. Am 11. Juli 1942 wurden die Schwestern Selma Satz und Bertha Brach von dort direkt nach Auschwitz deportiert. Am 15. Juli 1942 wurde Michael Frankenthal nach Theresienstadt deportiert, wo er am 4. November 1942 starb. (An beide erinnern Stolpersteine in der Isestr. 69)

Am Abend des 18. Juli 1942 um 18 Uhr 30 wurde Gottfried Wolff auf Höhe des Altonaer Wasserwerks in Blankenese in der Elbe entdeckt. Eine Stunde später barg die Wasserschutzpolizei Lydia Wolff nicht weit entfernt davon querab vom Falkensteiner Ufer. Beide waren vier Tage zuvor voll bekleidet gemeinsam bei Rissen in die Elbe gegangen. Ein Postkraftfahrer hatte am 14. Juli am Strand ihre Papiere mit den Deportationsbefehlen gefunden. Damit hatten sie ein Zeichen gesetzt. Sie schieden aus eigenem Entschluss aus dem Leben, um nicht in das ungewisse Leiden in Theresienstadt geschickt zu werden.

Gottfried und Lydia Wolff wurden in das Hafenkrankenhaus gebracht, die Körper gründlich untersucht und alles, was sie bei sich trugen, genau aufgelistet. Der Verwalter des Martin-Brunn-Stiftes identifizierte sie. Er erklärte der Polizei, sie hätten das Stift am 14. Juli früh verlassen. Sie seien niedergeschlagen gewesen, weil sie den "Evakuierungsbefehl", wie der Deportationsbefehl beschönigend genannt wurde, erhalten hätten. Sie wurden vom Hafenkrankenhaus zum Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf gebracht und dort beigesetzt. Es spielte für die nationalsozialistischen Behörden keine Rolle, dass sie Christen waren.

Ihre Tochter Annemarie, zuletzt Anna Maria genannt, heiratete am 10. Juni 1942 in Hamburg Robert Donald Kugelmann und zog zu ihm in die Villa seiner Familie am Alsterkamp, wo sie schon vorher als Hausangestellte gemeldet war. Am 19. Juli 1942 wurden Anna Maria und Robert Kugelmann (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) tot in ihrem Haus aufgefunden, auch sie hatten einen Deportationsbefehl nach Theresienstadt erhalten und sich das Leben genommen.

Ihren Sohn Helmut hatte Anne Maria Kugelmanns Freundin Ilse Alexander ein paar Tage vorher in Sicherheit gebracht. Sie nahm ihn mit nach Berlin, dann vermittelte sie ihn nach Hamburg, wo er in mehreren Pflegefamilien aufwuchs, ohne dass er von seiner jüdischen Herkunft wusste.

Ihre eigene Mutter, Bertha Brach, hatte Ilse Alexander nicht retten können. So weit reichte offenbar die Protektion nicht, die sie durch ihren berühmten Gatten genoss.

Auch die Tochter Käthe Freise überlebte die Schoah nicht (siehe zu ihrem Schicksal den Angehörigentext).

Gottfried und Lydia Wolffs drei Enkel, Eberhard Freise, Helmut Wolff und Jorge Wolff, Sohn von Hans in Venezuela, haben ihre Großeltern überlebt. Sie hatten nach 1945 keinen Kontakt miteinander. Nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990 erbten sie gemeinsam das Haus der Großeltern in Parchim. Helmut lebte in Hamburg, Eberhard in Weimar, zeitweilig in Portugal, und Jorge in Uruguay. Die zuständigen Rechtsanwälte stellten den Kontakt her. Jorge, dessen Vater 1953 gestorben war, schrieb: "Hoffentlich wird dieser Briefwechsel [wegen der Erbschaft] zum Beginn eines fortgesetzten Nachrichtenaustauschs, welcher nicht lediglich materielle Notwendigkeiten zum Gegenstand hat, sondern von dem Wunsch getragen wird, uns gegenseitig näher kennenzulernen."

In Lübtheen, dem Geburtsort seines Großvaters ließ Helmut Wolff vor dessen Elternhaus einen zweiten Stolperstein für Gottfried Wolff setzen. Ein weiterer Stolperstein für Gottfried Wolff wurde vor dem Haus in der Blutstraße 8 in Parchim verlegt.

Außer Gottfried Wolff waren drei seiner Geschwister in der Schoah ums Leben gekommen. Einer der Brüder war der Großvater des früheren Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust.

Auch vier Brüder von Lydia Wolff überlebten nicht, lediglich ihr Bruder Max hatte auswandern können, er starb 1959 in den USA.

Die Stolpersteine zur Erinnerung an Lydia und Gottfried Wolff waren zunächst irrtümlich in der Isestraße vor dem Haus Nr. 65 verlegt worden. Sie wurden vor das Haus Nr. 69 versetzt.

Stand: Mai 2021
© Christa Fladhammer

Quellen: 4; AfW 051078; StaH 331-5 Polizeibehörde - Unnatürliche Todesfälle 1942/1309 und 1942/1405; ITS, Arolsen, TD 457 878; FZH/WdE 632, Original Interview Helmut Wolff durchgeführt von Jens Michelsen; RA Dietrich Schümann, Text für Ausstellung in Schwerin; Benjamin Herzberg, Lichter im Dunkeln – Hilfe für Juden in Hamburg 1933-1945, Hamburg 1997. Ein Beitrag zum Schülerwettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten 1996/97, S. 6ff; Stammbäume der Familien Wolff und Lychenheim im Besitz von Helmut Wolff; Informationen in einem persönlichen Gespräch mit Helmut Wolff am 8.2.2008, telefonische Auskunft der Verwaltung des Jüdischen Friedhofs Ilandkoppel am 13.12.2008; Gespräch mit Helmut Wolff im Dezember 2019 und E-mail 16.1.2020; Doreen Frank, Jüdische Familien in Parchim, o.D.; Schweriner Volkszeitung, 12./13. 7.2008: Bericht von Ilse Simonsohn , geb. Elkan, Jüdische Familien in Parchim, o.D.; Ebd., 12./13. 7.2008: Bericht von Ilse Simonsohn, geb. Elkan, über die Verhaftung der Parchimer jüdischen Familien am 10.11.1938; Brief von Jorge Wolff, Montevideo,17.4.1993, Privatbesitz, Helmut Wolff; Briefe von Selma Satz an ihren Sohn Wolfgang in den USA, 1938 bis 1941, Privatbesitz; Schr. Eberhard B. Freise v. 21.4.2021.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".


Wir danken Lydia und Gottfried Wolffs Enkel Eberhard B. Freise für diesen Text aus Sicht des Angehörigen

Der Enkel-Kommentar - ein Zeitzeugnis.

Noch viele Generationen nach uns werden lernen und staunen, welche liebenswerten und haarsträubenden Geschichten sich unter den Stolpersteinen oder hinter Gedenktafeln für unsere Vorfahren verbergen. Im vorliegenden Fall gibt es heute nur noch ganz wenige Personen, die sich an diese Ereignisse aus eigenem Erleben erinnern und sie authentisch und glaubhaft erzählen können.

Ich bin einer von drei noch lebenden männlichen Enkeln des jüdischen Ehepaars Gottfried und Lydia Wolff aus Parchim, der bei Hitlers Machtergreifung geboren und sogleich als "Mischling Ersten Grades" eingestuft wurde. Dabei waren meine Großeltern besonders gute Deutsche: Denn als Rechtsanwalt und approbierter Notar, dem der deutsche Staat schon in jungen Jahren hoheitliche Aufgaben übertragen hatte, konnte mein Großvater als solcher gelten. Ja, und im Ersten Weltkrieg zog er fürs deutsche Vaterland an die Westfront und erhielt dafür einen Tapferkeits-Orden.

Nach Maßgabe der nationalsozialistischen Rasse-Gesetzgebung genossen meine Eltern, der stolze Arier und Sohn eines ostelbischen Großgrundbesitzers Werner Freise und die schöne Jüdin Käthe Wolff, den Status einer sogenannten "privilegierten Mischehe", aber auf moralischen Druck der väterlichen Familie entzogen sie sich diesem trügerischen Vorrecht, indem sie ihre Ehe einfach durch Erklärung vor Gericht wieder aufheben ließen. Damit waren meine Mutter und ich vogelfrei und schutzlos der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt.

Mutter und ich versteckten uns als Sommerfrischler in dem kleinen Thüringer Dorf Meura, weil Vater glaubte, dort in der Abgeschiedenheit seien wir erst einmal vor den Nazis sicher. Weil wir nicht dem Stereotyp des jüdischen Aussehens folgten, ging ich als blonder Bengel dort in die Schule und schloss Freundschaften. Von Meura aus korrespondierte die Mutti intensiv mit ihrer älteren Schwester Annemarie in Hamburg, die dort die Zeichen der Judenverfolgung beobachtete und der in Verhandlungen mit Konsulaten für Muttern die Stelle einer Hausdame bei einem protestantischen Pastor in Belfast in Aussicht gestellt wurde und eine Wartenummer für die baldige Ausreise zunächst nach England erhielt.

Wie Tausende von Juden warteten auch meine Großeltern in Hamburg auf die Chance einer Auswanderung nach Großbritannien, sie besaßen jedoch eine sehr hohe Wartenummer, weil die Engländer immer nur kleine Kontingente deutscher fluchtbereiter Juden für die Schiffsreise über den Kanal freigaben. Und dann brach am 1. September 1939 mit dem Einmarsch der Nazis in Polen der Zweite Weltkrieg aus. Die Kriegserklärung von England und Frankreich an Deutschland, zwei Tage später, war das Verhängnis für die Verfolgten: Der rettende Fluchtweg ins "feindliche" Ausland war ihnen fortan abgeschnitten.

In Deutschland zog sich die Schlinge der Verfolgung in den nächsten drei Jahren immer mehr zu. Die nun festsitzenden jüdischen Bürger wurden noch im hintersten Winkel aufgegriffen, zusammengetrieben, in Sammellagern eingepfercht und letztlich in Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht. 1942 rief die NS-Staatsführung zur berüchtigten "Endlösung der Judenfrage" auf; deutsche Juden sollten systematisch und restlos ausgerottet werden. Davon waren die Großeltern Wolff und Mutter nun auch unmittelbar betroffen. Zu ihrer besseren Identifikation wurden meiner Mutter Käthe die zusätzlichen jüdischen Vornamen Tana und Sara angedichtet. Ohne den gelben "Judenstern" an ihrer Kleidung konnte sie nicht mehr ausgehen.

Weil Vater Freise sich in Meura immer weniger oft sehen ließ, hatte sich meine junge, damals erst 33jährige Mutter mit meinem Hauslehrer Walter Langenhagen näher eingelassen. Wir gingen zu dritt spazieren. Er blieb noch, wenn ich bereits schlafen gegangen war. Sie trafen sich im Wald am Meuraberg oder in benachbarten Orten, wo sie vermutlich kaum jemand erkannte. Und er nahm mich zu sich nach Hause, wenn Mutter manchmal nach Hamburg zu den Großeltern fuhr.

Den Nachbarn in Meura passte dies gar nicht. Inzwischen war der Judenhass aus den großen Städten die Berge hinauf aufs Land gekrochen. Zur Warnung streuten bäuerliche Denunzianten Heidelbeerkraut von unserem Logis zu seinem. Und plötzlich fehlte der Hilfslehrer in der Schule. Die Gestapo hatte ihn verhaftet. Ein Kommissar Eissfeld war ein ganzes Jahr lang im Einsatz, um nachzuweisen, dass der Volksgenosse Langenhagen es gewagt hatte, mit einer "Volljüdin" Zärtlichkeiten auszutauschen und "geschlechtlich zu verkehren".

In Hamburg nahm die Verfolgung der Großeltern ihren Lauf. Nach einem ausgeklügelten Zeitplan erhielten Hundertschaft um Hundertschaft jüdischer Bürger die schriftliche Einberufung zur Deportation nach Theresienstadt oder Auschwitz; sie mussten sich frühmorgens mit ihren Siebensachen auf einem Sammelplatz in Bahnhofsnähe einfinden. Die Großeltern hatten sich einen Plan zurechtgelegt und eine Stelle an der Elbe ausgesucht, um dieser würdelosen Prozedur zu entgehen: Beide gleichzeitig nahmen sie eine tödliche Dosis Schlaftabletten ein und legten sich bei Ebbe oberhalb der Wasserkante an den Fluss. Dann würde die Flut sie ergreifen und nochmals todsicher forttragen. Dass es sich so zugetragen hat, wurde wenig später durch Obduktion von Großmama Lydias Leiche nachgewiesen.

Auch meine Tante Annemarie, also Vetter Helmuts Mutter, und deren erst kürzlich angetrauter Ehemann Robert Donald Kugelmann haben den Freitod gewählt, um der angekündigten Deportation zuvorzukommen. Sie haben in ihrer schönen Villa am Harvestehuder Weg im Badezimmer den Gashahn aufgedreht (siehe www.stolpersteine-hamburg.de). Ihren damals neunjährigen vorehelichen Sohn hatten sie vorsorglich vorher bei Bekannten in Sicherheit gebracht - und damit mutterseelenallein gelassen. Wie sie dies mit ihrem Seelenheil und mit der Ethik elterlicher Liebe und Fürsorge in Einklang bringen mochten, haben wir uns noch Generationen später immer wieder fassungs-, aber ergebnislos gefragt. Hinzu kommt, dass damit auch eine ganze Generation angesehener hanseatischer Bürger ausstarb; Robert war immerhin der letzte Nachfahr von Ferdinand Kugelmann, des wohlhabenden Mäzens und spendablen Mitbegründers der Hamburger Universität.

Etwa gleichzeitig im Sommer 1942 traf ein ähnliches Schicksal meine Mutter und mich. Sie war eines Tages auf eine Behörde im Weimarer Fürstenhof einbestellt worden - wir wussten zunächst nicht, warum; hatte es etwas mit meiner Einschulung ins Gymnasium zu tun? Cousine Adelheid, die in Weimar lebte, begleitete uns. Ich sollte nicht mit ins Amt, dafür aber mit einem der nagelneuen, faszinierenden Elektro-Busse schon zum Bahnhof vorfahren, wo Mutter mich später zur Rückfahrt treffen würde. Heidi hatte gesehen, wie Mutter auf der Rückseite des Fürstenhauses in einen Gestapo-Transporter einstieg und fortgeschafft wurde. Um mich zu schonen, ist mir dies erst viele Jahre später hinterbracht worden. Kurzum: Mutter traf mich nicht. Sie kam nie wieder. Heidis Vater Willi Freise, der jüngere Bruder meines Vaters, versteckte mich bis zum bitteren Kriegsende in Weimar. Ich war ein blonder Lausbub; niemand schöpfte Verdacht. Von Vorteil war, dass ich selbst von meinem Jüdischsein nicht die blasseste Ahnung hatte.

Inzwischen, Mitte 1942, war die Gestapo meiner Mutter sogar bis ins Sammellager Watenstedt nachgejagt, um sie noch auf ihrem Leidensweg nach Auschwitz auf ihre Beziehung zu dem Lehrer festzunageln. Ein Oberstaatsanwalt Seesemann in Weimar klagte den Lehrer an, ,,dem Verbot des § 2 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre zuwidergehandelt zu haben", und der übereifrige Landgerichtsrat Reinhard verdonnerte Langenhagen zu acht Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust - wegen Rassenschande. Dies geschah kurz nach Weihnachten 1942, als Mutter Käthe bereits im KZ Auschwitz einsaß. Das NS-Justizministerium gab dazu seinen Segen. Mir ist überliefert, dass der reindeutsche Lehrer kurz vor Einmarsch der Amerikaner in Thüringen "wegen Wehrkraftzersetzung" im Knast kurzerhand abgeknallt wurde. Auch davon erfuhr ich erst kürzlich. Ich konnte die Akten des Reichsjustizministeriums einsehen, die das Holocaust-Dokumentationszentrum am Fritz-Bauer-Institut der Universität Frankfurt zu dem Fall aufbewahrt.

Wie mein eigenes Versteckspiel weiterging und welche Rolle mein schwerkranker Papa dabei spielte, beschreibe ich in meinem zeitgeschichtlichen Roman "Der Mischling", der 2007 im Verlag Neue Literatur in Jena und Quedlinburg erschien und aus dem ich auf einer Tournee zu etwa fünfzig deutschen Gymnasien vorlesen durfte. Prägend für die Story ist die tiefe Traurigkeit meines Vaters und dessen Sprachlosigkeit und Scham bei dem wiederkehrenden Versuch, mich über das Schicksal meiner Mutter und meinen Status als "Mischling" ehrlich aufzuklären. Einen Tiefpunkt meines Buchs bildet die Episode, als ich im gemeinsamen Sommerurlaub 1944 in den Papieren meines alten Herrn die Sterbeurkunde des Standesamts Auschwitz fand, die mir beschied, dass "die Käthe Tana Sara Freise, geborene Wolff, evangelisch und ‚früher mosaisch‘", am 03. Februar 1943 in Auschwitz, Kasernenstraße, ,,verstorben" war.

Damit war der intensive Versuch meines Vaters, meine Mutter vor der Verfolgung und dem sicheren Tod zu retten, endgültig fehlgeschlagen. Vater konnte wundervolle und überzeugende Briefe schreiben. Und schon bald nach der Aufhebung der Ehe hatte er als Direktor der Stahlwerke Hermann Göring in Salzgitter an den Hitler-Stellvertreter eine herzzerreißende Eingabe verfasst, in der er Mutters edlen Charakter, ihre "rein-arische" Haltung lobte und dreist behauptete, sie hasse ihre jüdische Rasse und habe es deshalb verdient, ein deutsches Arbeitsbuch zu bekommen und von der Verfolgung verschont zu bleiben. Wie naiv und verzweifelt musste man sein, um zu glauben, dass der Obernazi dies loyal zur Kenntnis nehmen und wohlwollend entscheiden würde.

Als Mutter trotz allem ermordet worden war, schöpfte Vater Werner noch einmal Hoffnung, daraus etwas Positives ableiten zu können - für mich: Er beantragte bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig noch 1944, Mutters Status der Ehelichkeit aufzuheben - sie selbst sei nicht ein eheliches Kind ihrer beiden jüdischen Eltern gewesen, sondern der Spross ihrer jüdischen Mutter aus der Liaison mit einem arischen Apotheker. Damit sei sie nämlich ein "Mischling Ersten Grades" - und ich folglich einer Zweiten Grades. Der Sinn der Sache war: wenn er damit durchkäme, hätte ich gemäß den Rasse-Regeln ohne weiteren Verzug doch noch auf eine höhere Schule gehen können, was mir bisher versagt war. Vater bot Zeugen an, die aber leider alle tot waren. Der Staatsanwalt lehnte das Ansinnen ab. Monate später war der Rasse-Spuk sowieso vorbei und meiner Einschulung auf ein Gymnasium stand nun nichts mehr im Weg.

Meine protestantische Mutter bekommt keinen Stolperstein, denn sie hatte keinen ständigen Wohnsitz, kein Haus und keine Wohnung mehr, und ich könnte heute nicht bestimmen, wo sie im Nachhinein ihren selbst gewählten Lebensmittelpunkt gesehen hätte. Ich nehme an, sie würde auch keinen Stolperstein wollen. Ich teile diese Haltung. Ich bin ihr darin sehr ähnlich geworden.

Stand: Mai 2021
© Eberhard B. Freise, Weimar

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