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Etkar André ca. 1925
© Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg

Etkar Josef André * 1894

Adlerstraße 12 (Hamburg-Nord, Barmbek-Nord)


HIER WOHNTE
ETKAR JOSEF ANDRÉ
JG. 1894
VERHAFTET 5.3.1933
"VORBEREITUNG ZUM
HOCHVERRAT"
HINGERICHTET 4.11.1936
HAMBURG

Etkar Josef André, geb. am 17.1.1894 in Aachen, hingerichtet am 4.11.1936 in Hamburg

Adlerstraße 12

Etkar Josef André kam am 17. Januar 1894 in der Aachener Friedrichstraße 73 zur Welt. Sein Vater Bernhard André war Kaufmann und gehörte laut Geburtsurkunde zur jüdischen Glau­bens­gemeinschaft, Mutter Sofie, geb. Koch, war der Religion ebenfalls beigetreten. Etkar wuchs mit einem Bruder auf. Bereits 1899 starb der Vater an Lungentuberkulose, worauf die Mutter mit den Söhnen zu Verwandten nach Lüttich, Belgien, zog. Da sie selbst auch tuberkulös war, wurden die Kinder wegen der Ansteckungsgefahr mehrere Jahre in einem Wai­sen­haus untergebracht. Etkar André nahm nach dem Schulabschluss eine kaufmännische Aus­bildung auf, die ihm nicht lag, er absolvierte dann eine Lehre im Schlosserhandwerk.
Seit 1911 war er als Mitglied der Sozialistischen Partei Belgiens aktiv, später als Sekretär der Sozialistischen Arbeiterjugend in Brüssel. Da er die deutsche Staatsbürgerschaft behalten hatte, meldete er sich 1914 im Rheinland als Kriegsfreiwilliger, wenn auch zu Beginn nur mit geringen deutschen Sprachkenntnissen. Als Soldat im Inf.-Res.-Regiment 236 Köln-Deutz nahm er an den Kämpfen an der Flandernfront teil, geriet 1918 in französische Kriegsge­fan­genschaft und wurde 1920 entlassen. Seine freiwillige Kriegsteilnahme hat er später bedauert. Zunächst hielt er sich dann ab 1920 in Koblenz auf, wo er sich der Sozialistischen Ar­bei­ter­jugend und der SPD anschloss. Auf der Suche nach Arbeit gelangte er 1922 nach Ham­burg und war als Schau­er­mann im Hafen beschäftigt, zeitweilig auch als Bauarbeiter. Er wurde Mit­glied im Deutschen Bauarbeiter-, später im Deutschen Transportarbeiterverband. Ein Schwer­punkt seiner Partei- und Verbandsarbeit bestand darin, sich um die Belange der Ar­beits­losen zu kümmern, immer mehr haderte er aber mit der Politik der SPD und trat Anfang 1923 der in seinen Augen politisch konsequenteren KPD bei.

Schon bald gehörte er zum engeren Kreis um Ernst Thälmann, seine offene, kameradschaftliche Art, seine Hilfs­be­reitschaft und sein soziales Engagement mach­ten ihn sehr beliebt, für jeden hatte er ein Ohr. Auch jetzt setzte er sich weiter stark für die Interessen der Arbeitslosen und ihrer Fami­lien ein, deren mate­rielle Not ihn erschütterte. Bis 1925 war Etkar André Führer der Er­werbs­losen­bewegung in Hamburg. 1924 gehörte er zu den Gründern des Roten Frontkämpferbundes Was­­serkante – Ernst Thälmann bezeichnete den RFB als "anti­faschistische Schutz- und Wehr­organisation des Pro­letariats" –, und war deren Leiter, außerdem Mit­glied der 1925 in Ham­burg gegründeten Roten Ma­rine. Ähnlich wie Betriebsgruppen des RFB in den Fabriken sollten in ihrem Namen Bordgruppen unter den Besatzungen aller See- und Handelsschiffe ent­ste­hen, bei gegenseitiger Hilfe und Unterstützung der An­gehörigen. RFB und Rote Marine unterstützen u.a. den Kampf der KPD gegen den Neubau von Pan­zer­kreuzern der Reichs­marine oder übernahmen die Sicherung von Wahllokalen und Veranstaltungen, beide wurden 1929 verboten. Ihre Mitglieder blieben auch in der Illegalität überwiegend aktiv, André für die Nachfolgeorganisation "Kampfkomitee gegen das RFB-Verbot".

Als politischer Leiter des KPD-Gaues Wasserkante erhielt er ein kleines Salär von monatlich 100,– RM. Für die Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter übernahm er, geschult in der Reichspartei­schule der KPD, Aufgaben als Instrukteur und Pro­pa­gan­dist, was aufgrund seiner Franzö­sisch­kenntnisse auch mit Reisen nach Belgien und Frankreich verbunden war. André war mehr Aktivist als Parteifunktionär, er sah sich als "Mann von der Straße", begegnete seinen Mitmenschen in Augenhöhe und mit Respekt, gleichzeitig galt er als umsichtig, kühn und entschlossen, packte mit an, wo es erforderlich war und blieb immer fair. Dafür wurde er ge­schätzt. Innerhalb des Parteiapparats war seine Rolle nicht herausragend, er gehörte weder dem Zentralkomitee noch dem Politbüro an, nahm weder an programmatischen Ausein­an­der­setzungen teil noch an innerparteilichen Flügelkämpfen.

Andrés Lebensgefährtin Martha Berg, geb. Schmidt, betätigte sich aktiv in der KPD-Frauen­gruppe, sie lernten sich kennen als Parteigenossen, ab 1926 entwickelte sich eine Beziehung, obwohl Marthas Ehe noch nicht geschieden war. Daraus wurde der Vorwurf Ehebruch abgeleitet, der einer späteren Legalisierung der Beziehung im Wege stand und eine Heiratsgenehmigung verhinderte. Die beiden zogen 1928 von der Grindelallee nach Barmbek in die Adler­straße 12, wo sie bis 1933 wohnten. Hauptmieterin der Wohnung und im Hamburger Adressbuch eingetragen war Frau Berg, Martha.

Als Abgeordneter der KPD wurde André 1928 in die Hamburger Bürgerschaft gewählt, 1931 ein weiteres Mal, diesmal als Mitglied der Stadtvertretung Cuxhaven, bis 1937 zu Hamburg gehörend, wo er vorübergehend einen Zweitwohnsitz in der Poststraße 8 (bei Wesel) führte. Andrés Name war inzwischen nicht nur innerhalb der KPD und der Arbeiterbewegung ein Begriff, sondern auch allen Gegnern der kommunistischen Partei. Der RFB war in diverse Stra­ßenkämpfe verwickelt, Konfrontationen gab es sowohl mit SA-Angehörigen als auch mit der Polizei und den SPD-nahen Reichsbannergruppen. Gegenseitige Provokationen und Rache­aktionen zwischen NSDAP/SA und KPD/RFB hatten Verletzte und Tote zur Folge, vereinzelt gab es Schusswechsel. Etkar André als einem der bekanntesten und charismatischsten Arbei­terf­ührer in Hamburg wurde Verantwortung und Rädelsführerschaft für nahezu alle KPD-Aktionen unterstellt.
Im März 1931 kam es zu einem Anschlag, der wahrscheinlich ihm gelten sollte, dem aber sein Parteifreund Ernst Henning zum Opfer fiel. Henning war ebenfalls Bürger­schafts­ab­ge­ordneter, er wohnte in Bergedorf und hatte in den Vierlanden an einer Parteiveranstaltung teilgenommen. Auf der Rückfahrt in einem gut besetzten Nachtbus wurde er nach der Frage "sind Sie André?" trotz Richtigstellung von SA-Männern erschossen, weitere Fahrgäste erlitten teils schwere Schusswunden. Die Täter flüchteten anschließend, stellten sich aber später der Polizei bzw. wurden verhaftet und angeklagt. Der Tat vorausgegangen war einige Mo­nate zuvor die Sprengung einer NSDAP-Versammlung in Geesthacht durch Kommunisten, es war zu schweren Kämpfen gekommen, bei der zwei SA-Leute getötet wurden. Ob André etwas damit zu tun hatte, ist nicht erwiesen, der Hass auf ihn hatte sich allerdings weiter vergrößert. An der Trau­erfeier für Ernst Henning nahm Etkar André jedenfalls teil, das belegen Aussagen und Fotos.

Es war eine Groß­ver­­an­stal­tung mit geschätzten 35000 Teil­neh­mern. Der Trauerzug begann in der Jar­re­straße vor einer damals dort befindlichen Leichenhalle. Hinter dem von berittenen Schutzleuten begleiteten Leichenwagen gingen dreißig Ange­hö­rige des Rotfront­kämpferbundes mit erhobener Faust, Etkar André an der Spitze. Ihnen folgten 120 Kranzträger und 150 Fahnen und Standarten kommunistischer Gruppen aus Ham­burg und dem Reichsgebiet, anschließend die vielen Trauergäste, überwiegend schwarz ge­kleidet, mit Musik- und Schalmeienkapellen, es ertönten Kampflieder und Sprechchöre. Der Vorbeimarsch des Zuges zur Krematoriumshalle in Ohlsdorf dauerte über eine Stunde. An der Gedenkfeier nahmen neben Familienmitgliedern auch der Bürger­schafts­präsident und der Vizepräsident teil, während Ernst Thälmann die Ge­denkrede hielt. Der größere Teil des Trauerzuges musste im Freien bleiben und demonstrierte Geschlossenheit. Auf dem Rück­weg löste sich die Versammlung zunächst auf, doch kleinere Grup­pen in der Fuhls­büttler Straße sammelten sich wieder, man entrollte die Fahnen, marschierte in breiter Front zum Barm­beker Bahnhof. Von André wird später behauptet, er habe die Führung übernommen. Die Menge steigerte sich in Sprechchöre hinein, bis es kurz vor den Bahnhofsbrücken zur Eska­lation kam. Von der Baustelle eines Neubaus wurden Bretter und Steine geholt, eine Barri­kade gebaut, die Straßenbahn gestoppt, es erscholl die "Inter­na­tio­nale".

Zwanzig den Zug begleitende Polizisten fühlten sich immer stärker bedrängt, bis einige von ihnen die Waffen zogen und Warnschüsse, schließlich Schüsse in die Menge abgaben. Ein un­­beteiligter 20-Jähriger erlag einem Kopfschuss, er war sofort tot, was den Aufruhr weiter an­heizte. Ein­getroffene Polizeiverstärkung und Demonstranten bekämpften sich stundenlang, bis zum Barmbeker Markt zogen sich die Kämpfe hin, auf beiden Seiten gab es viele Verletzte.

Der Prozess gegen die drei 20- bis 25-jährigen Henning-Attentäter, von einem NSDAP-Funk­tio­när zur Tat angestiftet aber laut Parteierklärung angeblich keine Mitglieder, fand im No­vem­ber 1931 statt. Sie erhielten Zuchthausstrafen von je 6 bzw. 7 Jahren, verbüßten die Stra­fen bis zum 9. März 1933 und gelangten aufgrund der Hindenburg-Amnestie in die Freiheit.

Wenige Tage zuvor, am 5. März 1933, war Etkar André verhaftet worden. Bereits seit der Macht­­ergreifung durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 galt André als höchst ge­fährdet, ihm wurde von Freunden nahegelegt, Deutschland zu verlassen, doch er lehnte ab. Am 1. März zogen er und Martha von der Adlerstraße in die Zeughausstraße 4. Er beteiligte sich noch am Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 5. März in Cuxhaven, hielt dort am 4. März eine Rede. Tags darauf fuhr er mit dem Zug zurück nach Hamburg, wo durch die Ge­stapo unter Missachtung der Abgeordnetenimmunität seine Festnahme erfolgte. Die An­kla­ge gegen ihn lautete auf Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit gemeinschaftlichem, vollendetem Mord im Fall des SA-Truppenführers Dreckmann im September 1932 und versuchtem Mord in sieben Fällen bei dem schon beschriebenen Vorfall in Geesthacht im Januar 1931.

Auf ihn wartete eine dreieinhalbjährige Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis, Zelle 122, er war laut Strafakte "streng getrennt zu halten von allen wegen Hochverrats inhaftierten Per­sonen". Man fürchtete offenbar seinen möglichen Einfluss auf Mithäftlinge. Um die Isolation ertragen zu können, stellte er Anträge, Zeitungen halten und Bücher ausleihen zu dürfen, gern löste er Kreuzworträtsel und Schachaufgaben und bat um entsprechende Zeitungen, einen Bleistift, auch mal ein Dominospiel. Ein Antrag auf das Tragen eigener Wäsche wurde genehmigt. Martha Berg als Verlobte besuchte ihn regelmäßig, so oft sie durfte: zweimal monatlich eine halbe Stunde. Sonst kamen nur der Staatsanwalt und sein Verteidiger Dr. Grise­bach; andere Angehörige lebten nicht in Deutschland und Freunde hatten kein Be­suchsrecht. Mit seinem als Zahnarzt in Belgien lebenden Bruder hielt er Briefkontakt. Von Anfang 1935 gibt es den Hinweis, die Braut wolle ein Aufgebot bestellen, Etkar beantragte die nötigen Papiere, eine Trauung ist in den Gefängnisakten nicht festgehalten.

Die Haft war begleitet von Misshandlungen und brutalsten Folterungen. Zeitweilig konnte Etkar André sich nur mit Hilfe von Krücken fortbewegen. Als er wegen schwerer Verlet­zun­gen nicht mehr liegen konnte, wurde ein Wasserbett organisiert, damit er bis zum nächsten Verhör und neuen Misshandlungen wiederhergestellt sein würde. Kopfverletzungen führten zeitweilig zum Verlust des Gehörs. Die Folterungen sprechen dafür, dass er für die Anklage brauchbare Aussagen verweigerte, keine Freunde, Genossen, Parteinterna verriet, sich nicht von seiner Weltanschauung zu distanzieren bereit war. Er stand zu seinen Überzeugungen und stellte das nationalsozialistische System und damit seine Ankläger in Frage.
Der Prozess nach drei Jahren gehörte zu den größten politischen Schauprozessen seiner Zeit, er begann am 4. Mai 1936, zog sich über 32 Verhandlungstage hin bis zur Urteils­ver­kün­dung am 10. Juli 1936. Aufgrund der am 1. August in Berlin eröffneten Olympiade hielten sich viele ausländische Journalisten in Deutschland auf, von denen einige gespannt den Pro­zessverlauf verfolgten. Am 7. Mai wurde auch Martha Berg verhaftet, einen Tag vor ihrer Vor­ladung als Zeugin. Befürchtete man ihretwegen Unruhen? Sie kam später wieder frei.

Die Staatsanwaltschaft konnte nur unzureichende Beweismittel für Andrés Schuld vorweisen, annähernd 100 Zeugen traten auf, überwiegend NSDAP/SA-Mitglieder. Zeugen aus dem Zucht­haus Fuhlsbüttel, die selbst Gefangene und bereit waren, gegen André auszusagen, wurden später von Mitgefangenen geschnitten oder so deutlich drangsaliert, dass die Lei­tung sich zu Umverlegungen in andere Zuchthäuser entschloss. Die Anklage blieb schwach, trotzdem plädierte der Staatsanwalt auf Todesstrafe. Etkars Verteidigungsrede war gleich­zeitig Anklage des NS-Regimes, er äußerte u.a.: "Ihre Ehre ist nicht meine Ehre. Denn uns trennen Weltanschauungen, uns trennen Klassen, uns trennt eine tiefe Kluft. Sollten Sie hier das Un­mögliche möglich machen und einen unschuldigen Kämpfer zum Richtblock bringen, so bin ich bereit, diesen schweren Gang zu gehen. Ich will keine Gnade! Als Kämpfer habe ich gelebt und als Kämpfer werde ich sterben mit den letzten Worten: Es lebe der Kom­mu­nis­mus!"

Das Gericht unter dem Vorsitz des Richters Otto Roth, der schon im Jahr zuvor das Todes­urteil über den Kommunisten Friedrich (Fiete) Schulze gesprochen hatte, folgte dem Antrag des Staatsanwalts und sprach das Urteil: Tod durch Enthauptung, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte.

Etkar André beschloss, für sein Recht zu kämpfen. Einen Antrag auf Begnadigung lehnte er ab und schrieb in einem seiner letzten Briefe am 12. Juli an Martha: "Das Urteil ist unter allen Umständen ein Fehlurteil und deshalb ist es meine Aufgabe, die wenigen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel zu nutzen. Ich spreche von Rechtsmitteln, nicht von Gnade. Ein Gna­den­gesuch werde ich nicht einreichen, weil ich nicht um Gnade bitten sondern mein Recht haben will." Er sah nur den Weg eines Wiederaufnahmeverfahrens, die Zeit eilte, er musste aber auf das schriftliche Urteil und die Akte warten, worüber Wochen vergingen, in denen auch kein Besuch zugelassen war. Schriftlich versuchte er Martha davon zu überzeugen, dass es ihm gut ginge, sogar "... ausgezeichnet, die Nerven sind intakt, mein Appetit hat nicht im geringsten gelitten ... und was den Schlaf anbelangt, so habe ich wahr und wahrhaftig nicht zu klagen ..." Ein zum Tode Verurteilter, der seiner besorgten Partnerin nahe legte, sich nicht zu beunruhigen. Erst am 1. August durfte Martha ihn sehen, zuvor musste sie sich auf Waf­fen untersuchen lassen. Möglicherweise die letzte Begegnung des Paares, denn auch Martha war gefährdet und emigrierte kurz darauf nach Paris – vielleicht auf Anraten Etkar Andrés.

Am 19. August beantragte er Papier, um von der Staatsanwaltschaft die Genehmigung für einen Brief an den Reichskanzler zu erbitten. Der Generalstaatsanwalt äußerte keine Be­den­ken. Ob und wie der Brief geschrieben worden ist, ging aus vorliegenden Akten nicht hervor, allerdings teilte der Generalstaatsanwalt mit Schreiben vom 3. Oktober mit, "...dass André nach Anweisung des Herrn Reichsministers der Justiz bis zu dem Zeitpunkt, in dem eine Ent­schlie­ßung des Führers und Reichskanzlers zur Frage des Vollzugs des ergangenen Urteils vorliegt, nicht besser als ein Gefangener zu behandeln ist, der zu einer zeitigen Zuchthausstrafe verurteilt worden ist. Ich ersuche, dem André auch künftig das Schreiben von Briefen in diesem Umfang zu gestatten. Weiter ersuche ich, mir sämtliche Briefe zur Kontrolle vorzulegen".

Für jedes Schriftstück war ein Antrag auf Papierblätter zu stellen, jedes verwendete Blatt nach­zuweisen. Etkar André entwarf die Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens, das sich auf die Punkte "1. Zu Unrecht erfolgte Verurteilung" und "2. die sowohl während des Ver­fahrens sowie Verhandlungen vorgekommenen Rechtsverstöße" konzentrieren sollte. Eine internationale Protestbewegung ging für die Wiederaufnahme des Verfahrens auf die Stra­ßen, in Paris, Prag, Kopenhagen, Amsterdam und Stockholm gab es Demonstrationen.

Vergeblich. Wenn eine Antwort des "Führers" eingegangen ist, war sie eindeutig. Am Nach­mittag des 3. November erhielt Etkar André die Nachricht über den Termin seiner Hinrichtung am folgenden Morgen. Ein Mithäftling, der zufällig an diesem Tag für eine Reparaturarbeit in seine Zelle kam, gab später an, André habe keine Angst gezeigt und gesagt "Habt Ver­trauen, es wird sich alles zu unseren Gunsten entwickeln." Die letzte Nacht verbrachte sein Anwalt Dr. Grisebach bei ihm, er schrieb letzte Briefe an seinen Bruder und an Martha. Dem Bruder teilte er mit, wie sehr er ihn liebte und ihm dankte für die gemeinsamen Zeiten, auch ihn wollte er beruhigen: "Jammern ist nicht mein Fall und darum werde ich bis zur letzten Sekunde gerade und ungebrochen stehen." Er wünschte sich eine Bestattung in Belgien bei den Angehörigen. Der schwere Brief an Martha Berg, geschrieben am frühen Morgen um 3:45 Uhr, ist ein Dank für zehn gemeinsame Jahre, er wünschte sich, dass sie keinen Trübsal blase, nicht allein bleibe und einen guten Freund als Stütze fände. Er schreibt auch: "Bis zu­letzt bleibe ich ein ehrlicher Kerl, habe mich bis zuletzt verteidigt und kehre ins Nichts zurück ohne irgendwelche Gewissensbisse."

Joachim Szodrzynski schreibt: "Bis zuletzt äußerlich ungebrochen ermöglicht er durch seine Haltung während der Haft und sein furchtloses Auftreten im Prozess der internationalen Presse die Entlarvung des NS-Regimes. Umgekehrt schützt ihn wahrscheinlich gerade das Be­wusstsein, mit seiner Person für die ‚gerechte Sache’ zu stehen, vor dem Zusam­men­bruch (...) Die Erfah­rung, daß ein nicht geringer Teil seiner Genossen, die das vermeintliche Glück hatten, rechtzeitig vor den Nazis in die Sowjetunion zu entkommen, dort wenige Monate nach seiner Hinrichtung im Namen des von ihm hochgehaltenen Ideals liquidiert wird (darunter der 2. Bun­desvorsitzende des RFB, Willy Leow und der Vertraute Thälmanns, Hermann Schubert), bleibt André erspart. Möglicherweise wäre er d a r a n zerbrochen."

Am 4. November 1936 um sechs Uhr morgens wurde Etkar André, zweiundvierzig Jahre alt, im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis unter Leitung des General­staats­an­walts Dr. Drescher von dem Scharfrichter Gröpler aus Magdeburg mit dem Handbeil hingerichtet. Es soll sich um die letzte Hinrichtung dieser Art in Hamburg gehandelt haben, später ging man zum Einsatz einer Guillotine über, die inzwischen zu den Exponaten eines Krimi­nal­museums gehört.

Bereits zu Lebzeiten Legende, nahmen Millionen Menschen in Europa Anteil an seinem Tod. Protest- und Trauermärsche fanden statt, im Hamburger Zuchthaus Fuhlsbüttel traten 5000 Insassen in einen Proteststreik. Er hatte keine Berühmtheit als Politiker oder "Parteibonze" erlangt, sondern wurde als aufrechter Mensch, der für seine Mitmenschlichkeit, seine Überzeugungen und als Gegner des Naziregimes in den Tod gegangen war, zum Symbol des antifaschistischen Widerstands. Ein Stoff, aus dem Mythen gewoben werden, der Text dieser Bio­graphie ist ein Versuch, anhand vorhandener Unterlagen und Veröffentlichungen sowie Be­richten von Zeitzeugen dem realen Etkar André auf die Spur zu kommen.

Aus Furcht vor weiteren Unruhen ordnete die Gestapo eine Beisetzung "in aller Stille und un­ter strengster Verschwiegenheit" an, die Urne wurde heimlich vergraben und erst zehn Jahre später gefunden, weil die Verwaltung des Ohlsdorfer Friedhofs nicht der Anordnung gefolgt war, alle Unterlagen zu vernichten. Zusammen mit 26 weiteren, vom Komitee ehemaliger poli­­tischer Gefangener aus Branden­burg überführten Urnen fand die Bei­setzung im Sep­tem­ber 1946 auf dem Platz der Revolutionsopfer von 1918 nahe dem Haupteingang des Fried­hofs Ohlsdorf statt. Mit Erlaubnis des britischen Stadtkommandanten waren die Urnen zu­vor in Begleitung eines großen Schweigemarsches vom Standort des Komitees in der Maria-Lui­sen-Straße zu einer Gedenkveranstaltung ins Hamburger Rathaus gebracht worden, an­schlie­ßend nach Ohlsdorf, in strömendem Regen. Zeitzeugen berichteten von einer eindrucksvollen Demonstration.
Heute befindet sich die Grabstätte von Etkar André im Ehrenhain für die Opfer des Faschis­mus auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wohin sie zusammen mit den Urnen weiterer Wider­stands­kämpfer im April 1962 überführt worden ist. An der Gedenkfeier nahm auch Martha teil, die Etkars Namen angenommen hatte und nun Berg-André hieß.

Von seinem Tod hatte sie 1936 in Paris erfahren, wo sie bei Freunden wohnte und sich im Wi­der­stand en­ga­gierte. 1940 von der deutschen Be­sat­zung festgenommen, muss­­te sie längere Zeit im Lager Gurs verbringen. Sie ging später nach Ost­berlin und war u.a. als Leiterin tätig für die Gemeinschaft Opfer des Fa­schis­mus. Ehrungen Etkar Andrés in der DDR spiegelten sich wider in der Benennung von Straßen, Schulen und Plätzen. 1974 erschien anlässlich seines 80. Ge­burts­­tags eine Briefmarke mit seinem Konterfei.

© Erika Draeger

Quellen: StaHH ZC1, Kasten 11, Strafakte André, Etkar; StaHH 433/1a, Mitgliederverzeichnis der Hamburger Bürgerschaft 1921–1931; StaHH, Handschriftensammlung DCIII (603); Gedenkstätte Ernst Thälmann, Hamburg: Personenarchiv, Etkar André; Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg: Männer im Widerstand 1933–1945, Akte A-F, 13-3-3-1; Szodrzynski, Joachim in: Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein; Hochmuth, Ursel/Meyer, Gertrud: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, S. 248, 504, 529; Ebeling, Helmut: Hamburger Kriminalgeschichte 1931–36, Band 2; Ebeling, Helmut: Schwarze Chronik einer Weltstadt, S. 275ff., 281f., 294ff.


Etkar André MdHB

Etkar Joseph André wurde am 17. Januar 1894 als drittes Kind einer in Aachen lebenden jüdischen Handwerkerfamilie geboren. Der Verlust seines Vaters im Alter von fünf Jahren bedeutete den Beginn einer Kindheit am Rande der Subsistenz. Eine schwere Lungenerkrankung der alleinerziehenden Mutter zwang die Familie zu Verwandten im wallonischen Lüttich überzusiedeln.

Durch ihren Tod 1907 wurde Etkar André noch im Kindesalter Vollwaise und zog in ein Brüsseler Waisenhaus. Hier erhielt die französische Sprache nunmehr den Charakter einer Muttersprache.
Nach seiner Schulentlassung und einer nicht abgeschlossenen Buchhändlerlehre erlernte André den Beruf des Schlossers. Das in diesen Jahren beginnende starke Engagement in der sozialistischen Arbeiterjugend bedeutete eine wichtige Weichenstellung für seinen späteren Werdegang. Als 17jähriger trat er der Sozialistischen Partei Belgiens bei und war bereits zwei Jahre später Sekretär in der Brüsseler Sektion der "Jungen Sozialistischen Garde". Welch hohes Ansehen André schon bald in seiner Partei genoss, zeigt sich nicht zuletzt an seiner Wahl zum Delegierten für den Parteitag der Belgischen Sozialisten 1914.

Bei Kriegsbeginn geriet der gebürtige Deutsche, inzwischen politisch wie sozial in seiner Wahlheimat Belgien Verwurzelte, zwischen die Fronten europäischer Machtpolitik: Nach dem deutschen Einmarsch in Belgien im September 1914, sah sich André einer starken antideutschen Stimmung in der Bevölkerung gegenüber. Der junge Sozialist versuchte sein Gefühl der Entwurzelung zu kompensieren, indem er sich – obwohl der deutschen Sprache kaum mächtig – freiwillig zum Kriegsdienst im Kaiserlichen Heer meldete. Seine militärische Grundausbildung erhielt er in Koblenz. Zum Einsatz kam er als Mannschaftsdienstgrad in verschiedenen Abschnitten an der Westfront. Er nahm u.a. an der Schlacht bei Langemarck teil und geriet kurz vor Kriegsende in französische Kriegsgefangenschaft.

Nach seiner Entlassung und anschließenden Demobilisierung fand André zunächst Arbeit im Koblenzer Hafen. Auch politisch suchte er in der Stadt am Deutschen Eck Fuß zu fassen: 1920 trat er hier der SPD bei, wo er sich zunächst besonders in der Arbeiterjugend engagierte. Es war der Verlust seiner Arbeitsstelle, der den Deutsch-Belgier schließlich nach Hamburg führte.

Die Aufhebung der Seeblockade ließ André hoffen, im Überseehafen der Hansestadt eine Arbeit zu finden. Doch war ihm eine feste Stellung auch hier nicht beschieden. So sah er sich im Zeichen von Hyperinflation und Wirtschaftskrise gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch eine unregelmäßige, immer wieder von Arbeitslosigkeit unterbrochene Tätigkeit als Schauermann zu bestreiten. Schon bald machte sich André einen Namen in der Hamburger Erwerbslosenbewegung, die ihn wegen seines Rede- und Organisationstalents 1922 zu ihrem Vorsitzenden wählte. Über seine dortige Tätigkeit lernte André auch seine langjährige politische Weggefährtin und spätere Frau, die Itzehoerin Martha Berg kennen.

Als im Winter 1922 Demonstrationen der notleidenden Bevölkerung losbrachen, stand André – wie so oft in den kommenden Jahren – in vorderster Linie. Auf dem Rathausplatz formulierte er die Forderungen der Erwerbslosen, wurde, als die Schutzpolizei unter Einsatz von Waffen eingriff, als "Rädelsführer" festgenommen und für kurze Zeit inhaftiert. Dass ein sozialdemokratischer Polizeisenator für den harten Polizeieinsatz, bei dem zahlreiche Demonstranten ums Leben kamen, verantwortlich war, mag André endgültig dazu bewogen haben, der SPD den Rücken zu kehren.

Anfang 1923 trat er der KPD bei, zu der sich über die Arbeit in der Erwerbslosenbewegung ohnehin intensive Kontakte entwickelt hatten. 1923 war André führend am Hamburger Aufstand beteiligt. Im Zuge der Verhaftungswelle nach dem schnellen Zusammenbruch der kommunistischen Erhebung wurde auch er zunächst in Gewahrsam genommen, allerdings nach drei Monaten "Schutzhaft" wieder auf freien Fuß gesetzt.

Das Jahr 1926 markiert den Aufstieg Etkar Andrés in die Führungsspitze des Bezirks "Wasserkante", einem von insgesamt 27 KPD-Bezirken auf Reichsebene. Seine Tätigkeit hier konzentrierte sich vor allem auf die Führung der 1924 gegründeten kommunistischen Wehrorganisation, den "Roten Frontkämpferbund" (RFB). Daneben war er gewerkschaftlich im "Internationalen Seeleute- und Hafenarbeiterverband" und im "Hamburger Internationalen Seemannsclub" tätig.

Etkar André war alles andere als ein theoretisch geschulter Parteiideologe. Auch nach seiner Wahl in die Hamburger Bürgerschaft 1927 blieb er ein "Mann der Straße", der die Vorgaben der Parteiführung vor Ort umzusetzen suchte. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich André von 1928 bis Ende 1932 insgesamt elf Anträgen der Strafverfolgungsbehörden an die Bürgerschaft ausgesetzt sah, seine parlamentarische Immunität aufzuheben. Das Abgeordnetenmandat bewahrte André jedoch in den meisten Fällen vor einer Strafverfolgung. Strafverbüßungen – etwa eine 15monatige Gefängnisstrafe wegen Beteiligung an einem Überfall auf Teilnehmer einer NSDAP-Versammlung bei Sagebiel – wurden ausgesetzt.

Nach dem Verbot des "Roten Frontkämpferbundes" im Mai 1929 durch Reichsinnenminister Carl Severing wirkte André entscheidend an der Überführung der etwa 80 000 Mitglieder zählenden Organisation in die Illegalität mit. Die Verlagerung der Arbeit in den Untergrund mag André bewogen haben, sich im Oktober 1929 in das abgelegene Cuxhaven zurückziehen. Hinzu kam, dass die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung ab 1929 den "Roten General" – wie ihn Anhänger und Gegner gleichermaßen nannten – in zunehmendem Maße zur Zielscheibe nationalsozialistischer Nachstellungen und Anschläge werden ließ. Einem eigentlich Etkar André geltenden Mordanschlag Hamburger SA-Leute fiel im März 1931 der kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete und André-Vertraute Ernst Henning zum Opfer.

André, der in Cuxhaven in der Nordersteinstraße bei dem KPD-Mitglied Heinrich Weseloh zur Untermiete wohnte, kandidierte 1930 bei den Wahlen zur Cuxhavener Stadtvertretung auf Platz eins seiner Parteiliste.(36 Die KPD errang 3,82 % und konnte ihren Spitzenkandidaten ins Stadtparlament entsenden. Ein Blick in die Sitzungsprotokolle der Cuxhavener Stadtvertreterversammlung zeigt allerdings, dass Andrés Wirken hier im Schatten sowohl seiner Verpflichtungen als Hamburger Bürgerschaftsabgeordneter als auch seiner außerparlamentarischen Parteiaufgaben blieb. Einmal abgesehen von der Eröffnungssitzung am 31. Oktober, in der André mit mehreren Anträgen auf Außenwirkung zielte, nutzte er die parlamentarische Plattform kaum zur Darstellung kommunalpolitischer Ziele der Cuxhavener Kommunisten. Er beschränkte sich vielmehr auf die Unterstützung bzw. Ablehnung von Anträgen anderer Fraktionen. Mit der Fraktion der NSDAP gab es einen Berührungspunkt, als André den Antrag der Nationalsozialisten auf Streichung der für die Cuxhavener Verfassungsfeier 1931 bereitgestellten Gelder unterstützte. Ab Mitte 1931 nahm Etkar André nur noch selten an Stadtvertreterversammlungen teil und gab sein Mandat schließlich zugunsten von Heinrich Weseloh am 30. Juni 1932 zurück.

Die beginnenden dreißiger Jahre waren gekennzeichnet durch eine intensive Reisetätigkeit. Als Leiter einer Arbeiterdelegation reiste André im November 1930 in die Sowjetunion, wo er sich bis Anfang 1931 aufhielt. 1932 lebte er für kurze Zeit in Paris, wo er Kontakte zur Kommunistischen Partei Frankreichs herstellte und die bereits zu diesem Zeitpunkt in Betracht gezogene, illegale Arbeit deutscher Kommunisten im Untergrund vorbereitete. Nur wenige Tage nach Erlass der sog. "Reichstagsbrandverordnung", die im Reich den permanenten Ausnahmezustand etablierte, wurde Etkar André am 3. März 1933, mit dem Zug von Cuxhaven kommend, in Harburg-Wilhelmsburg festgenommen. Interventionen des damaligen Bürgerschaftspräsidenten Ruscheweyh unter Hinweis auf die Immunität Andrés und die fehlende rechtliche Grundlage der Verhaftung blieben ohne Erfolg.

Nachdem schließlich der am 5. März 1933 vom Reichsinnenminister zum "Reichskommissar für die Polizeibehörde" ernannte Bürgerschaftsabgeordnete und Nationalsozialist Richter Haftbefehl gegen alle männlichen Mitglieder der kommunistischen Bürgerschaftsfraktion erlassen hatte, ließ Bürgermeister Krogmann den protestierenden Bürgerschaftspräsidenten wissen: "Der Polizeiherr verfährt, wie es im Interesse des Staates richtig ist, und seine Maßnahmen werden vom Senat gebilligt." Auch Andrés Ehefrau wurde im Oktober 1933 vorübergehend festgenommen, nach zahlreichen Verhören aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie verließ Deutschland und arbeitete später in kommunistischen Emigrantenzirkeln in Paris. Nach dem Krieg lebte sie bis zu ihrem Tode 1966 als Trägerin der Clara-Zetkin-Medaille und Veteranin der SED in Berlin.

Während seiner mehr als dreijährigen Haft war André schwersten Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt. Immer wieder wurde er, der schon auf Krücken ging und seiner Verletzungen wegen im Wasserbett liegen musste, seinen ebenfalls in Haft befindlichen früheren Parteifreunden vorgeführt.

Am 4. Mai 1936 begann vor dem Strafsenat des Hamburgischen Oberlandesgerichts der sog. "André-Prozeß". Es war nach dem Prozess gegen Fiete Schulze, in dem André bereits als Zeuge vernommen worden war, der zweite und zugleich letzte große Hamburger Schauprozess gegen frühere KPD-Funktionäre.

Nachdem in den Jahren 1933-1935 etwa 60 000 KPD-Mitglieder festgenommen waren und die Organisationsstruktur innerhalb Deutschlands als zerschlagen gelten konnte, sollte das bewusst auf mehrere Wochen angesetzte Verfahren der Öffentlichkeit die Liquidierung der Kommunistischen Partei dokumentieren. Angeklagt wegen Hochverrats und der angeblichen Beteiligung am gewaltsamen Tod mehrerer SA-Angehöriger in den Jahren 1930/32, erging am 10. Juli 1936 das von Anbeginn feststehende, angesichts des Zögerns einiger Richter aber doch noch einmal von höchster Stelle geforderte Todesurteil. Darauf und auf den Umstand bezugnehmend, dass damals bei Todesurteilen der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte üblich war, soll André das folgende, vielzitierte Schlusswort vorgetragen haben:

"Meine Herren, wenn der Oberstaatsanwalt auch Ehrverlust beantragt hat, so erkläre ich hier: Ihre Ehre ist nicht meine Ehre. Denn uns trennen Weltanschauungen, uns trennen Klassen, uns trennt eine tiefe Kluft. Sollten Sie hier das Unmögliche möglich machen und einen unschuldigen Kämpfer zum Richtblock bringen, so bin ich bereit, diesen schweren Gang zu gehen. Ich will keine Gnade! Als Kämpfer habe ich gelebt und als Kämpfer werde ich sterben mit den letzten Worten: ‚Es lebe der Kommunismus!‘". (39

Internationale Proteste gegen das Urteil blieben unbeachtet: Wenige Monate später wurde Etkar André am 4. November 1936 im Alter von 42 Jahren um 6 Uhr morgens im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis durch Enthauptung hingerichtet. Entgegen der bewusst gesuchten Öffentlichkeit des Prozesses und der Tatsache, dass von dem abgeschlagenen Kopf ein Gipsabdruck gemacht wurde, (40 fand die Beisetzung in aller Stille statt, der Ort des Grabes wurde mit peinlicher Genauigkeit geheimgehalten.

Es war deutlich, dass der Schauprozess entgegen der ursprünglichen Intention die Stilisierung
Andrés zum Symbol des vermeintlich ungebrochenen, tatkräftigen kommunistischen Widerstandes gegen das faschistische Regime wesentlich gefördert hatte. Die propagandistisch auch vor dem Hintergrund des beginnenden spanischen Bürgerkriegs zu betrachtende Mythisierung Andrés war aber angesichts der endgültigen Zerschlagung der kommunistischen Parteiorganisation in Deutschland wohl eher ein Reflex der Ohnmacht und hatte wesentlich kompensatorischen Charakter. Dies nimmt nichts von der hohen Popularität, die Etkar André wegen seiner Unerschrockenheit und Volksnähe insbesondere in der jungen Hamburger Arbeiterschaft genoss.

© Text mit freundlicher Genehmigung der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.) entnommen aus: Jörn Lindner/Frank Müller: "Mitglieder der Bürgerschaft – Opfer totalitärer Verfolgung", 3., überarbeitete und ergänzte Auflage, Hamburg 2012

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