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Jeanette Baer als Schülerin 1920
© Archiv Ursula Randt

Jeanette Baer * 1903

Brahmsallee 24 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1943 Theresienstadt
1944 Auschwitz ermordet

Weitere Stolpersteine in Brahmsallee 24:
James Lewie, Anna Pulvermacher

Jeanette Baer, geb. am 24.12.1903 in Hamburg, deportiert am 23.6.1943 nach Theresienstadt und von dort am 23.10.1944 nach Auschwitz

Brahmsallee 24

Jeanette Baer wurde am 24.12.1903 in Hamburg als jüngste Tochter des Metallwarengroßhändlers Gustav Baer (1860–1937) und seiner Frau Sara, geb. Stern (1866–1943 in der Emigration in England gestorben), geboren. Jeanettes Vater entstammte einer alteingesessenen großen Familie in Halberstadt, wo die Baers u. a. als Ärzte und Lehrer tätig waren. Ihre Mutter Sara war die Tochter vom Oberrabbiner Anschel Stern (geb. 1820 in Hamburg, gest. 1888) und seiner Frau Jeanette, geb. Adler (geb. 1832 in Hannover), auch sie stammte aus einer Rabbinerfamilie. Anschel und Jeanette Stern heirateten 1855. Jeanette Baers ältere Geschwister waren: Gertrud (geb. 1890 in Halberstadt, gest. 1981 Genf/Schweiz), Erna (geb. 1892, gest. 1967 in Jerusalem), Walter (geb. 1894), Harriet (geb. 1896, gest. 1956 in Tel Aviv), sie wurden in Hamburg geboren.

Familie Baer ließ sich zu Beginn der 1890er-Jahre in Hamburg nieder. Zunächst wohnte sie in der Hansastraße 76, im Juni 1933 zogen sie in die Brahmsallee 24.

Aus einem selbst verfassten Lebenslauf von Jeanette Baer erfahren wir die Stationen ihrer Ausbildung. Von 1910 bis 1920 besuchte sie die Höhere Israelitische Mädchenschule (Lyzeum) in der Bieberstraße 4, anschließend für ein Jahr die Hansastraßen-Schule (Studienanstalt) jeweils in Hamburg. Diese Schulkombination brachte sie dem Ziel näher, Handelslehrerin zu werden.

Zwischen April 1921 bis September 1922 arbeitete Jeanette Baer in der Metallwarengroßhandlung ihres Vaters als Buchhalterin und Korrespondentin. Durch diese Tätigkeit lernte sie die praktische Arbeit in einem Betrieb kennen. Vom 1. Oktober 1922 bis zum 30. September 1924 besuchte sie die Staatliche Höhere Handelsschule für Mädchen in Hamburg und schloss diese mit der Gesamtnote "Gut" ab. Von Oktober 1924 bis Ende April 1925 nahm sie eine Tätigkeit als englische und französische Korrespondentin in der Import- und Exportfirma Ludwig Bing & Co. am Neuen Wall auf.

Im Sommer-/Wintersemester 1925/1926 begann sie ihr Studium an der Universität in Frankfurt am Main. Dazu gehörten die Vorbereitungskurse zur Ersatzreifeprüfung. Um für ihren künftigen Beruf Praxiserfahrung zu sammeln, arbeitete sie im Sommersemester erneut in der Firma ihres Vaters. Am 27. Oktober 1926 bestand sie die Ersatzreifeprüfung. Ab dem Wintersemester 1926/1927 studierte sie u. a. folgende Fächer: Buchführung, Deutsch, Handelskunde u. a. an der Hamburger Universität. Während der Semesterferien hospitierte und unterrichtete sie dort an der "Schule für Kontoristinnen". Ihre Hauptfächer waren hier Landeskunde und Englisch. Das Studium setzte sie mit Beginn des Wintersemesters 1927/1928 an der Universität Frankfurt am Main fort, um ihre theoretische und praktische pädagogische Ausbildung zu beenden. Anfang 1929 legte sie ihre Zulassungslehrprobe in Englisch an der Städtischen Handelsschule zu Frankfurt am Main ab.

Am 24. Februar 1930 beendete sie ihr Studium mit der Diplomnote "Gut" an der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Universität. Sie war nun Diplom-Handelslehrerin. Ihre Diplomarbeit zum Thema "Die Eignung der Frau für die Kontorarbeiten in kaufmännischen Betrieben" wurde "mit Auszeichnung" bewertet. Daraus lässt sich erkennen, dass Jeanette Baer nicht nur in der Theorie des Lehrerinnenberufes wirken wollte, sondern bei ihr auch die praktische Komponente eine wichtige Rolle einnahm.

Bereits vom 15. August bis zum 22. September 1929 hatte sie an der Staatlichen Handelsschule in Hamburg vertretungsweise Unterricht in Französisch und Englisch übernehmen dürfen. Auf eigenen Wunsch hin wurden ihr für zwei Jahre pädagogische Berater zur Seite gestellt. Diese bescheinigten ihr "eine gute Lehrtätigkeit sowie eine methodische und didaktische Qualifikation", und weiter, dass sie "mit großer Hingabe arbeite, sie bringe den einzelnen Schülerinnen ein starkes persönliches Interesse und viel Verständnis entgegen. Ihr Unterricht war lebendig, anschaulich und die Schülerinnen wurden zum selbstständigen Denken angeregt". Ab 1930 unterrichtete sie stundenweise als Hilfslehrerin an der Berufsschule für Kontoristinnen und der Berufsschule für Verkäuferinnen sowie in freiwilligen Abendkursen in den Fächern: Buchführung, kaufmännisches Rechnen, Deutsch, Handels- und Bürgerkunde. Da Jeanette Baer eine sehr engagierte Lehrerin und ihr die Fortbildung junger Menschen ein wichtiges Anliegen war, unterrichtete sie an mehreren Schulen. Ab Mitte April 1931 übernahm sie die Vertretung eines beurlaubten Lehrers (Studienrat Naftali Eldod). Neben ihrer Ausbildung war sie seit einigen Jahren ehrenamtlich in der Jüdischen Gemeinde tätig. Es war ihr wichtig, sich um die Mitmenschen zu kümmern.

Unverheiratet, wohnte Jeanette Baer weiterhin mit ihren Eltern zusammen. So bekam sie hautnah die finanziellen Sorgen ihres Vaters um seinen Betrieb mit. Die Firma war Ende der 1920er-Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geraten, die sich im Laufe der folgenden Jahre verstärkten. Nach Aussage der Handelskammer Hamburg, wurden die monatlichen Beiträge erheblich reduziert. Gustav Baer war seit 1913 Mitglied der Jüdischen Gemeinde und zahlte jährlich stattliche Beiträge an diese. Ab Mitte der 1920er-Jahre konnte er jedoch nur noch geringe Beiträge entrichten und ab 1927 wurde die Zahlung völlig eingestellt. Ab 1933 verschärften sich die Maßnahmen gegen jüdische Geschäfte und Betriebe. Hier sei besonders der "Judenboykott" am 1. April 1933 erwähnt. 1935 soll Gustav Baer die Firma selbst liquidiert haben, welche dann am 30. Dezember 1936 erlosch. Aus einem Schreiben der Freien und Hansestadt Hamburg – Arbeits- und Sozialbehörde – vom 18. Oktober 1974 ging hervor, "dass Herr Baer aus Gesundheits- und Altersgründen nicht mehr in der Lage war sein Geschäft zu führen". Eine Aussage, die Ursache und Wirkung verkehrte.

Am 11. April 1933 erhielt Jeanette Baer einen neuen Dienstvertrag der Landesunterrichtsbehörde. Am 26. Juni 1933 teilte ihr diese mit, dass der vor zwei Monaten geschlossene Vertrag widerrufen wurde. Grund war das am 7. April 1933 erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Damit waren u. a. jüdische Lehrer und Lehrerinnen vom Erwerbsleben an öffentlichen Schulen ausgeschlossen. Dadurch veränderte sich Jeanette Baers berufliche Situation dramatisch. Sie, die mit Leib und Seele Lehrerin war, durfte nicht mehr unterrichten. Jeanette Baer gab jedoch nicht auf. Durch ihren engen Kontakt zur Jüdischen Gemeinde konnte sie ab April 1935 stundenweise Sprachunterricht an der Israelitischen Mädchenschule in der Carolinenstraße erteilen. Der nächste Schicksalsschlag folgte, am 26. April 1937 verstarb ihr Vater. Sie war nun die Alleinverdienerin in der Familie. Weiterhin wohnte sie mit ihrer Mutter zusammen.

Jeanette Baers Bruder Walter und dessen Frau Flora, geborene Levy (1888 in Friedrichstadt/Eider), wohnten seit einigen Jahren in einem Eigenheim in Hamburg-Blankenese, Mörikestraße. 26. Seit Mitte der 1920er-Jahre bis in die 1930er-Jahre war er als Geschäftsführer der Zinnwerke Wilhelmsburg in Hamburg tätig. Dann verlor er seine Arbeit. Aufgrund der "Sicherungsanordnung" vom 7. Dezember 1938 wurde ihr gesamtes Vermögen an Bargeld, Schmuck etc. eingezogen. Das Grundstück in der Mörikestraße wurde zu einem geringen Preis durch einen Treuhänder verkauft. Walter Baer sah für sich und seine Frau keine Zukunft in Deutschland. Am 18. Januar 1939 flüchtete er nach England, am 3. März 1939 folgte ihm seine Frau Flora, im Juli auch Sara, Jeanette Baers Mutter.

Da Sara Baer zu dem Zeitpunkt bereits über 70 Jahre alt war, stellte sie einen Antrag bei der Behörde, ob ihre Tochter Jeanette sie begleiten könne, da einiges an Bekleidung, Hausrat etc. mitzunehmen sei. Dieses wurde ihr von der Gestapo gestattet, jedoch mit der Auflage, dass Jeanette Baer zurückkommen müsse. Andernfalls drohe ihren Angehörigen eine Einweisung in ein KZ.

Jeanette Baer kehrte nach Hamburg zurück. Aus der Kultussteuerkarteikarte geht nicht eindeutig hervor, wann sie die Wohnung in der Brahmsallee verlassen musste. Ab 1942 wurde sie unter der Adresse in Hamburg-Altona Breitestraße geführt, wo sie einige Monate wohnte. Mit Unterstützung der Jüdischen Gemeinde zog sie in eine Wohnung der Gemeinde in der Beneckestraße 4, ein "Judenhaus". Dort stellte sie sich der Gemeindearbeit zur Verfügung. Obwohl mittlerweile auch gesundheitlich angeschlagen, war sie stets zur Stelle, wenn es zu helfen galt.

Am 23. August 1944 schrieb Jeanette Baer aus Theresienstadt eine Karte an ihre ehemalige Schülerin Fanny Katzenstein (genannt Lolli) mit folgendem Wortlaut: "Liebe kleine Lolli, heiße Wünsche zum Jahreswechsel Dir und Deinen guten Eltern und Geschwistern, besonders aber der geliebten Sara. Ich bin gesund und wäre überglücklich, wenn ich – wie Margot – jeden Monat von Dir hören würde. Bleib gesund und gedenke meiner wie ich Deiner. In Liebe Deine Jeanette".

Jeanette Baer wurde mit dem Transport VI/8, c. 3 am 23. Juni 1943 von Hamburg nach Theresienstadt und mit Transport Et, c. 340 am 23. Oktober 1944 von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Jeanette Baers Vermögen wurde zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Nachdem Jeanette Baer deportiert war, wurde ihr verbliebener Hausrat am 28. Oktober 1943 öffentlich versteigert. Es nahmen 51 Personen daran teil. Der zuständige Gerichtsvollzieher Gerlach schaltete dazu eine Anzeige im "Hamburger Tageblatt". Nach Abzug der Anzeigenkosten wurden dem Oberfinanzpräsidenten 1023,80 RM überwiesen.

Fanny Katzenstein (verheiratete Samosh), vergaß ihre Lehrerin Jeanette Baer nicht. Im Oktober 1979 hinterlegte sie für sie das Gedenkblatt in Yad Vashem.

Über den weiteren Lebensweg ihrer Schwestern Erna und Harriet fanden wir wenige Hinweise. Erna Baer war verheiratet mit ihrem Cousin Theodor Baer. In dieser Ehe wurden fünf Kinder geboren: Mordechai, Shmuel, Hilde Haya, Ezriel und Hanna. Erna Baer verstarb am 11.Januar 1967 in Jerusalem.
Harriet Baer war verheiratet mit dem promovierten Mediziner Erich Hurwitz. Sie starb am 1.August 1956 in Tel Aviv.
Gertrud Baer (geb. 25.11.1890 Halberstadt, gest. 15.12.1981 Genf) wurde als eine der Vorkämpferinnen für Frauenrechte und als Friedensaktivistin bekannt. Sie hatte eine Lehrerinnenausbildung in Hamburg absolviert und den Beruf auch ausgeübt, später studierte sie an deutschen, amerikanischen und schweizer Universitäten. Sie blieb unverheiratet und bekam keine Kinder. Während des Ersten Weltkrieges siedelte sie nach München über, wo Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg lebten. Zusammen mit den beiden, Helene Stöcker u. a. engagierte sie sich in der 1915 gegründeten Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), in der sie von 1919 bis 1968 verschiedene Führungspositionen übernahm und später auch deren Zeitschrift herausgab. Sie vertrat die Institution auch beim Völkerbund und ab 1945 bei der UNO. 1933 emigrierte sie in die Schweiz, da sie als politische Aktivistin wie als Jüdin in Deutschland gefährdet war. Im Juni 1940 wanderte sie in die USA aus, nahm die US-Staatsbürgerschaft an und organisierte von dort aus u. a. die Emigrantenhilfe der IFFF. 1950 kehrte sie nach Genf zurück, wo sie 1981 starb. Ein Dokumentarfilm "Gertrud Baer. Ein Leben für die Gleichberechtigung der Frau, für Frieden und Freiheit" (Michaela Belger, 1977) würdigt ihre vielgestaltige Arbeit.
Walter und Flora Baer überlebten. Der "Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese" hat eine Liste mit ca. 150 Namen von Juden bzw. von den Nationalsozialisten zu Juden oder "Mischlingen" erklärten Menschen erstellt, die in der Zeit von ca. 1930 bis 1943 in Blankenese gelebt haben. Dort wird ihrer gedacht.
Flora Baers Mutter Adelheid Levy, geb. Heymann (1865 in Friedrichstadt/Eider–1943 in Sobibor), flüchtete nach Holland, wann genau ist nicht bekannt. Sie wähnte sich dort sicher. Von dort wurde sie nach Sobibor deportiert, wo sie am 23. Juli 1943 ermordet wurde. Für Adelheid Levy wurde im August 2004 von der Initiative in Friedrichstadt ein Stolperstein vor ihrer letzten frei gewählten Adresse verlegt.

Diese Informationen fußen auf der Arbeit von Ursula Randt zu Jeanette Baer, die sie in dem Buch von Wamser/Weinke, Eine verschwundene Welt: Jüdisches Leben am Grindel, und in der Hamburger Lehrerzeitung 01/1986 der GEW Hamburg veröffentlicht hat. Ihre Hinweise ermöglichten es zudem, tiefer in die Familiengeschichte einzusteigen.

Stand: September 2016
© Sonja Zoder

Quellen: 1; 2; 8; StaH 241-1-125; StaH 351-11-709 + 1072 + 10384 + 15922 + 28425 AfW; StaH 361-3-A0724; URL: http://www.viermalleben.de/4xleben/namensliste.htm -Jüdisches Leben in Blankenese am 19.9.13; URL: http://www.juden-im-alten-halberstadt.de/index.php am 5.9.13; URL: http://www.akens.org/akens/texte/stolpersteine/Stolpersteineliste.htm -Stolpersteine in Friedrichstadt- am 20.9.13; Hamburger Adressbuch; Wamser/Weinke, Verschwundene Welt, S. 225–227; Hamburger Lehrerzeitung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hamburg, Ausgabe 01/1986, S. 43–45; Hochmuth/Meyer, Streiflichter, S. 242; Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Telefonat mit Dr. Susanne Hertrampf am 27.11.2013; Starke, Führer, S. 24, 26, 81, 151; Hervé/Nödingen, Lexikon, S. 23f.; Schuchard, Gertrud Baer, in: dies., Frauen, S. 136–138.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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