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Hertha Dreyer * 1907

Auenstraße 10 (Wandsbek, Eilbek)


HIER WOHNTE
HERTHA DREYER
JG. 1907
EINGWIESEN 1918
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT`16.8.1943
´HEILANSTALT`
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 19.9.1944

Hertha Dreyer, geb. 4.3.1907 in Hamburg, Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 11.6.1918, Abtransport am 16.8.1943 nach Wien in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, dort gestorben am 19.9.1944

Auenstraße 10, Eilbek

Hertha Dreyer wurde am 4. März 1907 in der elterlichen Wohnung in der Conventstraße 38 im Hamburger Stadtteil Eilbek geboren und acht Tage später in der Eilbeker Kirche ohne Paten getauft.

Ihr Vater Christian Dreyer (geboren am 30. November 1865 in Hamburg) war Kaufmann und als Vertreter für Nahrungsmittel tätig, ihre Mutter Emma, geborene Göttsche (geboren am 22. Dezember 1867 in Hamburg) übte keine Erwerbstätigkeit aus. Nach ihrer Heirat am 11. Juli 1896 waren Christian und Emma Dreyer in die Mühlenstraße 28 im damals preußischen Harburg gezogen, wo als erstes Kind am 21. November 1897 Minna Elsa Auguste zur Welt gekommen war, die nur vier Monate alt wurde. Am 23. September 1899 wurde Emil Arnold als zweites Kind geboren.

Familie Dreyer zog nach Hamburg und ließ sich in Eilbek in der damaligen Jungmannstraße 31 (heute: Ruckteschellweg) nieder, wo ihr drittes Kind, Christian Karl Hermann, am 26. März 1905 geboren wurde, der nach nur zwei Wochen verstarb.

Als Hertha Dreyer 1907 zur Welt kam, ging ihr Bruder Arnold bereits zur Schule. Hertha und Arnold Dreyer wuchsen zusammen auf und blieben einander lebenslang verbunden.

Hertha Dreyers Geburt war ohne Komplikationen verlaufen, aber ihre Entwicklung verzögerte sich und kam schließlich zum Stillstand. Sie konnte nicht stehen, nicht gehen und nicht deutlich sprechen, sich jedoch mit ihrer Mutter verständigen. Als Ursache für die Entwicklungsstörungen kamen ein Sturz des Kindes vom Schoß der Mutter in der sechsten Lebenswoche in Betracht, auch eine frühe Erkrankung an Masern bzw. Scharlach oder ein Erbleiden.

Emma Dreyer beantragte eine Hauslehrerin für ihre Tochter, was abgelehnt wurde. Damit schien ihre Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) unvermeidlich. Wer diese veranlasste, ist nicht bekannt. Am 11. Juni 1918 wurde Hertha Dreyer dort wegen "Schwachsinn und Lähmungen" aufgenommen. Sie wurde als nicht arbeits-, aber doch als schulfähig betrachtet. (Der heute nicht mehr verwendete Begriff "Schwachsinn" bezeichnete eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche.) Ihr Vater kam für die Kosten auf.

Ostern 1919 trat Hertha Dreyer altersgemäß in die 4. Klasse der Anstaltsschule ein. (Damals war die 1. Klasse die höchste) Im November musste sie erstmals ihren Schulbesuch wegen eines Krankenhausaufenthalts unterbrechen. Sie war an Windpocken erkrankt und wurde zwei Wochen lang im anstaltseigenen Krankenhaus behandelt.

Aus dem Osterzeugnis 1920 ergibt sich, dass Hertha gern zur Schule ging, lebhaft am Unterricht teilnahm, geistig rege war und eine schnelle Auffassungsgabe zeigte, aber das Gelernte nur schlecht wiedergeben konnte. Ohne jede Einschränkung wurde sie nach Klasse 3 versetzt. Hertha Dreyer wurde auch körperlich und gesundheitlich beurteilt. Demnach hatte sie einen kräftigen Körperbau und konnte gehen, wenn sie unter den Armen gehalten wurde. Die Bewegungen der Arme und der Zunge konnte sie nicht kontrollieren.

Ab Herbst 1920 begann eine Zeit, in der sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Ihr Gewicht betrug 33 kg.
Im März 1921 übernahm die Hamburger Armenanstalt die Kosten für die Vierzehnjährige.

Auch die unbeherrschten Bewegungen häuften sich, Hertha Dreyers Sprache wurde undeutlicher, ihre Aufmerksamkeit ließ nach, im Lesen und Schreiben machte sie keine weiteren Fortschritte. Während sie im Handarbeitsunterricht bis dahin mit Kreuzstichstickerei keine Schwierigkeiten hatte, fiel ihr diese feinmotorische Tätigkeit zunehmend schwer. Sie blieb aber in der Schulklasse 3. Über Hertha Dreyers Verhalten hieß es, sie schmiege sich gern an, sei gutmütig und freigebig. Im Herbst 1921 musste sie Augenproblemen und einer Influenza im Krankenhaus aufgenommen werden. Bei der Entlassung wog sie 37,5 kg.

Das Osterzeugnis 1922 war widersprüchlich. Die Beurteilung lautete, Hertha sei um Fortschritt bemüht, beteilige sich rege mit richtigen und verständigen Antworten am Unterricht. Sie sei ein gutmütiges, stilles Mädchen und spreche undeutlich. Ihre Versetzung erfolgte aber nur versuchsweise. Sie selbst ging weiter gern zur Schule, kam aber kaum voran. Krämpfe hinderten sie zudem an der regelmäßigen Teilnahme am Unterricht.

Wie es damals die Regel war, fielen Schulentlassung und Konfirmation zusammen. In Hertha Dreyers Abgangszeugnis von Ostern 1924 hieß es, sie könne sich schlecht verständlich machen, lerne gut auswendig, lese zufriedenstellend und gebe sich im Rechnen und Zeichnen Mühe.

Im Laufe des Jahres nahmen Hertha Dreyers Bewegungsstörungen allmählich zu und es kamen Krämpfe hinzu, nach denen sie tagelang geschwächt war. Im November wurde sie im Krankenhaus auf ihren Hirndruck und die Krämpfe hin untersucht, die nun als epileptisch bezeichnet wurden. Außer zu leichten Handarbeiten war sie nicht arbeitsfähig. Ab November 1925 konnte sie überhaupt nicht mehr gehen, sondern wurde in einem Wagen gefahren. Die Krämpfe traten häufiger auf, außerdem erkrankte sie an Masern und musste im Krankenhaus behandelt werden.

Währenddessen spitzte sich die familiäre Situation der Familie zu: Hertha Dreyers Vater Christian hatte 1921 einen Gehirnschlag erlitten, war lange im Krankenhaus Barmbek behandelt worden und seitdem gehbehindert. Die Mutter verfiel dem Alkohol, was sie auf die schlechte Behandlung durch ihren Mann und ihren Sohn zurückführte. Die erste Jahreshälfte 1928 verbrachte sie im Versorgungsheim wegen chronischem Alkoholismus. Abgesehen davon war sie gesund und arbeitsfähig und kehrte zu ihrem Mann zurück.
Der Vater hatte zwar trotz der Folgen seines Gehirnschlags wieder zu arbeiten begonnen, musste aber immer wieder für kürzere oder längere Zeit in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg aufgenommen werden. Er ließ sich am 30. Oktober 1926 gegen Revers (auf eigene Verantwortung) entlassen, kehrte jedoch zurück, als sich 1928 seine Gehbehinderung verstärkte und sich sein psychischer Zustand verschlechterte.

Trotz dieser Probleme hielt die Familie den Kontakt zu Hertha Dreyer. Als der Vater 1926 ein halbes Jahr im Versorgungsheim verbrachte, schrieb er ihr einen Brief, dessen Inhalt nicht bekannt ist, der ihr offenbar viel bedeutete, wie sich aus der Patientenakte ergibt. Auch nahm die Familie jede Besuchszeit und Beurlaubungsmöglichkeit wahr, um mit der Tochter zusammen zu sein. Darüber gab es hin und wieder Streit mit der Anstaltsleitung und untereinander, wenn nur eine Person kommen durfte. Das war besonders ab 1928 der Fall, als Hertha Dreyers Mutter Emma wegen "Trunksucht" entmündigt wurde und Herthas Bruder Arnold heiratete. Er übernahm angesichts der gesundheitlichen Probleme der Eltern nun Verantwortung für seine Schwester, denn auf Veranlassung der Trinkerfürsorge war die Mutter am 19. Oktober 1928 wieder im Versorgungsheim aufgenommen worden. Sie wurde am 29. Mai 1929 ohne Bedenken entlassen.

Als die Alsterdorfer Anstalten 1929 Hertha Dreyers Geh-Einschränkungen durch das Anpassen von Gehschienen lindern und ihr Gebiss sanieren lassen wollten, befand sich der Vater gerade im Krankenhaus und konnte nicht - wie sonst üblich - an den anstehenden Entscheidungen beteiligt werden. An seiner Stelle stimmte die Mutter zu. Mit Unterstützung durch die Beinschienen, die Hertha Dreyer noch 1929 erhielt, konnte sie sich dann selbstständig bewegen.

Im Oktober 1929 ließ die Trinkerfürsorge Hertha Dreyers Mutter wieder ins Versorgungsheim einweisen, wo sie dann offenbar als Reinmachefrau beschäftigt wurde. Sie blieb dort diesmal bis zum 3. Juni 1931.
Hertha Dreyers Vater Christian wurde am 27. Februar 1930 als gebessert aus dem Krankenhaus entlassen. Die Ehe zwischen Hertha Dreyers Eltern wurde am 30. Mai 1930 geschieden. Christian Dreyer wurde am 10. Juli 1931 erneut in Friedrichsberg aufgenommen. Anfang 1932 erkrankte er an einer schweren Bronchitis, die am 6. Februar 1932 zu seinem Tod führte.

Wie sich die Probleme der Eltern, die Scheidung und der Tod des Vaters auf Hertha Dreyer auswirkten, wissen wir nicht. Sie lebte weiterhin in den damaligen Alsterdorfer Anstalten. Sie wollte gerne arbeiten, beschäftigte sich mit kleinen Kreuzsticharbeiten und zeichnete nach Nummern, ermüdete aber sehr schnell. Trotz ihrer undeutlichen Sprache nahm sie regen Anteil am Anstaltsleben und beteiligte sich an allen Aktivitäten, obwohl sie nach wie vor kränkelte und zudem am rechten Vorderarm Verbrennungen zweiten Grades erlitten hatte.
Ihr Befinden wechselte zwischen vollständiger Pflegebedürftigkeit, leichter Beweglichkeit und Arbeitsfähigkeit. Stimmungsmäßig war sie meist vergnügt und verträglich ihren Mitpatientinnen gegenüber.

Im August 1932 erstellte der leitende Arzt Gerhard Kreyenberg im Hinblick auf ein erbgesundheitliches Gutachten und etwaige Sterilisierung einen Stammbaum der Familien Dreyer und Göttsche, das keinerlei Anzeichen für erbliche Leiden zeigte. Hertha blieb eine Sterilisierung erspart.

In einem Pflegebericht hieß es 1933 über Hertha Dreyer einerseits, sie sei sauber, freundlich, friedlich, geduldig, gehorsam und beschäftige sich mit Lesen, Stoff Zupfen und leichter Handarbeit, aber alles mit großer Mühe, andererseits störe sie oft nachts, wolle zur Toilette getragen werden, wobei sie sich schwer mache und herrisch und unwirsch werde, wenn sie warten müsse.

Hertha Dreyers Kontakt zu ihrer Mutter kann in dieser Zeit angesichts von deren suchtbedingten Einschränkungen und längeren Aufenthalten im Versorgungsheim nicht sehr eng gewesen sein. Im September 1933 wurde Emma Dreyer in der Staatskrankenanstalt Langenhorn aufgenommen.

Auch in den folgenden Jahren änderte sich in Hertha Dreyers Leben wenig. Sie blieb geistig rege und achtete sorgfältig auf sich selbst. Ein Eintrag von 1935 fällt aus dem Rahmen: Sie biss eine Mitpatientin, als diese ihre Schürze anziehen wollte. Hertha Dreyer war frei von Anfällen, die Athetose (Bewegungsstörungen) und die Lähmungen hielten jedoch an. Als 1937 ein Abszess an ihrem rechten Oberarm auftrat, wurde wieder ein längerer Krankenhausaufenthalt nötig.

1942 ging Hertha Dreyers Bruder Arnold in Eutin eine zweite Ehe ein. Ihre Mutter Emma war 1943 nach dem Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn im Valentinskamp 65 II in der Hamburger Neustadt gemeldet.

Im Sommer 1943 zerstörten Luftangriffe der Alliierten große Teile von Hamburg. Auch die damaligen Alsterdorfer Anstalten wurden beschädigt und mussten gleichzeitig obdachlose und verletzte Bombenopfer aufnehmen. Um die Anstalt zu entlasten, wandte sich der Leiter, Pastor Friedrich Lensch, mit einem Gesuch um die Verlegung von etwa 750 Bewohnerinnen und Bewohnern in "luftsichere" Gebiete an die Hamburger Gesundheitsbehörde, die wiederum die Euthanasie-Zentrale in Berlin informierte und für die Organisation der nötigen Transporte gewann. Alternativen wurden nicht erwogen, die Angehörigen wurden nicht informiert. Arnold Dreyer, der in der Kleinstadt Eutin wohnte, hätte sonst seine Schwester zu sich genommen, wie sein späteres Verhalten zeigt.

Am 16. August 1943 wurde Hertha Dreyer mit 227 weiteren Mädchen und Frauen nach Wien in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien (bekannt auch als Am Steinhof) abtransportiert. Die Auswahlkriterien für die Verlegungen sind nicht bekannt. Hertha Dreyer war kein schwerer Pflegefall mit negativem Verhalten. Auffällig ist, dass fast ihre gesamte Abteilung 36 verlegt wurde.

Bei ihrer Aufnahme wurde die Diagnose "Schwachsinn bei Gehirnschaden, angeborene Athetose double" gestellt und angenommen, sie stamme aus einer erblich belasteten Sippe. Sie erschien dem dortigen Arzt als eine stark demente, unruhige und sehr pflegebedürftige Patientin, für die Bettruhe angeordnet wurde.

Nach einigen Wochen hatte Hertha Dreyer ihre früheren Fähigkeiten zurück gewonnen, die ungerichteten spastischen Bewegungen und die mangelnde Gehfähigkeit blieben. Sie wurde am 2. Februar 1944 in die Pflegeanstalt verlegt.

In der Patientenakte heißt es, dass Herthas Vater am 6. März 1944 erschienen sei, weil er mit ihrer Verlegung in den Pflegebereich nicht einverstanden gewesen sei. Dabei muss es sich um eine Verwechslung mit Hertha Dreyers Bruder Arnold gehandelt haben, denn der Vater war 1932 gestorben. Für eine geplante Punktion wollte der um seine Schwester besorgte Bruder sein Einverständnis nicht geben, er glaubte vielmehr, Hertha müsse verhungern. Sie wog nur 37 kg. Er forderte Milchsuppe für sie, verwahrte sich dagegen, dass sie liegen müsse und verglich die Verhältnisse in der "Ostmark" mit denen im Altreich. Er drohte damit, sich nach Berlin und an den Hamburger Gauleiter Kaufmann zu wenden.

Er wurde belehrt, dass die Verpflegung, entsprechend den außerhalb der Anstalt geltenden Rationen, für alle Patientinnen gleich sei. Ein Gespräch des Arztes mit der Patientin offenbarte, dass sie die Tatsachen übertrieben hatte, um mit nach Hause genommen zu werden. Arnold Dreyer reiste also ohne seine Schwester wieder ab. Am 23. August 1944 informierte ihn der Arzt, dass seine Schwester Hertha an einer Bronchopneumonie (Form der Lungenentzündung) erkrankt sei.

Hertha Dreyer starb am 19. September 1944, 13 Monate nach ihrer Ankunft in Wien. Als Todesursache wurde eine Lungentuberkulose angegeben. Die Sektion bestätigte die Todesursache und ergab darüber hinaus eine Atrophie von Herz und Baucheingeweiden.

Hertha Dreyer wurde 37 Jahre alt.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, in großem Maßstab weiter gemordet, durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Von den 218 Mädchen und Frauen aus den ehemaligen Alsterdorfer Anstalten kamen 196 ums Leben. Es ist davon auszugehen, dass Hertha Dreyer keines natürlichen Todes starb.


© Hildegard Thevs

Quellen: Hamburger Adressbücher; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 360; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner; Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr, 3. Aufl. 2016, Stuttgart, S. 283 ff., 331.

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