Search for Names, Places and Biographies


Already layed Stumbling Stones


back to select list

Selik Grimmann * 1895

Brauhausstraße 46 (Wandsbek, Wandsbek)


HIER WOHNTE
SELIK GRIMMANN
JG. 1895
VERHAFTET 12.7.1938
KZ FUHLSBÜTTEL
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
1943 AUSCHWITZ
ERMORDET

Selik Grimmann, geb. am 21.8.1895, zwischen 1938 und Juli 1942 mehrere Male inhaftiert, deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, am 6.9.1943 nach Auschwitz, dort ermordet

Brauhausstraße 46 (früher Holstenstraße, Wandsbek)

Selik Grimmann gehört zu den jüdischen Deportierten, die in Archiven nur wenige Spuren hinterlassen haben. Niemand hat in den 1950er Jahren für ihn Anträge auf Wiedergutmachung oder Rückerstattung gestellt oder in Yad Vashem ein Gedenkblatt hinterlegt.

Selik Grimmann kam aus Russland zusammen mit seiner jüngeren Schwester Schura. Über seine Herkunftsfamilie ist nichts bekannt, ebenso wenig wie über die Gründe seine Geburtsstadt Odessa zu verlassen. Anzunehmen ist, dass die Geschwister nicht unter der bolschewistischen Herrschaft leben wollten und deshalb ins Deutsche Reich flüchteten. Da nach Berlin bereits viele Ostjuden zugezogen waren, dürften sie sich vielleicht bessere Perspektiven in einer anderen Großstadt versprochen haben. Möglich auch, dass sie über Hamburg eine weitere Auswanderung, z.B. in die USA planten.

Bei der Suche nach Zeitzeugen, die sich noch an frühere jüdische Bewohner Wandsbeks erinnerten, bekam ich von einem Mitarbeiter des Heimatmuseums Wandsbek 1988 eine handgeschriebene Notiz über die Geschwister Grimmann: "Der russische Jude Felix Grimmann aus Odessa wohnte lt. Adreßbuch 1928: Selck Grimmann, Schneidermeister, Holstenstr. 46. Seine Schwester wohnte dort auch lt. Angabe meiner Mitschülerin, sowie eine Emma Voss mit 2 Kindern. Es waren Flüchtlinge des 1. Weltkrieges. Anfang der 30er Jahre verzog er nach Rahlstedt. Irgendwann soll er dann dort ‚abgeholt‘ worden sein. Ebenso ist über seine Schwester nichts bekannt."

Inzwischen sind 35 Jahre vergangen und viele Archivbestände zugänglich geworden. Doch die Erinnerungen des Zeitzeugen Schallwig über Selik und seine Schwester Schura (in anderer Schreibweise auch Schewa) Grimmann bilden immer noch das Gerüst für diese Biographie. Selik wurde am 21.8.1895 in Odessa geboren, das damals zu Russland gehörte, seine Schwester kam am 8.10.1903 im ca. 300 km nördlich davon gelegenen Obodowka zur Welt (beide Orte gehören heute zur Ukraine). Im Deutschen Reich galten sie als staatenlos.

Der Name Selik Grimmann erschien erstmalig 1925 im Adressbuch Wandsbek mit der Berufsbezeichnung Schneider, allerdings lese ich seinen Vornamen als Selck. Ob es sich um einen Druckfehler handelt oder die Schreibweise vom Eingetragenen selbst vorgegeben wurde, kann nicht bestimmt werden. An anderer Stelle ist mir auch die Schreibweise Selek begegnet. Der im Alltag benutzte Vorname dürfte wohl Felix gewesen sein, vermutlich eine Anpassungsstrategie um Diskriminierungen zu vermindern. Als Schneidermeister hat sich Selik Grimmann 1928 allerdings nicht ins Adressbuch eintragen lassen, das kam erst später.

Anzunehmen ist, dass auch seine acht Jahre jüngere Schwester in der Holstenstraße 46 lebte. Die Holstenstraße grenzte ans Hamburger Stadtgebiet Eilbek, zwischen den (heutigen S-) Bahnhöfen Wandsbeker Chaussee und Friedrichsberg gelegen und bildete die Längsachse zu dem östlich dahinter gelegenen dicht bebauten Quarree-Quartier. Keine schlechte Auftragslage für einen Schneider. Auch die Synagoge in der Langereihe war von dort fußläufig zu erreichen. Ob Selik Grimmann religiös war, ist ungewiss, seine Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde Wandsbek ist nicht belegt, nur die seiner Schwester.

In den Straßenverzeichnissen der Adressbücher 1928 und 1929 finden sich unter Holstenstraße 46 die Einträge:
"Grimmann, S. Schneider EG
Voss Wwe., E. EG"

Bei der Witwe dürfte es sich um die bereits erwähnte Emma Voss handeln, die dort zusammen mit ihren beiden Kindern lebte. Vermutlich entwickelte sich eine nähere Beziehung zwischen Selik und Emma, den Mietparteien des Erdgeschosses. Diese Annahme stützt sich auf einen Adressbucheintrag von 1935. Im Straßenverzeichnis von Rahlstedt finden sich unter Blücherstraße 30 die Einträge:
" e Grimmann, Felix, Schneidermstr.
Voß, Emma
Voß, Anni, Verkäuferin
Voß, Arthur, Arbeiter"
Anni und Arthur Voss waren vermutlich Emma Voss‘ inzwischen im Arbeitsprozess stehende Kinder.
Der kleingeschriebene Buchstabe "e" vor dem Namen steht für Eigentümer, d.h. Felix-Selik Grimmann hatte es zehn Jahre nach seiner Ankunft in Wandsbek zu Hausbesitz gebracht.

1935 wurden auch die Nürnberger Gesetze erlassen. Die Partnerschaft zwischen Selik Grimmann und Emma Voss war davon unmittelbar betroffen. Eine Eheschließung wäre ihnen nun gesetzlich untersagt gewesen. Doch schwerer wog das Verbot von außerehelichen Beziehungen oder wie es in § 2 des Gesetzes hieß: "Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten." Dass sich die Regelung besonders gegen jüdische Männer richtete, ging aus § 5 des Gesetzes hervor:
"Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft." Das von den Nationalsozialisten konstruierte Zerrbild des jüdischen Verführers, der die "deutschblütige" weibliche Unschuld überwältigt, findet sich hier als antisemitisches Stereotyp wieder. Das Gesetzespaket trat am 16. September in Kraft, § 5 jedoch erst am 1. Januar 1936 und damit das neue Delikt "Rassenschande". Obwohl nur Männer bestraft wurden, blieben die Frauen nicht unbehelligt: der Mann konnte nur überführt werden, wenn die Frau als Zeugin aussagte. Drohte ihr dagegen eine Strafe, so hätte sie ein Zeugnisverweigerungsrecht. Versuchte die Frau ihren Partner zu schützen, konnte sie wegen Begünstigung oder Meineides bestraft werden und/oder wurde bis zum Abschluss des Verfahrens in "Schutzhaft" genommen, vorgeblich um eine Wiederholungstat auszuschließen. Auf Geheiß Hitler wurde 1940 eine Ergänzungsverordnung erlassen, nach der die beteiligten Frauen wegen Begünstigung und Beihilfe straffrei bleiben sollten, nicht jedoch bei Meineid.
Meist löste eine Denunziation die Ermittlungen aus. Zwischen 1935 und 1943 wurden 2211 Männer wegen des Delikts verurteilt, wobei jüdische Männer höhere Strafen erhielten. Zuchthausstrafen zwischen zwei und vier Jahren wurden verhängt, manche lagen noch höher.
Die Interpretation des Begriffs "außerehelicher Verkehr" verschärfte die Situation schon bald, da nicht nur der "Beischlaf", sondern auch der Austausch von Zärtlichkeiten und Küssen bestraft werden konnte.

Bereits ab Mitte 1937 war die Gestapo dazu übergegangen, ihr zu milde erscheinende Gerichtsurteile zu korrigieren und jüdische Beteiligte zu inhaftieren. Auch einige jüdische Frauen wurden nach Abschluss eines Verfahrens offenbar in ein Konzentrationslager eingewiesen.

Das "Blutschutzgesetz" trug maßgeblich zur wachsenden sozialen Isolierung der jüdischen Deutschen bei und bildete eine Grundlage für Verfolgung und Massenvernichtung der folgenden Jahre.

1938 traf die Härte des Gesetzes auch Selik Grimmann und zerstörte dabei vermutlich die Lebensgemeinschaft mit Emma Voss. Er wurde am 12.7.1938 wegen "Rassenschande" inhaftiert und verbrachte fast ein Jahr im KZ/Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, bis er am 10.7.1939 in sein Haus nach Rahlstedt entlassen wurde. Anzunehmen ist, dass Selik Grimmann denunziert wurde. Da keine Gerichtsakten mehr existieren, ist nicht bekannt, ob Emma Voss ebenfalls strafrechtlich belangt wurde. Im Staatsarchiv Hamburg gibt es eine Liste der "Schutzhaftgefangenen" in Hamburg 1935-1943, die die akribische Verfolgung des Selik Grimmann dokumentiert. Allein zehn Haftzeiten der Jahre 1939 und 1940 sind gelistet, dazu noch zwei im Juli 1942.

Nur wenige Wochen nach seiner Entlassung kam Felix bzw. Selic Grimmann (unter diesen Vornamen war er aufgeführt) den gesamten August 1939 über erneut in Haft, im September und Oktober blieb er straffrei, bis er im November und Dezember 1939 und weiter ohne Unterbrechung vom 1. Januar bis 31. Juli 1940 einsitzen musste. Als einweisende Behörde fungierte stets das Kommissariat 23 der Kripo Hamburg, zuständig für sexuelle Delikte. Die Haft erfolgte im KZ/Polizeigefängnis Fuhlsbüttel. Vermutlich war Selik Grimmann in Rahlstedt bespitzelt worden, möglicherweise hatte er die Beziehung zu Emma Voss nicht aufgegeben, was "Vorbeugehaft" zur Folge hatte, oder das Wohnverhältnis bestand noch weiterhin. Dagegen spricht der Eintrag im Rahlstedter Adressbuch von 1939: "Grimmann, Fel., Schneid., Ra., Blücherstr. 30, Wohnung 34". Die Familie Voß ist nicht mehr verzeichnet.
1940 ist im Adressbuch Wandsbek eingetragen: "Wwe. Emma Voss, Ahrensburger Str. 87". Ob es sich um dieselbe handelte oder eine Namensgleichheit vorlag, ist nicht belegt.

Bereits Ende des Jahres 1938 war durch die Verordnung zur Ausschaltung von Juden aus dem Wirtschaftsleben die Führung von Handwerksbetrieben untersagt worden. Zudem wirkte sich die monatelange Haft negativ auf die Schneiderei aus. Dadurch, dass Selik Grimman länger nicht erreichbar war, blieben Aufträge aus und Rechnungen wurden nicht beglichen.

Anfang 1940 wurde eine Forderung des Fritz Dissmann von der gleichnamigen Firma für Schneiderbedarfsartikel, die sich in Hamburg in der Pelzerstraße 11 befand, gegen Selik Grimmann bei der Devisenstelle aktenkundig. Fraglich bleibt, ob dieser seine Schulden begleichen konnte, da er sich in "Schutzhaft" befand.

Für das Jahr 1941 sind keine Haftzeiten verzeichnet. Erst am 15.7.1942 wurde Selik Grimmann wieder aktenkundig und erneut nach Fuhlsbüttel eingewiesen, diesmal von der Gestapo Hamburg, Abtlg. II B2. Am nächsten Tag wurde er offenbar wieder entlassen, um am 17.7. von der Gestapo Hamburg wieder nach Fuhlsbüttel verbracht zu werden. Doch er wurde nicht mehr entlassen, sondern ins Stadthaus am Neuen Wall gebracht, wo sich die Zentrale der Polizei Hamburgs befand.

Selik Grimmann erhielt den Deportationsbefehl für das Getto Theresienstadt und verließ Hamburg am 19.7.1942. In der Deportationsliste ist seine letzte Adresse in Rahlstedt eingetragen, statt "Blücherstr. 30, Wohnung 34" heißt es nun "Blücherstr. 34".

Auch Schura Grimmann, die Schwester von Selik wurde von Hamburg aus nach Theresienstadt deportiert. Ihre letzte Adresse hatte Reichenstraße 53 in Itzehoe gelautet. Als Beruf war Friseurin angegeben.

Der Transport VI/2 aus Hamburg umfasste 801 Personen und erreichte das Getto am 20.7.1942. Dort mussten die Geschwister über ein Jahr lang das Lagerleben teilen, worüber wenig dokumentiert ist. Nach Auschwitz waren von dort bisher sechs Transporte mit vergleichsweise niedrigeren Häftlingszahlen abgegangen. Am 6.9.1943 ordnete die Lagerleitung - anders als vorher üblich - zwei Transporte an diesem Tag an und erhöhte die Gruppengröße der Abgeschobenen. Selik und Schura Grimmann gehörten zu den insgesamt etwa 5.000 Menschen, die das Getto verlassen mussten. Wir wissen nicht genau, wie lange sie in Auschwitz überlebten, anzunehmen ist, dass sie dort ins Theresienstädter Familienlager gebracht wurden und wahrscheinlich am 8.3.1944 ermordet wurden.

Sie wurden 49 und 41 Jahre alt.


© Astrid Louven

Quellen: StaHH 314-15_R 1940/0189 OFD; StaHH 242-1 II, Gefängnisverwaltung; Notiz von Herrn Schallwig über die Geschwister Grimmann vom 29.8.1988; Adressbücher Wandsbek 1928+1929+1940; Adressbücher Rahlstedt 1935+1939; Adressbuch Hamburg 1940; 1 (Kultussteuerkartei Schura Grimmann); Gedenkbuch BArch; Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935. http://www.documentarchiv.de/ns/nbgesetze01.html; Wikipedia Eintrag "Rassenschande"; StaHH Liste "Schutzhaftgefangene" in Hamburg 1935-1943 (Quellenauswertung Staatsarchiv Hamburg, Stand: 1991); StaHH 213-8_976 Staatsanwaltschaft Oberlandesgericht; StaHH 331-1 II Polizeibehörde 7253 Bd. 2 II; Datenbanken der Theresienstädter Initiative https://katalog.terezinstudies.cz/deu/ITI/database/database; Auskunft von Dr. Anna Hajkova, Mail vom 28.7.2023.

print preview  / top of page