Zur Erinnerung an Inge Hutton (1920 – 2021)


Am 6. November 2021 verstarb Inge Hutton.

Seit nunmehr 35 Jahren begleitete und unterstützte sie unsere Arbeit: Im Jahr 1986 gründete sich in der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel die Arbeitsgruppe "Juden in Eimsbüttel". Zwei Jahre zuvor hatte Ingeborg Hecht ihr Buch "Als unsichtbare Mauern wuchsen" veröffentlicht, und wir trafen uns mit der Autorin in der Galerie Morgenland. Sie, im Buch "die große Inge" genannt, brachte die "kleine Inge" mit, Inge Hutton. So lernten wir uns kennen.

Einige Zeit später wollte ich mit der Videogruppe Stadtjournal einen Film zur Situation sogenannter Halbjuden während der NS-Zeit drehen und traurigerweise verstarb die vorgesehene Zeitzeugin kurz vor Drehbeginn. Nur zögernd fragte ich bei Inge Hutton an, ob sie wohl einspringen würde. Für Inge hingegen war es gar keine Frage: "Selbstverständlich helfe ich Ihnen". So änderten wir das Konzept des Films und Inge enttäuschte uns nicht, im Gegenteil: Sie erwies sich als begnadete Erzählerin, die den künftigen ZuschauerInnen die Verfolgungszeit und ihren Umgang damit klar, präzise und sprachlich gewandt nahebringen konnte.

Der fertige Film zeigt parallel das Leben zweier "Halbjuden": der eine, Rolf Baden, wurde von den Nationalsozialisten als "Mischling ersten Grades" verfolgt, die andere, Inge Hutton, als "Geltungsjüdin", weil ihre Mutter bei der Eheschließung zum Judentum konvertiert war. Inge übernahm schon als Jugendliche die Verantwortung für die Familie, die ihre Mutter nicht tragen konnte oder wollte. Ihr Vater, seine zweite Ehefrau und auch ihre Tanten wurden im Holocaust ermordet, sie selbst kam gerade noch davon. Unser Film, 1989 fertig gestellt, feierte Premiere in der Israelitischen Töchterschule und wurde seitdem hunderte Male an den unterschiedlichsten Orten gezeigt und diskutiert, in Kulturzentren, der Uni oder in Schulen, zuletzt 2019 im "Filmraum" in Eimsbüttel.

Inge nahm oft an diesen Veranstaltungen teil, ebenso, wenn der Videofilm "Trümmerjahre. Frauen in Hamburg 1943-1953", gezeigt wurde, den ich im Rahmen meiner Arbeit für die "Werkstatt der Erinnerung" an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte 1993 erstellt hatte. Neben anderen Frauen berichteten auch hier die große wie die kleine Inge von ihren Erfahrungen in der Endphase der NS-Herrschaft und der frühen Nachkriegszeit. Mit diesem zweiten Film "reisten" Inge und ich monatelang im Auftrag des Frauenbildungswerkes zu den Fraueninitiativen und -zentren der Stadt, ich in Jeans, sie immer im Kostüm mit passenden Pumps. In den Diskussionen stand sie souverän Rede und Antwort und beeindruckte die ZuhörerInnen immer wieder durch ihren Mut, Klugheit und Klarheit.

Inge war es wichtig, an die Verfolgten und Ermordeten zu erinnern, an ihre eigenen Verluste und die anderer. Bis zu deren Auflösung gehörte sie deshalb der "Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen" an. Und sie nahm an vielen Veranstaltungen teil, las Bücher und – als ich später die Biographieforschung zu den Stolpersteinen anleitete - gab sie mir und anderen bereitwillig Auskunft über ihren Vater, ihre Tanten, ihren Jugendfreund oder auch emigrierte Freunde der Familie, die in deren Lebensgeschichte einflossen. Auch in den Eingangssitzungen des Seminares "Vom Namen zur Biographie" am Fachbereich Public History der Uni Hamburg berichtete sie mehrfach als Betroffene und Zeitzeugin, nun aber auf eigenen Wunsch mit dem Schwerpunkt auf die Bedeutsamkeit der Erinnerung für Angehörige, aber ebenso für nachgeborene Deutsche. Es hatte auch ihr viel bedeutet, dass eine ehemalige Nachbarin einen Stolperstein für ihren Vater vor dem ehemaligen "Judenhaus" Bornstr. 22 hatte verlegen lassen.

Erschien wieder eines der mittlerweile 22 Bücher unserer Reihe "Stolpersteine in Hamburg", gehörte Inge zu unseren intensivsten LeserInnen. Sie nahm sich Zeit dafür: Bequem in ihrem Lehnstuhl sitzend, schlug sie das jeweilige Buch hinten auf und las zunächst das Personenregister. Sie tauchte dann ein in eine vergangene Welt, die Welt ihrer Kindheit und Jugend. Sie "traf" dort nicht nur auf Freunde oder nahe Bekannte, sondern auch auf Läden, Geschäfte oder Ereignisse und traurige wie gute Erinnerungen stiegen auf. Manche Stellen markierte sie für ihren Sohn, manchmal bat sie mich auch, ein Exemplar in die USA zu schicken, um die Nachfahren von Freunden zu informieren.

Das Programm der Galerie Morgenland und des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden pflegte sie aufmerksam zu studieren und nahm, wann immer es ging, an den Veranstaltungen dort oder im Rahmen der Stolperstein-Biographieforschung teil. Als ihr 100ster Geburtstag bevorstand, wollte sie sich auf der Feier keine Geschenke, sondern Spenden für Stolpersteine wünschen. Die beiden Sparschweine blieben ungenutzt: Corona machte ihr einen Strich durch die Rechnung, die Feier fand nicht mehr statt. Ebenso musste die des 101sten Geburtstags ausfallen.

Wir verlieren eine hochgeschätzte Zeitzeugin, eine mutige, kluge, interessierte, humorvolle und lebenslustige Zeitgenossin und liebe Freundin gleichermaßen.

Beate Meyer


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