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Jutta Müller * 1940

Langenhorner Chaussee 560 (Hamburg-Nord, Langenhorn)


ERMORDET IN DER
"KINDERFACHABTEILUNG"
DER HEIL- UND PFLEGEANSTALT
LANGENHORN

JUTTA MÜLLER
GEB. 14.7.1940
ERMORDET 10.6.1943

further stumbling stones in Langenhorner Chaussee 560:
Gerda Behrmann, Uwe Diekwisch, Peter Evers, Elke Gosch, Claus Grimm, Werner Hammerich, Marianne Harms, Hillene Hellmers, Helga Heuer, Waltraud Imbach, Inge Kersebaum, Hella Körper, Dieter Kullak, Helga Liebschner, Theo Lorenzen, Ingrid Neuhaus, Traudel Passburg, Edda Purwin, Angela Quast, Erwin Sänger, Hermann Scheel, Gottfried Simon, Monika Ziemer

Jutta Müller, geb. am 14.7.1940 in Hamburg, getötet am 10.6.1943 in der "Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn"

Asklepios-Klinik Nord-Ochsenzoll, Henny-Schütz-Allee, Gedenkort Haus 25, Einfahrt Langenhorner Chaussee 560

Jutta Müller kam am 14. Juli 1940 in Hamburg zur Welt. Sie war die Tochter von Wilma Elfriede, geb. Bollhagen, und dem Elektromechaniker Heinrich Fritz Karl Müller, die seit März 1935 miteinander verheiratet waren. Jutta musste als Frühgeburt von sechseinhalb Monaten das erste Vierteljahr ihres Lebens im Brutkasten in der Frauenklink Finkenau verbringen. Am 7. Oktober 1940 kam sie nach Hause in den Gerstenkamp 15, Barmbek-Süd. Sie wurde evangelisch-lutherisch getauft.

Als sich keine Fortschritte in ihrer Entwicklung zeigten, erfolgten Aufenthalte in verschiedenen Krankenhäusern, zunächst im Januar 1941 in der Kinderklinik Rothenburgsort, da sie an Brechdurchfall litt. Anschließend war sie in Behandlung bei Dr. Roggenkemper, der veranlasste, dass sie am 21. April 1941 in das Krankenhaus Eppendorf kam. Dort eröffnete der behandelnde Arzt den Eltern, dass Jutta unheilbar krank sei.

Drei Wochen später, nach einem Nervenzusammenbruch der Mutter, kam Jutta in das Waisenhaus Averhoffstraße. Dort blieb sie vier Monate, bevor sie in die "Alsterdorfer Anstalten" gebracht wurde. Von dort erfolgte mit dem Attest "Schwachsinn" am 9. Mai 1942 ihre Verlegung in die "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn", Haus 10; die Eltern erhielten darüber einen schriftlichen Bescheid. Der "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" in Berlin hatte die Kosten zunächst vom 24. Juni 1942 für vier Monate und dann schließlich bis zum 9. Mai 1943 übernommen.

Friedrich Knigge hatte die Eltern am 20. September 1942 aufgefordert, Jutta wieder abzuholen. Mit dem Antwortbrief ihres Vaters nahm ihr weiteres Schicksal seinen Lauf: "In diesen Tagen ging mir wiederum die Aufforderung zu, mein dort zur Beobachtung befindliches Kind in meine Wohnung zurückzuholen. Ich bedaure, dieser Aufforderung nicht Folge leisten zu können und zwar aus folgenden Gründen: Meine Ehefrau ist seit der Geburt dieses Kindes seelisch völlig zerbrochen und auch körperlich derartig hinfällig geworden, daß ich das Schlimmste zu befürchten Anlaß habe. Ich bin bereit, über ihren Gesundheitszustand ein ärztl. Gutachten beizubringen. Ihr Zusammenbruch würde ein völliger sein, sähe sie sich gezwungen, dieses unheilbare Kind wieder zu sich zu nehmen; außerdem ist sie zur Betreuung unseres Kindes garnicht fähig. Des weiteren führe ich an, daß ich als Elektromaschinenbauer im Rüstungsbetriebe tätig bin und bei meiner übermäßigen Beanspruchung wohl erwarten darf, von einer gesunden Frau aufgewartet zu werden. Es ist unser Wunsch, bald wieder ein gesundes Kind zu besitzen zu dürfen. Diese Erwartung würde uns zu unserem Leidwesen zunichte gemacht werden, würde uns das unheilbare Kind zwangsmäßig wieder zugeführt werden. Ich gebe von dieser Zuschrift der Sozialverwaltung eine Abschrift und bitte die Direktion der Heil- und Pflegeanstalten Langenhorn, von weiteren Aufforderungen, wie bisher an uns gerichtet, absehen zu wollen, da meine Frau dann immer ernstliche Rückfälle, die ich auf Dauer nicht mehr ertragen kann, zu erleiden hat. Ich werde mich durch die Soz. Verw. bemühen, für mein Kind eine geeignete Unterkunft zu finden. Mit deutschem Gruß […]"

Die Krankenhausprotokolle sind nicht erhalten geblieben.

Jutta Müller wurde nach über einem Jahr Aufenthalt in der "Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" getötet. Sie verstarb am 10. Juni 1943 um 11:30 Uhr in Haus M 10, Frauenabteilung II. In der Todesbescheinigung ist von Dr. Knigge als Todesursache "Idiotie", "Hydrocephalus" (Wasserkopf, eine krankhafte Erweiterung der mit Liquor [Nervenwasser] gefüllten Flüssigkeitsräume des Gehirns [Hirnventrikel]) und "Bronchitis" angegeben.

Knigge tötete mit Luminal-Injektionen, einem Schlafmittel. Fieber und eine Lungenentzündung waren die Folge; die Kinder erlitten einen langsamen und qualvollen Tod. In den meisten Todesbescheinigungen, wie auch bei Jutta, deutet der Zusatz "Bronchopneumonie" bzw. "Bronchitis" auf diese Tötung hin.

Jutta wurde 2 Jahre, 10 Monate, 4 Wochen und 6 Tage alt.

Sie war das letzte Kind, das – soweit bekannt – in der "Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" getötet wurde.

Eine Woche später wurde Jutta Müller am 16. Juni 1943 um 12:00 Uhr von Langenhorn auf den Ohlsdorfer Friedhof Kapelle 1 überführt. Am nächsten Tag fand um 12:00 Uhr ihre Beisetzung durch den Beerdigungsunternehmer Harbuk "mit Dekoration, Pflanzen und Harmonium- bzw. Orgelmusik" statt. Der Vater hatte eine Einzelgrabstätte für sie ausgesucht, Grablage W 6, Nr. 494. Diese ist nicht mehr erhalten.

Nach dem Krieg gab Dr. Knigge am 18. Januar 1946 in der Strafsache gegen ihn und andere wegen Mordes bzw. Sterbehilfe in der "Kinderstation" des Krankenhauses Langenhorn in einer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Hamburg zum Fall Jutta Müller als Rechtfertigung an: "Zu mir kam das Kind am 9. Mai 1942. Ich verhielt mich lange abwartend da ich Hoffnung hatte, daß aus dem Kinde doch noch etwas werden würde. In diesem Sinne berichtete ich an den Reichsausschuß. Wie die Anlage vom 16. Oktober 1942 zeigt, wurde ich damals wieder gemahnt, einen neuen Bericht zu geben. Diesen Bericht habe ich am 27. Oktober 1942 erstattet. […] er trägt auch das Zeichen, daß Senator Ofterdinger ihn gesehen hat. Ich habe damals eine weitere Beobachtungszeit verlangt, diese hat der Reichsausschußnur sehr ungern gewährt. Wie ich aus vielen Rückfragen in anderen Fällen schließen konnte, wollte der Ausschuß wegen der Kostenersparnis überhaupt möglichst kurze Beobachtungszeiten haben. Ich habe aber auch hier meinen Willen durchgesetzt und das Kind ein Jahr lang beobachtet. Körperlich war das Kind klein und schwächlich. Die Knochen waren durch Rachitis verdickt und die Wirbelsäule war verkrümmt. Wie bei der Littleschen Krankheit [cerebrale Kinderlähmung] war die Spannung in den Armen und Beinen erhöht. Auch wurden die Beine wie bei der Littleschen Krankheit in Scherenstellung gehalten. Durch einen krankhaften Gehirnreiz waren die Hände ständig zur Faust geballt. Anfangs schien das Kind geringe Fortschritte zu machen. Später kam aber ein schwerer Rückschlag. Die geistige Entwicklung ging immer weiter abwärts. Im Frühjahr 1943 war das Kind so stumpf und aphatisch, daß ich nunmehr meine Diagnose ändern mußte. Ich nahm wie die früheren Untersuchungen jetzt auch eine unheilbare Idiotie an, die aus der ungenügenden und nicht mehr auszugleichenden Gehirnentwicklung zu erklären war. Am 10. Mai 1943 berichtete ich an den Reichsausschuß. Nachdem die Einwilligung eingetroffen war, bekam das Kind am 8. oder 9. Juni 1943 Luminal und ist am 10. Juni 1943 gestorben.

Die Eltern waren schon bei den früheren Ärzten durch ihr unglaubliches Verhalten aufgefallen. Auch bei mir machte die Mutter ein hohles hysterisches Geschrei, daß sie das Kind auf keinen Fall wiederhaben wollte. Wenn das Kind wiederkäme ginge sie nach Ohlsdorf. Der Vater fragte oft in vorwurfsvoller Weise, wann etwas mit dem Kind geschehe; seine Frau ging noch darüber zugrunde. Ich habe mich weder durch den Vater noch durch die Mutter beeinflussen lassen. Weil ich anfangs mit einer Entwicklungsmöglichkeit rechnete, habe ich mit der Behandlung über ein Jahr lang gewartet. Meine Verstimmung über die Herzlosigkeit der Eltern hat auch dazu beigetragen, daß ich die Beobachtung solange ausdehnte."

Als Zeugin am 5. Februar 1948 vor Gericht erklärte Juttas Mutter Wilma Müller am 5. Februar 1948: "Dr. Knigge war zu mir sehr scharf und unfreundlich. Er fragte mich, ob ich das Kind sehen wolle. Ich entgegnete ihm darauf, daß ich dazu nicht imstande wäre. Weiter hat er keine Frage an mich gestellt, auch nichts gesagt. […] Nach dem 21. April 1941, als mein Kind nach dem Krankenhaus Eppendorf gebracht wurde, habe ich das Kind nicht mehr gesehen. […] Wir haben das Kind nach Langenhorn verlegen lassen, weil wir der Auffassung waren, daß die Lebensdauer des Kindes in den Anstalten in Alsterdorf künstlich verlängert würde. Mein Ehemann hatte einmal Jutta in der Anstalt besucht und bei dieser Gelegenheit wieder einen besonders traurigen Eindruck von dem schwerkranken Kinde erhalten. An dem Bett des Kindes stand, soviel mir mein Ehemann erzählte, die Oberin oder eine Oberschwester. Mein Ehemann erzählte mir, daß er geäußert habe: ‚Ist es nicht traurig, daß man so ein armes Wurm am Leben erhält? Das kranke Kind lebt, und meine Frau geht zugrunde.‘ Daraufhin habe die Oberin geantwortet: ‚Herr Müller, dann ist es schon besser, Sie lassen das Kind nach Langenhorn verlegen.‘ Daraufhin haben wir schriftlich die Verlegung des Kindes von Alsterdorf nach Langenhorn beantragt. Ich hatte mir vorgestellt bei dieser Mitteilung meines Ehemannes, daß man mein Kind in Langenhorn nicht künstlich hochpeppeln würde. Bis zum heutigen Tage bin ich auch der Auffassung, daß Jutta eines natürlichen Todes gestorben ist."

© Margot Löhr

Quellen: StaH, 213-12 Staatsanwaltschaft, 013/060, Akte 29782, 0017 Bd. 001, Bayer Dr. Wilhelm, u. a., S. 70, S. 140 f., S.228 f.; StaH, 332-5 Standesämter, Sterbefallsammelakten, 64247 u. 737/1943 Jutta Müller; StaH, 332-5 Standesämter, Sterberegister, 9943 u. 737/1943 Jutta Müller; StaH, 352-5 Standesämter, Todesbescheinigungen, 1943 Sta 1b Nr. 737 Jutta Müller; StaH, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2000/01, 64 UA 6 Akte 29782; Standesamt Hamburg 6, Geburtsregister, Nr. 3207/1940 Jutta Müller; Archiv Friedhof Ohlsdorf, Beerdigungsregister 1943, Nr. 4660, Grabbrief 51012/1943.

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