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Amanda Baumgarten (geborene Kraese) * 1872

Sillemstraße 10 a/b (Eimsbüttel, Eimsbüttel)

gedemütigt entrechtet
Flucht in den Tod 23.10.1938

Weitere Stolpersteine in Sillemstraße 10 a/b:
Henry Heitmann

Henry Alfred Heitmann, geb. am 10.9.1903 in London, und seine Mutter
Catharina Amanda Friederika Baumgarten, verwitwete Heitmann, geb. Kraese, geb. am 27.2.1872 in Hamburg, gemeinschaftlicher Selbstmord am 23.10.1938 in Hamburg

Sillemstraße 10 a/b (Sillemstraße 22)

"Ich war soeben an der Wohnungstür der Frau Baumgarten. Da auf mein wiederholtes Klingeln und Klopfen nicht geöffnet wurde, nehme ich an, dass Frau Baumgarten und ihr Sohn Henry Heitmann, Selbstmord begangen haben. Ich war zuletzt am 23.10.38 mit beiden zusammen. Beide äusserten hier schon ihre Selbstmordabsichten. Sie waren in sehr gedrückter Stimmung, weil Heitmann eine Vorladung von dem Kr.Sekr. Finnern, des 24. K, erhalten hatte. Ich verliess gegen 21 Uhr die Wohnung und Heitmann begleitete mich, um von einer Apotheke ein Schlafmittel zu holen."

Mit diesen Angaben informierte der mit Henry Heitmann befreundete kaufmännische Angestellte und Schauspieler Heinz Ihnen am 25. Oktober 1938 das für die Sillemstraße zuständige Polizeirevier 23 in der Fruchtallee. Die Beamten konnten nur noch den Tod von Amanda Baumgarten und ihrem Sohn feststellen, die auf Matratzen liegend in der Küche vor dem Gasherd gefunden wurden. Todesursache war eine Vergiftung mit Leuchtgas.

Auslöser dieses Doppelselbstmordes war die Identifizierung von Henry Heitmann am 11. Oktober 1938 in einer Lichtbildkartei der Kriminalpolizei durch den Strichjungen und Erpresser Theodor Gehring (geb. 1918, hingerichtet am 9. Juli 1942). Dieser war in der Gneisenaustraße in Hoheluft-West zu Hause und hatte in den Jahren um 1936 seine Freier vor allem in der Nähe der Eimsbüttler Christuskirche gesucht. Die "Klappe" an der Christuskirche und das Areal um diese öffentliche Toilette war Mitte der 1930er Jahre ein beliebter und frequentierter Treffpunkt von Männern, die einen männlichen Sexualpartner suchten, und von Strichjungen, die ihre Dienste anboten. Auch Henry Heitmann hatte Theodor Gehring 1936 oder 1937 dort kennengelernt und sich mit ihm vier bis fünf Male getroffen. Die sexuellen Handlungen (Onanie) wurden in Treppenhäusern, u. a. in den Straßen Am Gehölz und in der Weidenallee, ausgeführt. Für die Dienstleistung bekam Theodor Gehring zunächst zwei bis drei RM, später erhielt er, nach Androhung, Henry Heitmann bei der Polizei zur Anzeige zu bringen, wenn er nicht mehr Geld erhalten würde, zusätzliche fünf RM. Der zu den schärfsten Vernehmungsbeamten zählende Kriminalsekretär Heinrich Finnern (geb. 1900, gest. 1980) lud Henry Heitmann daraufhin vor.

Möglicherweise hatte Henry Heitmann den Polizeibeamten aus seinem vorangegangenen Verfahren in unangenehmer Erinnerung: Im homosexuellenfeindlichen Klima der Nationalsozialisten hatte sich am 3. Juli 1937 der 16-jährige junge Schwule Carl-Heinz Dellin (geb. 1921, ein Stolperstein ist in Hammerbrook, Heinrich-Grone-Stieg/Ecke Sachsenfeld geplant) das Leben genommen. Dieser Selbstmord löste wie in vergleichbaren Fällen umfangreiche Nachforschungen der Polizei im Umfeld des Verstorbenen aus, zumal die Mutter aufgrund eines an ihren verstorbenen Sohn adressierten Liebesbriefes auch den Verdacht strafbarer homosexueller Handlungen gegenüber der Polizei äußerte. Carl-Heinz Dellin war jüngster Teilnehmer einer Freizeit-Paddelgruppe auf der Elbe, zu der auch Henry Heitmann gehörte. Im Laufe der Ermittlungen wurde durch die Aussagen verschiedener Männer deutlich, dass dieser Freundeskreis überwiegend aus homosexuellen Männern bestand, die in unterschiedlichen Konstellationen Verhältnisse pflegten oder auch nur einmalige sexuelle Erfahrungen miteinander ausgetauscht hatten. Darunter war auch ein direkter Wohnungsnachbar von Henry Heitmann im dritten Stockwerk in der Sillemstraße 22, Hans-Heinz Ankerstein (geb. 1913).

Henry Heitmann muss der Polizei bereits als Homosexueller bekannt gewesen sein, da in einem Verhör seines Paddelkameraden Werner Bechler (geb. 1901) dieser im Juli 1937 über ihn aussagte, "dass er in sittlicher Hinsicht schon mit der Polizei zu tun hatte". Am 27. Juli 1937 wurde Henry Heitmann in "Schutzhaft" in das KZ Fuhlsbüttel überführt. Dort verblieb er bis zum 3. September 1937, bevor er in Untersuchungshaft kam. Die Anklage der Staatsanwaltschaft, "widernatürliche Unzucht" betrieben zu haben, führte am 10. Juli 1937 zu seiner Verurteilung vor dem Amtsgericht Hamburg nach § 175 zu vier Monaten Gefängnishaft, die er bis 23. November 1937 im Männergefängnis Fuhlsbüttel absaß.

Auch wenn die Strafakte von Henry Heitmann nicht erhalten geblieben ist, so befanden sich in dem Verfahren gegen seinen Paddelkameraden Werner Bechler für die Forschung wichtige Aussagen zu seiner Biographie und vor allem nur selten überlieferte Privataufnahmen, die 1937 von der Polizei beschlagnahmt worden waren. Sie zeigen uns den 1,80 Meter großen, dunkelblonden Mann, der nach Aussage des Strichjungen Theodor Gehring einen "komi­schen, fast hinkenden Gang" gehabt haben soll.

Henry Heitmann kam 1903 im Londoner Stadtteil Clapham als Sohn des dort auch verstorbenen Bankangestellten Heinrich Heitmann und Amanda, geb. Kraese zur Welt. Er hatte keine Geschwister. Die Mutter war 1872 in Hamburg-St. Pauli als Tochter des aus Malchow in Mecklenburg gebürtigen Polizeioffizianten Ernst Kraese und Therese Juliane Amanda, geb. Behrens, zur Welt gekommen. Die Familie wohnte in der Amandastraße 28.

Nach dem Tod ihres Mannes Heinrich Heitmann heiratete die Mutter 1910 in Hamburg den Werkführer Hinko Filip Baumgarten, der 1880 in Agram, heute Zagreb, in Kroatien geboren wurde. 1938 lebte sie von diesem Mann getrennt.

Henry Heitmann hatte eine kaufmännische Ausbildung erhalten. Bei der inhabergeführten Im- und Exportfirma Guttmann u. Widawer in der Gerhofstraße 3/5 arbeitete er 1937 als Angestellter. Dort bildete er u. a. auch Lehrlinge aus. Einer dieser Lehrlinge, Helmut Schrader (geb. 1917), beteiligte sich auch an den Bootsfahrten auf der Elbe.

Der eingangs erwähnte Heinz Ihnen, der den Selbstmord der Polizei gemeldet hatte, gehörte ebenfalls zu den Paddelkameraden. Henry Heitmann wird aufgrund seiner Vorstrafe bewusst gewesen sein, dass ihm in einem erneuten Verfahren eine höhere Strafe, wenn nicht gar die Einweisung in ein Konzentrationslager oder die Empfehlung zu einer "freiwilligen" Kastration drohte. Diesem Martyrium wollten er und seine mit ihm fühlende Mutter sich nicht aussetzen und wählten wie rund ein Viertel aller homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus in Hamburg die "Flucht in den Tod". Die nicht überlieferten Abschiedsbriefe sind an den Neffen bzw. Cousin Hans Altvater aus Altona gelangt.

© Bernhard Rosenkranz(†)/Ulf Bollmann

Quellen: StaH 213-8 Staatsanwaltschaft Oberlandesgericht – Verwaltung, Abl. 2, 451 a E 1, 1 b; 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht – Strafsachen, 584/38 u. 3834/40, Blätter 41 u. 43; 242-1 II Gefängnisverwaltung II, Ablieferungen 13 u. 16; 331-5 Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, 1786/38; 332-5 Standesämter, 6480 (Eintrag Nr. 379) u. 8160 (Eintrag Nr. 220); 332-3 Zivilstandsaufsicht, A 239, wg. Eintrag Nr. 306; 352-5 Gesundheitsbehörde – Todesbescheinigungen, 1938 Standesamt 20 a Nr. 221; Rosenkranz/Bollmann/Lorenz, Homosexuellen-Verfolgung, S. 97–98, 199, 217.

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