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Anna Böttcher (geborene Stock) * 1884

Graumannsweg 32 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
ANNA BÖTTCHER
GEB. STOCK
JG. 1884
ENTRECHTET / GEDEMÜTIGT
FLUCHT IN DEN TOD
11.7.1942

Anna Elisabeth Henrietta Böttcher, geb. Stock, geb. am 24.6.1884 in Altona, Selbstmord am 13.7.1942

Graumannsweg 32

Am Grab ihres Mannes August auf dem Ohlsdorfer Friedhof wollte Anna Böttcher am 11. Juli 1942 ihrem Leben ein Ende setzen. Sie nahm eine hohe Dosis Schlafmittel ein, doch fand man sie noch lebend und brachte sie ins Krankenhaus nach Barmbek. Zwei Tage dauerte ihr Todeskampf. Dann starb sie, kurz nach ihrem 58. Geburtstag.

Anna Elisabeth Henrietta Böttcher war die Tochter des jüdischen Ehepaars Alexander und Emilia Stock, geborene Sonnenberg. Beide stammten aus Hamburg. Alexander Stock war Inhaber der Ottenser Fabrik für Gummi- und Lederwaaren A. Sonnenberg & Sohn, die ihren Sitz erst in der Bahrenfelder Straße 125, ab 1892 in der Holländischen Reihe hatte. Sie stellte unter anderem Hosenträger, Gürtel und lederne Geldtaschen her, sogenannte Porte-Trésors. Die Firma hatte ursprünglich Emilias Vater Wilhelm allein gehört, 1881 war ihr Bruder Alexander als Teilhaber hinzugekommen. 1883 stieg Alexander Stock, dessen Familie in der Bahrenfelder Straße einst selbst eine Lederhandlung besessen hatte, als zweiter Teilhaber in das Unternehmen ein. Ab 1886 führte er die Firma allein.

Alexander und Emilia Stock wohnten auch in Ottensen. Ab 1883 waren sie in der Großen Brunnenstraße 24 gemeldet. Außer Anna, die Anni genannt wurde, hatten sie sieben weitere Kinder, die sie alle evangelisch taufen ließen: Amalie (geboren 1882), Emma Alice (geboren 1883), Martin Albert (geboren 1886), Sophia Auguste (geboren 1887), Albertine Helene Paula (geboren 1888), Alwine Minna Wilhelmine (geboren 1893) und Otto Alexander (geboren 1896). Auffällig ist, dass jedes Kind einen Vornamen bekam, der wie beim Vater mit "A" begann.

1902, mit etwa 18 Jahren, verließ Anni Stock die elterliche Wohnung in der Großen Brunnenstraße, um nach Papenburg zu ziehen. Im folgenden Jahr kehrte sie zurück und lebte wieder bei den Eltern, die mittlerweile das Erdgeschoss und den ersten Stock des Hauses in der Holländischen Reihe 103 bewohnten. Es lag direkt neben Alexander Stocks Lederwarenfabrik. Um 1905 zog Anni nach Artern in Thüringen und etwa zwei Jahre später, 1907, weiter nach Friedenau. Der heutige Berliner Stadtteil war damals noch eine selbstständige Landgemeinde im Kreis Teltow. Noch im selben Jahr meldete sie sich nach Braunschweig ab. Vermutlich hatte sie an diesen Orten Arbeitsstellen angenommen. 1908 wohnte sie wieder bei ihren Eltern.

Im Jahr darauf, am 24. April 1909, heiratete Anni Stock in Ottensen den rund sechs Jahre älteren Karl Heinrich August Böttcher. Er stammte aus Bölhorst bei Minden, seine Eltern waren der Gendarmerie-Oberwachtmeister a.D. Wilhelm Böttcher und dessen Ehefrau Emilie, geborene Homann. Bei seiner Hochzeit wohnte August Böttcher noch bei seinen Eltern in Münster, Westfalen. Er gehörte wie Anni der evangelischen Kirche an und arbeitete als Vizewachtmeister im 2. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 22. Nach der Heirat zog er nach Hamburg und schlug eine Laufbahn als Zollbeamter ein.

Anni und August Böttcher lebten erst am Billwerder Steindamm 34 in Hammerbrook. Dieser Stadtteil, den heute fast ausschließlich Industrie- und Gewerbebauten dominieren, war bis zur Bombardierung im Juli/August 1943 ein dicht besiedeltes Wohngebiet. Um 1913 zogen sie innerhalb Hammerbrooks um, in die Sonninstraße 2. Sie bekamen keine Kinder. Ab 1932 verlieren sich die Spuren des Ehepaars vorübergehend. Am 1. März 1939 starb August Böttcher in Wiesbaden, vielleicht hatten sie dort einige Jahre lang gewohnt. Beerdigt wurde er jedoch in Hamburg, wo seine Frau von da an auch nachweislich wieder lebte. So trat sie noch 1939 in die Hamburger Jüdische Gemeinde ein. Diese war eine Bezirksstelle der Zwangsorganisation Reichsvereinigung der Juden geworden und alle "Volljuden" im rassischen Sinn mussten ihr beitreten – so auch Anni, obwohl sie evangelisch getauft war.

Ihr letzter freiwillig gewählter und bekannter Wohnort war Graumannsweg 24, hier hatte sie 1942 ein Zimmer bei Irmgard Körner gemietet. Von dort wurde sie Anfang März 1942 in ein Wohnhaus an der Kielortallee 24 eingewiesen. Dieses hatte einst zusammen mit dem Haus Nr. 22 das Oppenheimer’s Stift gebildet, das Freiwohnungen an hilfsbedürftige Mitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde vergab. Seit 1941 befand es sich als "Judenhaus" unter der Kontrolle der Gestapo.

Anni Böttcher wollte nicht auf ihre Deportation warten und beendete ihr Leben selbst. Von ihren sieben Geschwistern konnte nur Otto Alexander Stock dem NS-Terrorregime entgehen. Er emigrierte in die Niederlande und starb 1974 in Gouda.

Amalie Stock hatte am 18. März 1908 in Altona den in Eutin geborenen, nichtjüdischen Kaufmann Wilhelm Daniel Paasch geheiratet. Als die Ehe Ende Mai 1944 geschieden wurde, verlor Amalie den Schutz durch ihren Ehemann. Sie wurde in das KZ Auschwitz deportiert und dort Ende Oktober 1944 ermordet. Für sie liegt ein Stolperstein in Hamburg-Winterhude, Lattenkampstieg 4.

Emma Alice Stock hatte am 28. März 1908 die Ehe mit dem Hamburger Kaufmann Wilhelm Rudolf Hülsz geschlossen, auch er war nichtjüdisch. Am 21. Mai 1915 starb er mit nur 35 Jahren im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg. Emma Alice Hülsz tötete sich am 30. Dezember 1940 selbst. Als Todesursache ist in der Sterbeurkunde "Kohlenoxydgasver- giftung" genannt. Für sie liegt ein Stolperstein in Hamburg-Altona, Große Brunnenstraße 8, wo sie noch mit ihrem Mann zusammen gewohnt hatte.

Martin Albert Stock wurde 1907 in die damalige "Provinzial-Irrenanstalt, Schleswig-Stadtfeld" eingewiesen (heutige Nachfolgeeinrichtung ist die Klinik für Psychatrie und Psychosomatische Medizin des Helios Klinikums Schleswig). Dort verlieren sich seine Spuren.

Sophia Auguste Stock hatte am 17. Oktober 1908 in Altona Hochzeit mit dem in Altensteig/Württemberg geborenen Kaufmann Adolf Luz gefeiert. Die Ehe wurde Ende Januar 1916 geschieden. Später zog Sophia Auguste nach Berlin, wo sie sich am 6. November 1917 mit dem dort lebenden jüdischen Kaufmann Sally Sittig vermählte. Auch diese Verbindung scheiterte, sie wurde im Juni 1920 geschieden. In Berlin heiratete Sophia Auguste ein drittes Mal und hieß nun nach ihrem Mann Lubisch. Von Berlin aus wurde sie am 10. September 1943 in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Albertine Helene Paula Stock hatte am 9. August 1913 in Altonaden Ingenieur Robert Gustav Julius Bergmann aus Barmen geheiratet, zum Zeitpunkt der Hochzeit lebte er in Düsseldorf. 1926 starb er in Mülheim an der Ruhr. Albertines Spuren verlieren sich seither ebenfalls.

Auch Anna Böttchers jüngste Schwester Alwine starb in der Shoah. Sie war mit dem sieben Jahre jüngeren, nichtjüdischen Herbert Rudolf Grahmann aus Dresden verheiratet und wurde am 5. Mai 1943 von Hamburg aus nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurde sie nach Auschwitz gebracht und am 15. Mai 1944 ermordet. Ihr Mann Herbert starb 1978 in Bremen. Für Alwine Grahmann liegt ein Stolperstein in Hamburg-St. Georg, in der Langen Reihe 102.

Stand: September 2018
© Frauke Steinhäuser

Quellen: 1; 4; 5; 8; StaH 331-5 Polizeibehörde, Unnatürliche Sterbefälle, 1942/1095; StaH 332-5 Standesämter: 7264 u. 1217/1942, 5800 u. 134/1909, 5798 u. 69/1908, 5798 u. 83/1908, 718 u. 1104/1915, 5104 u. 33/1941, 5799 u. 391/1908, 5810 u. 318/1913; StaH 332-8 Meldewesen Altona K 7392 (Stock, Alexander); StaH 351-11 AfW 52523; StaH 424-111 Amtsgericht Altona D a 4 Bd 2, Nr. 1646, Nr. 1662, Nr. 1676; StaH 424-111 Amtsgericht Altona D a 4 Bd 1, Nr. 364; StaH 522-1 Jüd. Gemeinden 992 d Steuerakten Bd. 4; Standesamt Berlin I, II Nr. 240 u. 469/1917; Standesamt Dresden I, 22 u. 74/1900; Hamburger Adressbücher; umfangreiche E-Mail-Auskunft von Cornelia Jacob am 14.8.2018; E-Mail-Auskunft von Herrn Erich Koch am 20.8.2015; Stadtteilarchiv Ottensen (Hrsg.), Mitten durch Ottensen. Die Bahrenfelder Straße, Geschichte u. Geschichten einer Straße, Hamburg, 2015, S. 139; Susanne Lohmeyer, Jüdische Wohnstifte, in dies., Stolpersteine in Hamburg-Eimsbüttel und Hamburg-Hoheluft-West S. 563 ff.; Rassismus: Auguste Lubisch geb. Stock, in: Brandenburgische Genealogische Gesellschaft Roter Adler (Hrsg.), Brandenburgische Genealogische Nachrichten 6. Jg., Ausg. 2/2011, Bd 3, Heft 2, S. 46 (mit Dank an Gerd-Christian Treutler und Günther Lubisch); Online Begraafplaatsen 3.0, online-begraafplaatsen.nl/zerken.asp?command=showgraf&gra- fid=438308 (Otto Alexander Stock, letzter Zugriff 10.12.2013); stolpersteine-hamburg.de (Alwine Grahmann, geb. Stock, letzter Zugriff 10.1.2014).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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