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Ilse Baustian
Ilse Baustian
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ilse Baustian * 1928

Harburger Chaussee 89 (Hamburg-Mitte, Kleiner Grasbrook)


HIER WOHNTE
ILSE BAUSTIAN
JG. 1928
EINGEWIESEN 1941
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
HEILANSTALT AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 29. 4. 1945

Ilse Baustian, geb. am 18.8.1928 in Hamburg, eingewiesen in die Alsterdorfer Anstalten am 28.1.1939, "verlegt" in die Landesheilanstalt "Am Steinhof" in Wien am 17.8.1943, ermordet am 29.4.1945

Harburger Chaussee 89

Ilse Caroline Baustian kam kurz vor Beginn der Weltwirtschaftskrise als zweite Tochter des Metallschleifers Willi Baustian und seiner Ehefrau Dora, geb. Pöhlsen, zur Welt. Ihre Eltern waren Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirche und ließen ihre Tochter am 29. September 1929 in der Dankeskirche in Hamm-Süd taufen.

Ilse Baustian entwickelte sich langsamer und anders als ihre zwei Jahre ältere Schwester Carla. Erst mit zwei Jahren konnte sie stehen und sich vorsichtig von der Stelle bewegen. Sie war vier Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal sprachlich äußerte. Doch zugänglicher wurde sie dadurch nicht. Sie verbreitete viel Unruhe und reagierte oft anders als allgemein üblich. Mit ihrem Verhalten und in zunehmendem Maße auch mit ihren Worten, verprellte sie nicht wenige Mitmenschen. Selbst ihren Eltern und ihrer Schwester erging es oft nicht anders, und sie sorgten sich, weil ihre eigentlich schulpflichtige Tochter keine Schule besuchen durfte, da sie in den Augen der zuständigen Behörde "schulunfähig" war.

Die Situation verschärfte sich, als Ilse Baustian mit sieben Jahren mehrmals für kurze Zeit das Bewusstsein verlor und niemand den Grund dafür wusste. Letzte Station auf der Suche nach den Ursachen war das Krankenhaus der Alsterdorfer Anstalten. Hier wurde sie tagelang eingehend untersucht, ohne dass irgendwelche Fortschritte erzielt wurden. Nach 10 Tagen kehrte Ilse Baustian wieder nach Hause zurück.

Die Ärzte taten sich auch weiterhin schwer mit einer genauen Diagnose der Erkrankung, an der das Mädchen litt. Im November1938 hielt der zuständige Vertrauensarzt der Hamburger Wohlfahrtsbehörde nach einer eingehender Untersuchung die gesundheitlichen Probleme für so schwerwiegend, dass er Ilse Baustians Einweisung in eine "Hamburgische Anstalt für Geisteskranke, Idioten und Epileptiker" für dringend notwendig erachtete. Das Kind sei zu Hause nicht mehr "tragbar", da es in seinem "Verhalten unberechenbar ist." Für ihn war Ilse Baustian "bildungsunfähig". Das Landesfürsorgeamt hielt daraufhin die Zeit für gekommen, weitere Schritte einzuleiten.

Im Januar 1939 wurde das Mädchen in die Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Nach der Eingangsuntersuchung glaubte Gerhard Kreyenberg, der leitende Oberarzt dieser evangelischen Einrichtung, dass er mit der Diagnose "Idiotie" die Wurzel allen Übels gefunden habe. Bei ihren Betreuerinnen hinterließ die neue Patientin zunächst einen positiven Eindruck: Sie brauchte keine Hilfe bei den Mahlzeiten, hielt sich sauber, zeigte guten Appetit und nahm ihre Umgebung im Großen und Ganzen richtig wahr. Andererseits bemerkten sie aber auch, dass das zehnjährige Mädchen innerlich unruhig war und im Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen Probleme hatte.

In den folgenden Monaten waren bei der jungen Patientin, wie ihrer Krankenakte zu entnehmen ist, keine Anzeichen einer positiven Entwicklung zu erkennen. Im Gegenteil. Eine Eintragung vom 20. Dezember 1939 zeugt von zunehmenden gesundheitlichen Problemen, die immer schwerer in den Griff zu bekommen waren: "Die Pat.[ientin] muss in der Körperpflege vollkommen versorgt werden. Zeitweise macht sie kleine Handreichungen. Am liebsten räumt sie Geschirr fort. Nach Spielzeug fragt sie nicht viel. Im Umgang ist sie freundlich, sobald sie aber unbeobachtet ist, kratzt und spuckt sie und führt sie hässliche Redensarten. Nachts muss sie angegurtet werden, da sie sonst die anderen Pat.[ientinnen] schlagen würde."

Diese Entwicklung registrierten auch die Eltern Dora und Willi Baustian mit wach-sender Besorgnis. Sie intensivierten ihre Kontakte zu den Verantwortlichen der Alsterdorfer Anstalten und besuchten ihre Tochter noch häufiger als zuvor, um sie seelisch zu stärken und alle Zweifel an der Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Keim zu ersticken. Mehrfach wandten sie sich an die Direktion der Alsterdorfer Anstalten mit der Bitte, ihre Tochter wieder nach Hause zu entlassen – oder ihr wenigstens einen kürzeren oder längeren Urlaub in der Familie zu gestatten. Anfangs wurden sämtliche Bitten der beiden Eltern wegen ärztlicher Bedenken abgelehnt. Schließlich könne keiner, so hieß es in den Antwortschreiben oft, vorhersehen, "ob sich das Kind im Hause halten lässt" und ob die häuslichen Umstände eine derartige Veränderung wirklich zulassen. Erst als Ilse Baustians Schwester Carla zwischenzeitlich wegzog, um andernorts ihr Pflichtjahr abzuleisten, hatte Dora Baustian mit einem erneuten Antrag auf Entlassung ihrer Tochter aus den Alsterdorfer Anstalten Erfolg. Am 10. Juli 1940 wurde die junge Patientin zu ihren Eltern nach Harburg entlassen.

Über die Wiedereingliederung in ihr Elternhaus wissen wir wenig. Dora Baustian versuchte offenbar vieles, um das Miteinander erträglich zu gestalten. Drei Monate später musste sie einsehen, dass der Versuch gescheitert war. Am 10. Oktober 1940 sah sie keine andere Möglichkeit, als die Einrichtung der Inneren Mission in Alsterdorf um die Wiederaufnahme ihrer Tochter zu bitten, da sich gezeigt habe, dass "es beim besten Willen zu Hause nicht geht."

Am 4. Januar 1941 kehrte Ilse Baustian in die Alsterdorfer Anstalten zurück. Anfangs weinte sie oft vor Heimweh. Außerdem geht aus den Aufzeichnungen in ihrer Krankenakte hervor, dass sie sich nicht sauber halten konnte. Sie erkannte einige Mädchen wieder, registrierte aber vermutlich nicht, dass in den Alsterdorfer Anstalten inzwischen ein rauerer Wind wehte.

Schon bald nach Kriegsausbruch waren auch in dieser Einrichtung der Inneren Missi-on die Auswirkungen der Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik der Ausmerze "unwerten Lebens", die mit deutschen Überfall auf Polen begonnen hatte, nicht mehr zu übersehen. Nachdem die Leitung der Alsterdorfer Anstalten bereits in den späten 1930er Jahren ihre jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner in andere Einrichtungen abgeschoben hatte, trafen die berüchtigten Meldebögen der neuen Berliner Zentrale, die dieses Mordprogramm steuerte, in Alsterdorf ein. Die Leitung der Alsterdorfer Anstalten sollte alle Patientinnen und Patienten melden, die bestimmten "Minderwertigkeitskriterien" entsprachen. Auf diese Weise sollten diejenigen erfasst werden, die keine Arbeitsleistung erbrachten, hohe Pflegekosten verursachten, keinen Kontakt zu ihren Angehörigen hatten, vorbestraft und "rassisch" andersartig waren. Die Bedenken der Alsterorfer Entscheidungsträger gegen die Aktion waren nicht so stark, dass die Fragen unbeantwortet blieben. Im Februar 1941 wurden 465 Meldebögen mit den erwünschten Informationen nach Berlin zurückgeschickt und dort ausgewertet. In enger Zusammenarbeit mit der Hamburger Gesundheitsbehörde ordnete die Berliner Schaltstelle im weiteren Verlauf der Vernichtungsaktion im Sommer 1941 die Verlegung von 71 Alsterdorfer Insassen in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn an. Einige Monate später wurden sie von dort in die Heilanstalt Tiegenhof bei Posen abtransportiert, wo nur einer von ihnen die Kriegsjahre überlebte.

Als ein Teil der Alsterdorfer Anstalten durch die schweren Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg im Sommer 1943 zerstört wurde und in den unversehrten Räumlichkeiten vorübergehend zahlreiche Ausgebombte untergebracht werden mussten, nutzte Pastor Lensch die Gunst der Stunde. Er setzte sich mit der Hamburger Gesundheitsbehörde in Verbindung und bat sie um schnelle Mithilfe beim Abbau der angeblichen Überbelegung. Die Behörde ließ sich nicht zweimal bitten und leitete das Ersuchen unverzüglich an die Berliner Zentrale weiter. Die wusste, wie sie am besten Abhilfe schaffen konnte, und leitete umgehend die entsprechenden Maßnahmen ein. Im August 1943 wurden 469 Alsterdorfer Patientinnen und Patienten in andere Heil- und Pflegeanstalten abtransportiert.

Von diesen Verlegungen war auch Ilse Baustian betroffen, die zusammen mit 227 anderen Mädchen und Frauen am 16. August 1943 von Alsterdorf in die "Landesheil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke Am Steinhof" in Wien transportiert wurde. Viele Teilnehmerinnen dieses Transports waren zuvor als äußerst pflegeintensiv, besonders schwierig, sehr leistungsschwach und unheilbar krank beurteilt worden.

Willi und Dora Baustian waren sehr besorgt, als sie von der Verlegung ihrer Tochter nach Wien erfuhren. Um Klarheit zu gewinnen, baten sie die Direktion des Steinhofs schriftlich um nähere Auskünfte. Dem kurzen Antwortschreiben konnten sie nur entnehmen, dass es ihrer Tochter gut ginge und kein Grund zur Sorge bestünde.

Die Realität sah anders aus. Der "Steinhof" war fest in das nationalsozialistische `Euthanasieprogramm´ eingebunden. Hans Bertha, der Leiter des Hauses, gehörte ab 1942 zu den Hauptakteuren dieser Vernichtung "lebensunwerten Lebens". An seinem Arbeitsplatz trug er tatkräftig dazu bei. Die jährliche Sterberate seiner Patientinnen und Patienten stieg in seiner Wiener Dienstzeit (1942 – 1945) sicherlich nicht ohne sein Zutun von 13,9% im Jahre 1941 auf 42,5% im Jahre 1945. Das Massensterben auf dem Steinhof hatte System. Unterernährung, Vernachlässigung der Pflege, Medikamentenmissbrauch und unterlassene Behandlung von Erkrankungen waren hier alltägliche Praxis.

Der Schock über den Empfang in Wien und das Leben in der neuen Umgebung war bei allen Betroffenen groß. Nichts deutet darauf hin, dass Ilse Baustian diesen Ortswechsel anders erlebte. Mindestens viermal wurde sie in kurzer Folge auf andere Stationen verlegt. Dabei war die räumliche Neuorientierung für sie und für alle anderen Betroffenen ebenso schwierig wie die Umstellung auf eine veränderte personelle Umgebung. Noch schlimmer als die Folgen dieser mehrfachen Verlegung auf andere Stationen der Wiener Heilanstalt waren für Ilse Baustian die Auswirkungen der mangelhaften Ernährung, die hier gang und gäbe war. Bei ihrer Ankunft wog sie 49 kg, eineinhalb Jahre später waren es nur noch 34 kg.

Da Ilse Baustian "weder lesen noch schreiben" konnte, waren die Eltern auf Informa-tionen von anderen Personen angewiesen. Notgedrungen erhofften sie sich genauere Auskünfte von der Direktion der Heilanstalt. Doch die kurzen Rückmeldungen hinterließen mehr Fragen als Antworten. Mit der Zeit nahmen Willi und Dora Baustian die Lage so hin, wie sie nun einmal war. Das änderte sich vorübergehend noch einmal, als sie im Oktober 1944 die Nachricht erhielten, dass sich der körperliche Zustand ihrer Tochter im Verlaufe einer bösartigen Blutarmut sehr verschlechtert habe. Dora Baustian wollte jetzt nach dem Rechten sehen und ihre Tochter in Wien besuchen, was sie dann doch unterließ, da der Leiter Bertha sie darauf hinwies, dass es in Wien angesichts der Kriegslage so gut wie keine Übernachtungsmöglichkeiten gäbe.

Ihre Tochter erholte sich nicht von den Folgen dieser Bluterkrankung. Ihr Gesund-heitszustand blieb kritisch. Er verschlechterte sich sogar zu Beginn des Jahres 1945. Im April 1945 führte laut Krankenakte ein starker Durchfall zu einem weiteren schweren Rückschlag. Die Eintragung endet mit der Bemerkung " … zerfällt zusehends."

Sechs Tage später war Ilse Baustian tot, ohne dass ihre Eltern unverzüglich entsprechend informiert wurden. Monatelang bemühten sie sich vergeblich um genauere Informationen über das weitere Schicksal ihrer Tochter. Erst 13 Monate später erlangten sie Gewissheit.

Insgesamt 196 Alsterdorfer Patientinnen kamen in dieser Wiener Einrichtung nach ihrer Deportation aus Hamburg um. Jahrelang verschwieg die Direktion dieser Anstalt in den Nachkriegsjahren ihre NS-Geschichte. Mehr oder weniger unbekümmert erklärte sie immer wieder, dass all diese Frauen eines natürlichen Todes gestorben seien. Das änderte sich erst, als dort im Jahre 1994 plötzlich 10 Gläser mit Präparaten entdeckt wurden, die den Gehirnen früherer Alsterdorfer Patientinnen entnommen worden waren. Die anschließenden Bemühungen um eine Freigabe der sterblichen Überreste zogen sich über Monate hin und führten erst nach hartnäckigem Ringen zum Erfolg.

Am 8. Mai 1996 wurden die Urnen von 10 Alsterdorfer "Euthanasie"opfern, die in Wien ermordet worden waren, stellvertretend für alle anderen, auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung auf dem Ohlsdorfer Friedhof feierlich bestattet. Sechs Jahre später – am 28. April 2002 - wurde auch auf dem Wiener Zentralfriedhof eine Gedenkstätte für alle "Euthanasie"opfer der einstigen Landesheil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke "Am Steinhof" eingeweiht.

Stand: Januar 2020
© Klaus Möller

Quellen: Archiv der Ev. Stiftung Alsterdorf, Krankenakte Ilse Baustians (V388); Michael Wunder, Von der Anstaltsfürsorge zu den Anstaltstötungen, in: Angelika Ebbinghaus / Karsten Linne (Hrsg.): Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im `Dritten Reich´, Hamburg 1997; Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas, Karl-Heinz Roth (Hrsg.): Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr; Die Alsterdorfer An-stalten im Nationalsozialismus, 3. Auflage Hamburg 2016; Antje Kosemund, Sperlingskinder, Hamburg 2011.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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