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Bereits verlegte Stolpersteine



Walter Stein (Der Kopf wird für das Foto gestützt.)
Walter Stein (Der Kopf wird für das Foto gestützt.)
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Walter Carl Stein * 1935

Eißendorfer Pferdeweg 12 (Harburg, Heimfeld)


HIER WOHNTE
WALTER CARL
STEIN
JG. 1935
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT‘ 7.8.1943
´HEILANSTALT` EICHBERG
´KINDERACHABTEILUNG‘
ERMORDET 24.9.1943

Weitere Stolpersteine in Eißendorfer Pferdeweg 12:
Peter Harms, Uwe Anton Hinsch, Ewald Kuhlmann, Alfred Rahnert, Herbert Thörl

Walter Stein, geb. am 12.8.1935 in Hamburg, eingewiesen in die Alsterdorfer Anstalten am 7.11.1939, verlegt in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg" am 7. 8.1943, ermordet am 24.9.1943

Stadtteil Hamburg-Heimfeld, Eißendorfer Pferdeweg 12

Walter Stein kam am 12. August 1935 als Kind des erwerbslosen Arbeiters Walter Erich Helmuth Friedrich Stein und seiner Ehefrau Anna Paula Stein, geb. Hornig, in Hamburg zur Welt. Seine ersten beiden Lebensjahre verbrachte er bei seinen Eltern in der Mozartstraße und in der Friedensstraße in Hamburg-Barmbek.

Es dauerte jedoch keine 15 Monate, bis das Jugendamt sich offenbar veranlasst sah, aktiv zu werden. Walter Stein sen. hatte seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verloren, da er ein ihm unterbreitetes Arbeitsangebot abgelehnt hatte. Die Familie lebte von der Arbeitslosenunterstützung der Mutter und vom Kindergeld für den inzwischen einjährigen Jungen. Eine Mitarbeiterin des Fürsorgeamts suchte die Familie im November 1936 auf und stellte dabei fest, dass die Eltern ihr Kind "völlig vernachlässigt hatten". Der Junge war total "verschmutzt und verdreckt". Paula Stein war angeblich als Mutter überfordert und "ihrer Aufgabe als … Erzieherin des Kindes nicht gewachsen". Nachdem die Eltern die Aufforderung zu einem anschließenden Gespräch über Möglichkeiten zur Abhilfe dieser Mängel unbeachtet gelassen hatten, wurde ihnen das Erziehungsrecht vom Amtsgericht Hamburg am 10. Februar 1938 entzogen. Paula Stein war zwei Wochen vorher entmündigt worden, da sie laut ärztlicher Diagnose an Schwachsinn litt und nach Auffassung des Fürsorgeamts nicht in der Lage war, ein ordentliches Leben zu führen. Ihr Mann sei angesichts seiner Probleme bei der Bewältigung dieser Aufgabe für sie eher eine Belastung als eine Hilfe. Beide Eltern waren inzwischen auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts auch sterilisiert worden.

Am 20. Dezember 1937 wurde Walter Stein in die Warteschule des Heimes Anscharhöhe aufgenommen. Bei der psychiatrischen Aufnahmeuntersuchung stellte Dr. Fischer fest, dass das Kind geistig und körperlich nicht altersgemäß entwickelt war.

"Der Junge hat bisher kein Wort gesprochen, sondern nur wenig artikulierte Worte von sich gegeben. Bei einer Untersuchung des Rachens hält er anfangs die Lippen fest geschlossen, hinterher ergreift er aber freundlich den Spachtel und spielt damit. Gespielt hat er bisher im Heim noch nicht, sondern nur dem Spiel der anderen zugesehen, und als sie sich mit ihm beschäftigten, gelächelt. Er hat gut gegessen."

Am 18. Mai 1938 wurde Walter Stein in das Kinderheim [Eißendorfer] Pferdeweg verlegt. Gründe für diesen Wechsel in den Süden Hamburgs sind nicht bekannt. Unklar ist auch, ob seine Eltern noch an seiner weiteren Entwicklung interessiert waren und ob sie ihn hin und wieder – oder überhaupt noch – besuchten.

Diese Maßnahme erwies sich offenbar als Fehlentscheidung. In der Entwicklung des Jungen waren keine Fortschritte zu erkennen. Schwester Paula Reiche war davon überzeugt, dass sich auch in Zukunft an seinem Entwicklungsrückstand nichts ändern ließe. Er fiel in diesem Haus durch ein aggressives Verhalten auf, unter dem die anderen Kinder zu leiden hatten. Deshalb musste er ständig beaufsichtigt werden. Außerdem war er nach wie vor unsauber. Die Betreuerin bat dringend um eine andere Lösung, da der Junge ihrer Meinung nach "völlig ungeeignet für dieses Heim" war.

Am 1. September 1938 wurde Walter Stein in das Kinderheim Lobetal in Lübtheen bei Ludwigslust verlegt. Er musste auf dem Weg dorthin z. T. getragen werden, da er sich offenbar oft sehr dumm anstellte. Dieses Haus für geistig behinderte und auch sozial vernachlässigte Kinder war 1928 in dieser mecklenburgischen Kleinstadt gegründet worden. Sein Vater befand sich inzwischen im Arbeitshaus Farmsen, während seine Mutter im Versorgungsheim Oberaltenallee lebte.

Alle 150 Bewohnerinnen und Bewohner des mecklenburgischen Kinderheims wurden im April 1941 in die Kinderfachabteilung des Schweriner Krankenhauses auf dem Sachsenberg abtransportiert und dort ermordet. Eine Gedenkinstallation aus Glasplatten erinnert seit einem halben Jahr an ihren gewaltsamen Tod.

Walter Stein war schon vor dem Abtransport wieder nach Hamburg zurückgekehrt. Die Diakonissen des Lübtheener Kinderheims hatten ebenfalls schnell erkannt, dass er sich eher wie ein einjähriges als wie ein dreijähriges Kind benahm.

Seine nächste Station war das Johannes-Petersen-Heim in der Averhoffstraße in Hamburg. Bei einer "psychiatrischen Nachuntersuchung" am 25. Juli 1938 vermerkten die Amtsärzte Dr. Hülsemann und Dr. Gräfe erneut, dass der Junge insgesamt "unterentwickelt" war. Sie erlebten einen "freundlichen Jungen", der "fortwährend lächelt[e]" und schließlich spontan zu spielen anfing. Er verstand jedoch kaum irgendwelche Aufforderungen und konnte sich sprachlich immer noch nicht artikulieren. Ihrer Einschätzung nach handelte es sich bei dem fast vierjährigen Jungen "um ein erblich mit Schwachsinn belastetes, hochgradig schwachsinniges Kind".

Es folgten zwei weitere Untersuchungen am 21. September 1939 durch Dr. Schär und am 7. Oktober 1939 durch Dr. Flothmann, die klarstellen, dass Walter Stein nicht taubstumm war. Er konnte durchaus hören, aber er konnte wegen seiner geistigen Defizite nicht verstehen, was gemeint war und was er tun sollte, wenn ihm etwas gesagt wurde. Dr. Flothmann bestätigte die Diagnose Schwachsinn, die nach seiner Meinung noch dadurch erhärtet wurde, "dass beide Eltern schwachsinnig [waren] und nach den Gesetzen der Erblichkeit in einem solchen Fall 90–100% aller Kinder wieder schwachsinnig [würden]". Beide Ärzte stellten außerdem eine gravierende Veränderung im Verhalten des Jungen fest. Während er vorher zurückhaltend und freundlich aufgetreten war, verhielt er sich seit neuestem immer öfter äußerst aggressiv.

"Sonst war er gutmütig, jetzt wird er bösartig. W.[alter] … zerreißt die Wäsche, beißt, spuckt und stößt mit dem Kopf die anderen Kinder um, er kratzt sich sehr, hat immer blutige Stellen; auch bohrt er sich mit Stöcken in die Nase."

Für Dr. Flothmann war der Junge mit diesem Verhalten "gemeingefährlich", so dass er es für notwendig erachtete, seine Aufnahme in die damaligen Alsterdorfer Anstalten zu beantragen. Er erklärte, dass der Junge geistig nicht zu fördern sei, und beurteilte seinen erbbiologischen Wert mit Null (Kategorie VI, nicht erziehungsfähig). Die Sozialverwaltung der Hansestadt Hamburg stimmte der Empfehlung Dr. Flothmanns zu und unternahm die entsprechenden Schritte.

Am 7. November 1939 wurde Walter Stein mit vier Jahren in die damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. In der Eingangsuntersuchung bestätigte Dr. Schäfer die Diagnose: "Schwachsinn, Zerstörungstrieb".

Wieder musste der Junge sich an eine fremde Umgebung gewöhnen und auf andere Mitmenschen – Kinder und Erwachsene – einstellen. Zwei Jahre lang war er von den Behörden hin- und hergeschoben worden. Oft musste er "seine Koffer schon wieder packen", bevor er sich auch nur halbwegs eingelebt hatte. An feste Beziehungen zu anderen Menschen war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er war und blieb allein. Liebevolle Zuwendung dürfte er kaum oder gar nicht gekannt haben. Nirgendwo konnte er sich wirklich heimisch fühlen. Überall war er stets ein Fremder.

Kein Wunder, dass er auch in Alsterdorf in den ersten Wochen keinen Anteil an seiner Umgebung nahm und zumeist allein blieb, wie eine Eintragung in seiner Krankenakte verrät. Sicherlich trug auch die Tatsache dazu bei, dass er nach wie vor nicht sprechen konnte und dass sich an diesem Zustand auch in den nächsten Jahren nichts änderte.

In der Körperpflege war er auch mit fünf Jahren noch völlig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Morgens wurde er angezogen, und abends musste er ebenfalls umsorgt werden. Mit den anderen Kindern beschäftigte er sich weiterhin wenig, und wenn er sich in ihren Kreis begab, war der Streit eigentlich schon vorprogrammiert, weil er ihnen das Spielzeug wegnahm und damit Unfug trieb.

1942 war er, wie aus der Patientenakte ersichtlich, des Öfteren krank, ansonsten wurden keine Veränderungen von Bedeutung festgestellt. Eine weitere Eintragung vom 1. April 1943 klingt dagegen wie ein kleines Wunder:

"Pat.[ient] kann nicht sprechen, versteht aber alles, er freut sich über jedes gute Wort. Er tut gern kleine Hilfeleistungen, hilft beim Abräumen des Geschirrs. Mit seinen Kameraden tollt und balgt er sich gern, zeigt aber dabei stets ein rücksichtsvolles Benehmen. Er ist fast immer trocken. Im Essen ist er selbständig, die Körperpflege muss besorgt werden."

War das noch derselbe Junge, der bei seiner Aufnahme in die damaligen Alsterdorfer Anstalten als gemeingefährlich beschrieben wurde? Was hatte zu dieser Veränderung geführt? Wir wissen es nicht und können es leider auch nicht mehr klären, denn am 7. August 1943 gehörte Walter Stein zu den 28 Kindern und 48 Erwachsenen, die aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg" bei Eltville am Rhein verlegt wurden. Dort wurde er sechs Wochen später, am 24. September 1943, ermordet.

An Peinlichkeit kaum zu überbieten, ist ein Schreiben der Hamburger Sozialbehörde vom August 1947, in dem die Alsterdorfer Anstalten gebeten wurden, dem Jungen in schonender Weise die Nachricht vom Tod seiner Mutter zu übermitteln.

Stand Dezember 2014

© Gerrit Liebing/Klaus Möller

Quellen: Gedenkbuch der Evangelischen Stiftung Alsterdorf; Walter Steins Patientenakte, Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (V016); Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987; Ruth Baumann, Charlotte Köttgen, Inge Grolle, Dieter Kretzer, Arbeitsfähig oder unbrauchbar. Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Beispiel Hamburgs, Frankfurt a. M. 1994.

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