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Bereits verlegte Stolpersteine



Alice Weilova (links) und ihre Tochter Eva
Alice Weilova (links) und ihre Tochter Eva
© Privatbesitz

Alice Weilova (geborene Kaufmanova) * 1902

Falkenbergsweg 62 (Harburg, Neugraben-Fischbek)


HIER ARBEITETE
ALICE WEILOVA
GEB. KAUFMANOVA
JG. 1902
DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
AUSCHWITZ
1944 NEUENGAMME
ERMORDET 6.4.1945

Weitere Stolpersteine in Falkenbergsweg 62:
Anna Dawidowicz, Erika Dawidowicz, Ruth Frischmannova, Zuzana Glaserová, Nina Müller, Elisabeth Polach, Lili Wertheimer

Alice Weilová, geb. Kaufmanová, geb. am 6.7.1902 in Kostelec tnad Orlicí (Adlerkosteletz), deportiert von Prag nach Theresienstadt, Auschwitz und ins KZ Neuengamme, umgekommen am 6.4. 1945

Falkenbergsweg 62

Die böhmische Stadt, in der Alice Kaufmanová kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Tochter ihrer jüdischen Eltern Arnold Kaufman und Irene Kaufmanová geboren wurde, gehörte vor dem Ersten Weltkrieg noch zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Dass diese Monarchie ein Vielvölkerstaat war, spiegelte sich auch in der Familie Kaufman wider, Arnold Kaufman war Ungar, seine Frau Österreicherin und seine Tochter Tschechin.

Alice Kaufmanovás Vater war zusammen mit seinem Bruder Inhaber einer kleinen, aber sehr erfolgreichen Fabrik für Damenschuhe. Ihre Eltern wohnten in einer stattlichen Villa, die auch entsprechend eingerichtet war. Hier am Rande des Adlergebirges verbrachte das Mädchen eine glückliche Kindheit, an die sie sich später immer wieder gern erinnerte. 1924 starb ihr Vater, ein schmerzhafter Verlust für alle.

1925 heiratete Alice Kaufmanová im Alter von 23 Jahren Oskar Weil, den Sohn eines jüdischen Staatsrates im tschechoslowakischen Verkehrsministerium. Er war zwei Jahre älter als sie und Beamter im Dienst der tschechoslowakischen Eisenbahngesellschaft.

Die beiden Jungvermählten bezogen eine bescheidene Wohnung in der tschechoslowakischen Hauptstadt, wo 1927 ihre Tochter Eva zur Welt kam und anschließend ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Obwohl in der Wohnung nicht viel Platz war, fand ihr Vater noch eine Ecke für seinen Bücherschrank und ihre Mutter noch eine Lücke für ihr Klavier.

Die jüdische Religion spielte im Leben der Familie Weil keine besondere Rolle. Sie feierte sowohl die jüdischen als auch die christlichen Feste, und zu ihrem Freundeskreis gehörten Juden und Nicht-Juden. Auch Eva Weilová fühlte sich in ihrer Klasse in keiner Weise weder von den Lehrerinnen und Lehrern noch von den Mitschülerinnen und Mitschülern ausgegrenzt.

Die heile Welt zerbrach, als Truppen der deutschen Wehrmacht am 15. März 1939 in Prag einmarschierten. Mit der Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren" begann die Verfolgung der dort lebenden jüdischen Bevölkerung. Es dauerte nicht lange, bis alle jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner aufgefordert wurden, sich registrieren zu lassen. Ebenso schnell wurden alle Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, wovon auch Oskar Weil nicht verschont blieb. Kurzfristig fand er in einem Reisebüro eine neue Anstellung, und als er auch diesen Arbeitsplatz verlor, wurde die Not der Familie immer größer. Die Gelegenheitsarbeiten, mit denen er die Tätigkeit der Jüdischen Gemeinde in zunehmendem Maße unterstützte, konnten nichts daran ändern.

Auch Eva Weilová war von den judenfeindlichen Anordnungen der Besatzer betroffen. Im Sommer 1940 wurde ihr – wie allen anderen jüdischen Kindern und Jugendlichen – der weitere Besuch einer öffentlichen Schule untersagt. Dieses Verbot versperrte ihr nicht nur den Weg zur Bildung, sondern erschwerte ihr auch den unbekümmerten Zugang zu gleichaltrigen Kindern. Doch sie hatte das große Glück, dass viele Klassenkameradinnen und auch eine Lehrerin weiterhin zu ihr hielten und sich – trotz zunehmender Gefahr – nicht zurückzogen. Sie trafen sich auch unter erschwerten Umständen mit ihr und schreckten nicht vor dem Risiko zurück, sie zu gemeinsamen Theater- und Konzertbesuchen einzuladen, bei denen alle Beteiligten viel riskierten. Dass eine Lehrerin zu denen zählte, die sich unerschrocken über alle Kontaktverbote hinwegsetzten, wussten Eva – und vor allem ihre Mutter – ganz besonders zu schätzen.

In schneller Folge wurden weitere Gesetze und Verordnungen verkündet, die die Existenzgrundlagen der jüdischen Bevölkerung in Böhmen und Mähren in zunehmendem Maße zerstörten. Die Zahl der Berufsverbote erhöhte sich, und die Lebensmittelzuteilungen wurden in immer kürzeren Abständen reduziert. Viele jüdische Mieter mussten ihre Wohnungen verlassen und in kleinere Wohnungen, die sich in jüdischem Besitz befanden, umziehen. Außerdem wurden nach und nach nicht nur alle Radiogeräte und Telefonapparate, sondern auch Plattenspieler und Pelzmäntel beschlagnahmt. Theater- und Kinobesuche waren bald ebenso wenig erlaubt wie der Aufenthalt in Restaurants und Schwimmbädern. Ab 1. September 1941 galt für alle Jüdinnen und Juden, die im Protektorat lebten, die Kennzeichnungspflicht mit dem `Gelben Stern´

Einen Monat später begannen die Deportationen nach Lodz und Theresienstadt. Am 6. März 1943 mussten auch Oskar Weil sowie Alice und Eva Weilová ihre Wohnung in Prag verlassen und einen Zug besteigen, der sie zunächst nach Bauschowitz (Bohusovice) brachte. Anschließend legten sie – beladen mit jeweils 50 kg Gepäck – einen ca. 3 km langen Fußmarsch ins Getto Theresienstadt zurück. An diesem Ort kamen Oskar Weil und seine Frau mit ihrer Tochter in zwei getrennten Kasernen unter. Nach einiger Zeit zog Eva Weilová in das Mädchenheim des Gettos.

Sie kam mit den widrigen Gegebenheiten dieses Ortes besser zurecht als ihre Eltern. Vor allem ihre Mutter fand sich mit den veränderten Lebensumständen – und speziell der Auflösung der Familie – nur schwer ab. Unter der räumlichen Trennung von Mann und Tochter und dem nicht weniger schmerzhaften Verlust jeglicher Privatsphäre sowie der quälenden Ungewissheit über die Zukunft litt sie noch mehr als unter dem ständigen Hunger.

Das Getto Theresienstadt war nicht zuletzt auch für Oskar Weil und Alice und Eva Weilová – wie für viele andere – nur eine Zwischenstation. Die Transporte in die Vernichtungslager im Osten gehörten zum Alltag dieses Ortes.
Am 18. Dezember 1943 mussten auch sie sich einem Transport in den Osten anschließen, ohne zu wissen, wohin die Reise ging. Doch schon die Umstände des Transports in völlig überfüllten Viehwagen, in denen die Menschen so dicht zusammengedrängt waren, dass sie einander auf die Füße traten und in denen es kein Wasser und keine Latrinen gab, ließen nichts Gutes ahnen.
Als die Türen der Güterwagen zwei Tage später aufgerissen wurden, erfuhren sie, dass sie sich in Auschwitz-Birkenau befanden.

Nach ihrer Ankunft wurden sie zusammen mit 1.137 Männern und Jungen, die die Nummern 169.969 bis 171.105 erhielten, sowie 1.336 Frauen und Mädchen, die mit den Nummern 72.435 bis 73.700 gekennzeichnet wurden, in das Theresienstädter Familienlager des Lagerabschnitts B II geführt. Hier war Alice Weilová ab sofort nur noch Häftling Nr. 73.671 und Eva Weilova nur noch Häftling Nr. 73.672.

Dieses Sonderlager war ein gigantisches Täuschungsmanöver, mit dem die nationalsozialistischen Machthaber allen Spekulationen über die wahre Funktion des Lagers Auschwitz-Birkenau, die in der internationalen Öffentlichkeit im Umlauf waren, entgegentreten wollten. Die Neuankömmlinge wurden bei ihrer Ankunft keiner Selektion unterzogen. Stattdessen wurden sie am nächsten Morgen in die "Sauna" geführt, wo sie sich ausziehen und alles abgeben mussten. Nach dem Duschen bekamen sie neue Wäsche, die eher einer Lumpensammlung glich. Anschließend belegten sie, getrennt nach Geschlecht, unterschiedliche Baracken, die aber nicht weit voneinander entfernt waren. Sie schliefen auf Strohsäcken in dreistöckigen Pritschen, die sich oft mehr als drei Personen teilen mussten. Im Unterschied zu den anderen Insassen des Lagers zogen sie nicht täglich zur Arbeit aus. Nur hin und wieder mussten sie vor Ort sinnlos Steine von einer Stelle zur anderen tragen und dann wieder zurückbringen und bei Wind und Wetter zu oft stundenlangen Appellen antreten, die vor allem die älteren Menschen zermürbten.

Doch schon bald erkannten sie, was sich in Auschwitz-Birkenau tatsächlich abspielte. Spätestens am 9. März 1944, als 3.791 jüdische Häftlinge des Theresienstädter Familienlagers in den Krematorien II und III ermordet wurden, wurde ihnen ihre Situation bewusst.

Am 2. Juli 1944 mussten alle noch im Theresienstädter Familienlager verbliebenen Männer zwischen 16 und 50 Jahren sowie alle Frauen zwischen 16 bis 40 Jahren zu einer Selektion antreten. In deren Verlauf suchte der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele 2.000 Frauen und 1.000 Männer aus, die er für noch arbeitsfähig hielt und die demnächst außerhalb der Lagers zum Arbeitseinsatz kommen sollten. Zu diesen Häftlingen zählten Oskar Weil und Alice und Eva Weilová. Die anderen Insassen des Theresienstädter Familienlagers wurden bald danach in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau getrieben.

Nachdem monatelang nur vollbesetzte Züge aus Mittel- und Westeuropa im Lager Auschwitz angekommen waren, dürfte die Nachricht, dass vollgepackte Züge Auschwitz-Birkenau neuerdings auch in umgekehrter Richtung verließen, zunächst wie ein Märchen geklungen haben. Oskar Weil gelangte im Juli 1944 mit einem Transport in das Nebenlager Schwarzheide in Brandenburg, einer Außenstelle des KZ Sachsenhausen, und Alice und Eva Weilová verließen Auschwitz mit einem Transport, der für das Frauenlager Dessauer Ufer, einer Außenstelle des KZ Neuengamme, im Hamburger Stadtteil Veddel bestimmt war. Hier kamen die jüdischen Frauen und Mädchen in einem freigeräumten Lagerhaus unter. In einem großen Saal standen Doppelstockbetten, in denen sie schliefen, und Tische und Bänke, an denen sie aßen und tranken. Auch Waschgelegenheiten und eine Toilette fehlten nicht. Ihre Arbeitsplätze lagen im Hamburger Hafen. Gearbeitet wurde an sechs Tagen der Woche.

Zwei Monate später wurden sie von dort zusammen mit 498 Frauen in das KZ-Außenlager Neugraben am Falkenbergsweg im Hamburger Süden verlegt. Im Umfeld des Lagers kamen die Frauen beim Bau von Behelfsheimen, beim Ausheben eines Panzergrabens, bei der Trümmerbeseitigung und beim Schneeschieben zum Einsatz.

Als sie im Februar 1945 erneut verlegt wurden, war Alice Weilovás Körper inzwischen so geschwächt, dass er den starken physischen und psychischen Belastungen des Lagerdaseins nicht mehr gewachsen war. Kurz vor der Räumung des KZ-Außenlagers Tiefstack und dem Abtransport ihrer Tochter und der anderen Häftlingsfrauen in das als Auffanglager dienende KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide schloss Alice Weilová für immer die Augen. Vergebens hatte ihre Tochter an ihrem Totenbett versucht, ihr Trost und Kraft zu spenden.

Eva Weilová wurde zehn Tage später an dieser letzten und furchtbarsten Station ihrer Lagerodyssee – zwischen Bergen von Leichen – von britischen Truppen befreit.

Im November 1945 kehrte sie nach einem längeren Genesungsaufenthalt in Schweden in ihre Heimatstadt Prag zurück. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrem Vater erfüllte sich nicht. Stattdessen musste sie eines Tages die traurige Nachricht vernehmen, dass er den Todesmarsch der Häftlinge im Zuge der Räumung des KZ-Außenlagers Schwarzheide in den letzten Kriegstagen nicht überlebt hatte.

Zu den Menschen aus Eva Weilovás Familie, die den Holocaust nicht überlebten, zählen nicht nur ihre Eltern, sondern auch nahezu alle anderen Verwandten. Bei ihrer Rückkehr nach Prag gab es nur ein Wiedersehen mit einer Großmutter und einer Tante.

Stand Dezember 2015

© Klaus Möller

Quellen: Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victims´ Names: www.yadvashem.org; Häftlingsliste des Lagers Theresienstadt. Theresienstädter Gedenkbuch; KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Interview mit Eva Keulemansova, geb. Weilova, vom 5.5.2011; Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek 1989; Alfred Gottwald, Diana Schulle, Die `Judendeportationen´ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005, Karl-Heinz Schultz, Das KZ-Außenlager Neugraben, in: Jürgen Ellermeyer, Klaus Richter, Dirk Stegmann (Hrsg.), Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Hamburg-Harburg 1988, S. 493ff; Hans Ellger, Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategien. Die Geschichte der Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45, Berlin 2007 Karl-Heinz Schultz, Das Barackenlager am Falkenbergsweg 1936–1976. Entstehung – Nutzung – Ende, in: Peter de Knegt, Olinka. Eine Freundschaft, die im Krieg begann, Hamburg 2012.

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