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Erika Dawidowicz * 1920

Falkenbergsweg 62 (Harburg, Neugraben-Fischbek)


HIER ARBEITETE
ERIKA DAWIDOWICZ
JG. 1920
DEPORTIERT 1941
LODZ / LITZMANNSTADT
1944 AUSCHWITZ
NEUENGAMME
TOT BEI BOMBENANGRIFF
5.4.1945
AUSSENLAGER TIEFSTACK

Weitere Stolpersteine in Falkenbergsweg 62:
Anna Dawidowicz, Ruth Frischmannova, Zuzana Glaserová, Nina Müller, Elisabeth Polach, Alice Weilova, Lili Wertheimer

Anna Dawidowicz, geb. Satz, geb. am 9.7.1898, deportiert von Prag nach Lodz, Auschwitz und ins KZ Neuengamme, umgekommen im KZ Bergen-Belsen am 10.5.1945
Erika Dawidowicz, geb. am 5.6.1920 in Mistek, deportiert von Prag nach Lodz, Auschwitz und ins KZ Neuengamme, umgekommen am 5.4.1945

Falkenbergsweg 62

Kurz nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik durften Anna und Josef Dawidowicz (*11.4.1886) sich über die Geburt ihrer Tochter Erika freuen. Sie waren nicht die einzigen Juden, die damals in der mährischen Kleinstadt Mistek und der benachbarten Stadt Frýdek wohnten. Viele jüdische Familien hatten im 19. Jahrhundert den Weg in die beiden Nachbarstädte am Zusammenfluss der Flüsse Moráva und Ostravice gefunden. Es ist nicht bekannt, ob auch Anna und Josef Dawidowiczs Eltern zu ihnen gehörten, oder ob die beiden jungen Leute die Stadt erst später kennen lernten. Die jüdische Gemeinde, die sich an den religiösen Feiertagen und am Sabbat zu ihren Gottesdiensten in der Synagoge in Frýdek versammelte, zählte 1890, als Mähren noch eine Provinz der Donaumonarchie Österreich-Ungarn war, immerhin 489 Mitglieder.

Josef und Anna Dawidowicz betrieben in Mistek ein kleines Geschäft, wenn die spärlichen Angaben in den überlieferten Akten stimmen. Daraus lässt sich aber nicht ersehen, womit sie handelten, wie groß dieses Geschäft war, und wie lange sie es halten konnten.

Spätestens nach der Besetzung des tschechischen Staates durch die Wehrmacht im März 1939 wurde nicht nur ihr privater, sondern auch ihr beruflicher Spielraum immer enger. Zunehmend wurde ihnen die Ausübung ihres Berufs erschwert und schließlich ganz untersagt. Alle jüdischen Geschäfte mussten verkauft oder einem Treuhänder übergeben werden. Vermögenswerte wurden jüdischen Privatpersonen entzogen. Nicht anders verlief ihre Ausgrenzung vom kulturellen Leben und aus allen Bereichen der Bildung. Schritt für Schritt wurde ihnen der Zugang zu kulturellen Veranstaltungen und öffentlichen Bildungseinrichtungen verwehrt und schließlich pauschal verboten.

Auch Erika Dawidowicz konnte ihr Studium nicht beenden. Mit einer Verordnung vom 5. Juli 1941 wurden die Nürnberger Gesetze auch auf alle Bewohnerinnen und Bewohner des Protektorats Böhmen und Mähren ausgedehnt. Seit dem 1. September 1941 mussten tschechische Jüdinnen und Juden den gelben Stern tragen und ab 23. Oktober 1941 galt auch für sie ein striktes Auswanderungsverbot.

Acht Tage danach gehörten Anna, Josef und Erika Dawidowicz zu den etwa 5.000 tschechischen Jüdinnen und Juden, die im Zuge der ersten Deportationswelle von Prag in das 1940 errichtete Getto Lodz abtransportiert wurden. Am 31. Oktober 1941 wurden sie frühmorgens von ihrer Sammelstelle, in der sie die Nacht davor verbracht hatten, zum Bahnhof Prag-Bubna geführt. Einen Tag später erreichte ihr Zug den Bahnhof Radegast in Lodz.

Im Herbst 1941 lebten in diesem ca. 4 km2 großen jüdischen Wohnbezirk bereits 143.800 Menschen auf engstem Raum. Als im Oktober und November 1941 darüber hinaus 20.000 weitere Juden aus dem "Altreich", Wien, Prag und Luxemburg hier eintrafen und untergebracht werden mussten, stand die jüdische Gettoverwaltung vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Die "Eingesiedelten" wurden zunächst in provisorische Massenunterkünfte eingewiesen, in denen es an so gut wie allem fehlte. Wer Wasser brauchte, musste sehen, dass er irgendwo in der Nähe eine funktionstüchtige Pumpe fand, und wer eine Toilette suchte, musste sich ins Freie begeben. Kranke verwendeten Eimer in den Fluren für ihre Notdurft. Da nur wenige Betten und Pritschen bereitgestellt werden konnten, mussten die meisten Menschen auf strohbedeckten Fußböden schlafen. Es dauerte Monate, bis sich die Lage durch eine Neuregelung der Wohnraumvergabe zu Lasten der polnischen Bewohnerinnen und Bewohner, die noch enger zusammenrücken mussten, etwas entspannte. Josef, Anna und Erika Dawidowicz bekamen fünf Monate später ein Zimmer in der Franzstraße 34 zugewiesen, in dem sie mit einem Verwandten unterkamen.

Aber nicht nur diese Maßnahme verstärkte die Spannungen zwischen den polnischen Juden und den "Westjuden". Die Neuankömmlinge mussten versorgt werden, was wiederum zu Kürzungen der Lebensmittelrationen für die gesamte Gettobevölkerung führte. Die tägliche Brotration wurde am 3. November 1941 von 330 auf 280 Gramm verkleinert. Wer keine Arbeit hatte, musste mit einem ungesüßten Kaffee am Morgen, einer Suppe und zwei Scheiben Brot am Mittag und einem Kaffee am Abend auskommen. Die katastrophale Ernährungslage blieb nicht ohne Folgen für den allgemeinen Gesundheitszustand, an dem auch das stets hilfsbereite, aber völlig unzulänglich ausgestattete medizinische Personal nichts ändern konnte. Die Sterblichkeitsrate im Getto war hoch. Bis Jahresende 1942 waren bereits 4.200 Tote unter den deutschen, österreichischen, tschechischen und luxemburgischen Juden registriert. Einer von ihnen war Josef Dawidowicz. Er starb am 13. Oktober 1942 im Alter von 56 Jahren.

Die neuen Bewohner waren darüber hinaus ein Problem für den Arbeitsmarkt, da sie die Nachfrage nach Arbeitsplätzen, die wiederum die Überlebenschancen erhöhten, verschärften, und andererseits angesichts ihrer spezifischen beruflichen Qualifikationen nicht so leicht in den Arbeitsprozess der vielen Werkstätten zu integrieren waren. Anna Dawidowicz musste lange warten, bis sie schließlich eine Anstellung in der zentralen Buchhaltung der jüdischen Gettoverwaltung und später in einem Holzbetrieb fand, während Erika Dawidowiczs verzweifelte Suche nach einem Arbeitsplatz endlich in einer Strumpffabrik glücklich endete.

Als die Rote Armee im Sommer 1944 immer schneller nach Westen vorstieß, kam der Befehl zur endgültigen Liquidierung des Gettos, nachdem in den Jahren davor nach gerichtlichen Ermittlungen bereits mindestens 150.000 Gettoinsassen in der Vernichtungsanlage Chelmno ermordet worden waren. Zwischen dem 2. und dem 30. August 1944 wurden über 60.000 Juden – darunter auch Anna und Erika Dawidowicz – aus Lodz nach Auschwitz deportiert. Während die meisten von ihnen gleich nach ihrer Ankunft den Weg in die Gaskammern antreten mussten, wurden etwa 2.500 Männer und Frauen bei der "Selektion" an der Rampe zur Arbeit ausgewählt und zumeist nur wenige Tage später ins Deutsche Reich abtransportiert. Anna und Erika Dawidowicz gehörten dazu.

Mit einem dieser Transporte gelangten sie im August 1944 in das KZ-Außenlager Dessauer Ufer im Hamburger Hafen und bald darauf mit 500 anderen weiblichen Häftlingen in das Außenlager Neugraben, das ebenfalls dem KZ Neuengamme unterstand. Es grenzte an mehrere Arbeitslager, in denen Menschen aus vielen west- und osteuropäischen Ländern untergebracht waren. Die tschechischen Frauen mussten sich mit wesentlich schlechteren Lebensbedingungen als diese abfinden, wobei sie sich mit dem Gefühl trösten konnten, dass die Situation immerhin nicht ganz so furchtbar wie in Auschwitz war. In dieser Außenstelle des KZ Neuengamme wurden sie auf zwei Wohnbaracken verteilt, in denen Etagenbetten mit Strohsäcken und einige Tische und Stühle standen. In zwei weiteren Baracken befanden sich die Küche, die Waschräume und die Latrinen. Die Kleidung der Häftlingsfrauen bestand aus einem Kleid, einem Mantel, einem Paar Holzpantinen und einer Garnitur Unterwäsche und bot keinerlei Schutz gegen Regen, Wind und Kälte. Auch die Verpflegung war mehr als kümmerlich, wie eine Überlebende später berichtete: "… Die Mahlzeiten waren sehr schlecht gekocht und absolut nicht ausreichend. Frühstück: ein sehr schlechter Kaffee. Mittag: nichts. Zum Abendessen gab es eine sehr dünne Suppe, ca. 200g Brot, 2g Margarine und eine dünne Scheibe Wurst …". Deshalb ließen die Frauen keine Gelegenheit aus, um in günstigen Augenblicken Mülleimer und zerbombte Häuser nach Essenresten zu durchsuchen, obwohl darauf strenge Strafen standen, die mehrfach auch vollstreckt wurden, wenn der "Diebstahl" nicht geheim blieb. Unter weiblicher Aufsicht war dabei noch größere Vorsicht angezeigt als in Anwesenheit männlicher Bewacher.

Ihre Arbeitsplätze waren u. a. bei Firmen, die Betonplatten für Fertighäuser anfertigten, in der Falkenberg-Siedlung Versorgungsleitungen eingruben, nach schweren Bombenangriffen erste Aufräumarbeiten durchführten und nach heftigen Schneefällen die Straßen und Fußwege wieder notdürftig freilegten. Anfang 1945 halfen sie auch beim Bau eines Panzergrabens, der den Vormarsch der Alliierten vor den Toren Hamburgs aufhalten sollte.

Die nächste Station der leidgeprüften Frauen war das KZ-Außenlager Hamburg-Tiefstack, wo Erika Dawidowicz bei einem alliierten Luftangriff Anfang April 1945 ums Leben kam.

Unmittelbar danach gelangte ihre Mutter mit den anderen Häftlingsfrauen im Zuge der Räumung der Hamburger Außenlager des KZ Neuengamme in das Auffanglager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Hier herrschte in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs das absolute Chaos. Als britische Truppen dieses Lager am 15. April 1945 erreichten und die Leichenberge sahen, erstarrten sie vor Entsetzen. Trotz ihrer verzweifelten Anstrengungen zur Rettung der Überlebenden konnten sie nicht verhindern, dass in den nächsten Wochen noch ca. 13.000 weitere Menschen starben, darunter auch Anna Dawidowicz.
Am 10. Mai 1945 fand sie in einem der vielen Massengräber auf dem ehemaligen Lagergelände ihre letzte Ruhe.

Stand Dezember 2015

© Klaus Möller

Quellen: Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victims´ Names: www.yadvashem.org; Theresienstädter Gedenkbuch, Institut Theresienstädter Initiative (Hrsg.), Prag 1995; United States Holocaust Memorial Museum, Holocaust Survivors and Victims Database, www.ushmm.org; Stiftung niedersächsische Gedenkstätten www.stiftung-ng.de; Archivum Panstwowe W Lodzi; Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme; International Tracing Service, Listenmaterial Bergen-Belsen, listenmäßige Erfassung von DPs in DP-Lagern, www.its-arolsen.org; Fritz Neubauer, Universität Bielefeld; Alfred Gottwald, Diana Schulle, Die `Judendeportationen´ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005; Adolf Diamant, Getto Litzmannstadt. Bilanz eines nationalsozialistischen Verbrechens, Frankfurt 1986; Lucille Eichengreen, Von Asche zum Leben, Bremen 2001; Andrea Löw, Juden im Getto Litzmannstadt, Göttingen 2006; Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek 1989; Hans Ellger, Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategien. Die Geschichte der Frauen-außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45, Berlin 2007; Karl-Heinz Schultz, Das Barackenlager am Falkenbergsweg 1936–1976. Entstehung – Nutzung – Ende, in: Peter de Knegt, Olinka. Eine Freundschaft, die im Krieg begann, Hamburg 2012.

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