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Dieter Hollenrieder, Mai 1945
Dieter Hollenrieder, Mai 1945
© Archiv Ev. Stiftung Alsterdorf

Dieter Hollenrieder * 1940

Humboldtstraße 20 (Hamburg-Nord, Barmbek-Süd)


HIER WOHNTE
DIETER
HOLLENRIEDER
JG. 1940
EINGEWIESEN 1943
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 7.8.1943
HEILANSTALT KALMENHOF
ERMORDET 17.8.1943

Dieter Hollenrieder, geb. 4.6.1940 in Hamburg, aufgenommen 9.3.1943 Alsterdorfer Anstalten, eingewiesen 7.6.1943 Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, rückverlegt 29.6.1943 Alsterdorfer Anstalten, verlegt 6.8.1943 Heilanstalt Kalmenhof/Idstein, ermordet 17.8.1943

Humboldtstraße 20

Dieter Hollenrieder wurde am 29. April 1943 zu einem sogenannten Reichsausschusskind. Dem war vorausgegangen, dass der "Beigeordnete für die Gesundheitsverwaltung", Gesundheitssenator Friedrich Ofterdinger, Gerhard Kreyenberg, den Oberarzt der damaligen Alsterdorfer Anstalten, angewiesen hatte, das Kind in die "Kinderfachabteilung" der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn zu verlegen. Der Senator wiederum handelte im Auftrag des "Reichsausschuss[es] zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", dem Dieter gemeldet worden war. Ab Spätsommer 1939 waren nämlich alle Hebammen, Ärzte und Ärztinnen sowie Fürsorgerinnen verpflichtet, den Gesundheitsämtern (und diese wiederum dem oben genannten Ausschuss) Säuglinge und Kleinkinder mit Fehlbildungen des Kopfes, der Wirbelsäule, spastischen Lähmungen und dem Down-Syndrom zu melden.

Sie sollten dann in eigens dafür bestimmte "Kinderfachabteilungen" eingewiesen und auf ihre mögliche zukünftige Entwicklung hin beobachtet werden. War zu erwarten, dass sie arbeitsfähig und damit wertvoll für die Volksgemeinschaft werden würden, würden sie entlassen oder weiter beobachtet werden. Andernfalls sollte das Einverständnis der Eltern für eine Behandlung eingeholt werden, die angeblich zwar eine geringe Heilungschance barg, aber tatsächlich die Ermordung des Kindes meinte. Hierüber entschied ein dreiköpfiger Gutachterausschuss aufgrund der von den Ärztinnen und Ärzten der Kinderfachabteilungen mitgeteilten Beobachtungsergebnisse, ohne die Kinder je gesehen zu haben.

Dieter Hollenrieder war am 4. Juni 1940 in der Frauenklinik Finkenau, der damals größten Hamburger Geburtsklinik, ohne Komplikationen zur Welt gekommen. Seine Eltern, Leonore Babette Hollenrieder und Georg D., waren nicht verheiratet. Der Vater war Kaufmann und hatte eine eigene Familie mit drei Kindern. Leonore stammte aus einer Arbeiterfamilie, ihr Vater war Schlosser. Sie war ledig und wie ihre Schwester damals als Fabrikarbeiterin tätig. Ihr Bruder war Modelltischler. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten die drei Geschwister mit ihren Eltern Siegfried und Babette Hollenrieder in Winterhude gelebt und waren dann nach Barmbek-Süd gezogen. Nach dem Tod Siegfried Hollenrieders zog seine Witwe in die Olivaer Straße auf dem Dulsberg, wo auch Leonore später gemeldet war.

Dieter entwickelte sich im ersten Lebensjahr normal, doch dann verzögerten sich seine nächsten Schritte. Er lernte erst mit zwei Jahren und zwei Monaten Laufen und so gut wie gar nicht Sprechen. Das einzige Wort, das er je sagte, war "Mama". Er machte Masern und Windpocken durch und litt an Rachitis. Seine Mutter schilderte ihn als umgänglich und ausgeglichen, ohne auffällige Müdigkeit oder ein Aufgeregtheit. Seine Stimmungen seien jedoch wechselhaft und er lache oder weine oft ohne erkennbaren Grund.

Mit zweieinhalb Jahren, am 30. Dezember 1942, wurde Dieter zur Beobachtung im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) aufgenommen und bereits am 4. Januar 1943 vom Vertrauensarzt des Gesundheitsamtes auf seinen Geisteszustand hin untersucht. Die Diagnose lautete "erethische Idiotie", eine Intelligenzminderung bei großer Erregbarkeit. Offenbar sahen weder die Ärzte im UKE noch der Vertrauensarzt Dieters Behinderung als meldepflichtig an, weshalb er nicht in eine der beiden "Kinderfachabteilungen", die es zu der Zeit in Hamburg gab, eingewiesen wurde, sondern als Pflegefall in die damaligen Alsterdorfer Anstalten kam. Den entsprechenden Überweisungsschein stellte der Vertrauensarzt am 12. Februar 1943 aus. Die Sozialverwaltung übernahm die Kosten. Dieter blieb bis zu seiner Aufnahme in Alsterdorf am 9. März 1943 im UKE.

Wie alle Neuaufnahmen, kam Dieter Hollenrieder zunächst auf die Krankenstation. Dort wurde festgestellt, dass er sauber und ordentlich gekleidet war und 14,3 kg wog. Es folgte eine ärztliche Untersuchung, die ergab, dass er keine körperlichen Krankheiten hatte. Seine Stimmung war gut, er lachte viel und schien ein sonniges Gemüt zu haben. Aber auffällig war sein Verhalten: Er bewegte sich ständig, machte Schaukelbewegungen mit dem Körper, die wir heute als Hospitalismus deuten, und seine Mundmuskulatur zuckte. Er rannte wild umher und schrie dabei häufig. Schwierigkeiten gab es beim Essen. Er konnte nicht kauen, erhielt nur Brei und musste gefüttert werden. Vielleicht war dies zusammen mit seinem starken Bewegungsdrang der Grund für seine Gewichtsabnahme in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts in Alsterdorf, in denen er ein Kilogramm abnahm. Seine Pflege wurde dadurch erschwert, dass er nicht signalisieren konnte, dass er zur Toilette gehen musste.

Dieter zeigte kein Interesse an seiner Umgebung und konnte mit Spielzeug nichts anfangen. Er ließ sich auch nicht durch gutes Zureden beeinflussen. Gerhard Kreyenberg erstellte routinemäßig einen Stammbaum der Familie, um etwaige erbliche Belastungen zu erfassen und bezog dabei die Familie des Vaters ein, der sich nun auch offiziell zu seiner Vaterschaft bekannte. Dieter stammte demnach aus einer Familie, in der niemand eine geistige oder seelische Krankheit hatte, die an ihn hätte vererbt werden können. Die Ursache seiner Auffälligkeiten wurde nicht geklärt. Dieter wurde auf die normale Kinderstation verlegt. Dort war er immer vergnügt, lief viel draußen umher, hatte guten Appetit und schrie nur, wenn es ihm beim Füttern nicht schnell genug ging.

Dieter Hollenrieder war offenbar doch von der Gesundheitsverwaltung dem Reichsausschuss gemeldet worden und sollte nach dem oben erwähnten Schreiben vom 29. April 1943 in die Kinderfachabteilung in Langenhorn gebracht werden. Die Mutter gab ihr Einverständnis dazu, ob nur zur Aufnahme oder auch zu einer etwaigen Behandlung, geht aus der Krankenakte nicht hervor. Dieters Verlegung sollte am 20. Mai 1943 erfolgen, aber die Leitung der damaligen Alsterdorfer Anstalten weigerte sich, sie vorzunehmen, aus welchen Gründen, ist nicht bekannt. Zweieinhalb Wochen später kam Dieter dann doch in die Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn. Die Mutter wurde darüber informiert.

Bei Dieters Aufnahme am 7. Juni 1943 wurde auf die Alsterdorfer Krankenakte Bezug genommen, der Inhalt bestätigt und ergänzt. Dieter wog nun 14,4 kg bei einer Körpergröße von 94 cm. Festgehalten wurde, dass sein Gehirnschädel im Verhältnis zu seinem schmalen Gesicht stark entwickelt sei, ohne dass daraus diagnostische Folgerungen gezogen wurden. Er wurde als ein sehr lebhafter Junge geschildert, der umherlief und an den Betten kletterte. Als er zu Bett gebracht wurde, versuchte er, das Bettzeug zu zerreißen und kam unter eine "feste Decke", wurde also fixiert. Sein Verhalten wurde als widerspenstig beschrieben. In den folgenden Tagen wurde er ruhiger, schnitt Grimassen, wenn er im Bett saß, und reagierte aber nach wie vor nicht, wenn er angesprochen wurde. Ob je sein Gehör geprüft wurde, geht aus der Krankengeschichte nicht hervor.

Am 24. Juni 1943 kam Dieter erstmals zu anderen Kindern ins Spielzimmer, blieb dort aber für sich allein und nahm auch keine Notiz von den Spielsachen. Vier Tage später bekam er Durchfall und musste das Bett hüten. Damit endete nach nur drei Wochen sein Aufenthalt in der Kinderfachabteilung, denn sie wurde zum Monatsende geschlossen. Die sechs verbliebenen Kinder wurden entweder nach Hause oder in die damaligen Alsterdorfer Anstalten entlassen, wo es keine dem Reichsausschuss unterstehende Kinderfachabteilung gab. So wurde Dieter Hollenrieder bereits am 29. Juni 1943 ein zweites Mal in Alsterdorf aufgenommen. Er kam wiederum zunächst auf die Krankenstation. Dort wurden keine Veränderungen gegenüber seinem vorherigen Befinden und Zustand festgestellt, so dass er am 2. Juli 1943 auf die Abteilung 10 zurückkehrte.

Nach den großen Luftangriffen der Alliierten auf Hamburg im Juli/August 1943, bei denen auch die damaligen Alsterdorfer Anstalten beschädigt wurden, veranlasste Pastor Friedrich Lensch, der damalige Anstaltsleiter, über 450 Patienten und Patientinnen in "luftsichere" Gebiete zu verlegen, um Spielraum für eine andere Nutzung der Anstalt erreichen. Mit Genehmigung der Hamburger Gesundheitsbehörde und in Zusammenarbeit mit der "Euthanasiezentrale" in der Tiergartenstraße 4 in Berlin organisierte er diese Abtransporte. Der erste Transport umfasste 128 Kinder und Männer und verließ Hamburg am 7. August 1943 mit dem Ziel zweier Anstalten im Rheingau.

Eine Gruppe von 52 Jungen und Mädchen zwischen zwei und zwölf Jahren war für die Heil- und Pflegeanstalt Kalmenhof in Idstein am Taunus bestimmt, zu denen auch vier der sechs ehemaligen Langenhorner "Reichsausschusskinder" gehörten: Gerhard Fokuhl, 5 Jahre, Dieter Hollenrieder, 3 Jahre, Rudolf Meyer, 4 Jahre (s. derselbe, Stolpersteine in Rothenburgsort), und Hans-Ludwig Wülflinger, 3 Jahre. Warum gerade sie ausgewählt wurden, ist uns nicht bekannt.

Der Kalmenhof war eine ehemals gut beleumundete Einrichtung, die in zweifacher Weise in das Euthanasieprogramm eingebunden war: als Durchgangsstation zur "Tötungsanstalt" Hadamar und ab Ende 1941 mit einer "Kinderfachabteilung". Unter Umgehung des komplizierten bürokratischen Verfahrens mit der Kindereuthanasie verbunden war, wurden dort sowohl Kinder als auch Erwachsene getötet. Das in Hamburg eingeleitete Reichsausschussverfahren für die vier Jungen wurde auf dem Kalmenhof aus diesem Grund nicht fortgeführt.

Nach ihrer Ankunft auf dem Kalmenhof wurden die Kinder aufgeteilt: 32 kamen gleich in das "Krankenhaus" am Rande der Anstalt, an das sich ein Acker, der als Anstaltsfriedhof diente, anschloss, 20 vorübergehend in das gegenüberliegende "Altenheim". Im Krankenhaus wurden die Kinder nach und nach mit überdosiertem Morphium/Skopolamin oder Luminal ermordet und anschließend auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt. Dieter Hollenrieder kam gleich in das "Krankenhaus", wo er zehn Tage später starb. Er wurde drei Jahre und zwei Monate alt. Ob die Mutter je davon erfuhr, ist nicht bekannt.

Nur ein Kind dieses Transports erlebte das Ende der NS-Herrschaft.

Stand: September 2017
© Hildegard Thevs

Quellen: Hamburger Adressbücher; Archiv Ev. Stiftung Alsterdorf, V 51,V 57, V 68, V 89; StaH 352-8/7, Abl. 2000-01, 8, 18, 47, 54; Thevs, Hildegard, Stolpersteine in Hamburg-Rothenburgsort; Michael Wunder et al., Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr, Stuttgart 2016³.
Stand: 20. September 2017

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