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Porträt Jürgen Puls, Januar 1942
Jürgen Puls, Januar 1942
© Evangelische Stiftung Alsterdorf

Jürgen Puls * 1940

Bismarckstraße 105 (Eimsbüttel, Hoheluft-West)


HIER WOHNTE
JÜRGEN PULS
JG. 1940
EINGEWIESEN 16.12.1941
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 7.8.1943
KALMENHOF / IDSTEIN
"KINDERFACHABTEILUNG"
ERMORDET 8.11.1943

Jürgen Adolf Puls, geb. am 20.3.1940 in Hamburg, eingewiesen am 16.12.1941 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten, "verlegt" am 7.8.1943 in die "Heil- und Pflegeanstalt" Kalmenhof bei Idstein im Taunus, gestorben am 8.11.1943

Bei der Apostelkirche 8

Jürgen Puls kam am 20. März 1940 in Eimsbüttel, Bei der Apostelkirche 8, zur Welt. Sein Vater Hermann Ernst Eduard Puls, geboren am 21. Juni 1874, stammte aus Lübtheen in Mecklenburg. Er war viele Jahre als selbstständiger Gastwirt tätig gewesen, hatte aber später als Kraftfahrer gearbeitet. Seine erste Frau hatte er 1901 in Hannover geheiratet, sie war 1926 verstorben. Im selben Jahr hatte er die aus Celle stammende 28 Jahre jüngere Emma Minna Alwine Dora Elisabeth Gehle geheiratet, geboren am 5. März 1902.

Hermann Ernst Eduard Puls und seine zweite Ehefrau hatten bereits einen 1924 geborenen Sohn. In kurzer Folge bis 1940 kamen vierzehn weitere Kinder zur Welt, von denen vier kurz nach der Geburt starben. Das Ehepaar zog von Hannover nach Celle, Anfang der 1930er-Jahre nach Hamburg.

Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurde Jürgen Puls‘ Vater als Kraftfahrer zur Wehrmacht eingezogen. Seine Mutter arbeitete zu der Zeit als Stewardess auf einem Dampfer, der von Hamburg nach Norwegen fuhr. Der älteste Bruder absolvierte eine Kochlehre, die anderen Geschwister befanden sich in der Kinderlandverschickung, wo die Kinder aus bombengefährdeten Gebieten sich erholen und unterrichtet werden sollten. Jürgen und ein 12 Jahre älterer Bruder waren angeblich ohne ständige Beaufsichtigung im elterlichen Haushalt verblieben.

Eine Fürsorgerin schaltete sich ein. Sie glaubte, Jürgen "drohte zu verkommen". "Wegen Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern" beantragte das Jugendamt Hamburg beim Amtsgericht den Sorgerechtsentzug und veranlasste am 20. Februar 1941 Jürgens Unterbringung in dem städtischen Kleinkinderhaus im Winterhuder Weg.

Obwohl Jürgen bei seiner Aufnahme im Kleinkinderhaus erst elf Monate alt war, bemängelte das Personal dort, dass er noch nicht laufen und sprechen könne, nur breiige Kost zu sich nehme, sich nicht mit Spielsachen beschäftige und auch nicht auf seinen Namen höre. Da er im Heim oft schreie, wütend mit den Beinen strampele und sich nicht beruhigen lasse, notierte seine Erzieherin nach sieben Monaten, er mache einen "schwachsinnigen" Eindruck.

Auf Antrag der Hamburger Jugendbehörde wurde Jürgen am 15. September 1941 vom Amtsarzt Gräfe untersucht und beurteilt: Er hielt Jürgen für völlig unbeeinflussbar, da er auch während der Untersuchung "dauernd grundlos" schreie und vorgehaltene Gegenstände nur kurz fixiere. Er sei ein familiär belastetes, körperlich normal entwickeltes, aber geistig und in seinen Funktionen weit rückständiges Kind, bei dem nicht damit zu rechnen sei, dass er dies in absehbarer Zeit aufholen könne. Der Arzt hielt Jürgens Bewahrung in den Alsterdorfer Anstalten "wegen Schwachsinn" für erforderlich.

Mit dieser Diagnose wurde Jürgen am 16. Dezember 1941 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) als "Bewahrfall" eingewiesen. Die Kosten übernahm das Hamburger Landesfürsorgeamt. Bei seiner Ankunft kam der nun ein Jahr und 20 Monate alte Jürgen Puls zunächst wie üblich auf die Krankenstation.

In seiner Patientenakte hieß es nun: "Pat.[ient] muß in der Körperpflege vollkommen besorgt und gefüttert werden, macht dabei sehr viel Schwierigkeiten, ißt nur Milchsuppe. Sprechen kann er nicht, schreit aber zeitweise sehr viel und wird dann ganz heiser, läßt sich schwer beruhigen. Er beschäftigt sich am liebsten allein mit einem Spielzeug. Gehen kann er nicht, versucht aber am Gitter zu stehen und dann einige Schritte zu gehen, hält sich dabei fest. Seine Bedürfnisse läßt er unter sich, ist nicht trocken zu halten." Zwei Monate später geht aus dem Pflegebericht hervor, dass es mit der Nahrungsaufnahme schon besser ginge. Jürgen schreie auch nicht mehr so viel und habe einige Worte wie "Mama und Papa" gelernt.

Im März 1942 beantragte Jürgens Vater eine Privatpflegestelle oder eine anderweitige Unterbringung für seinen Sohn. Das Jugendamt bat die Alsterdorfer Anstalten um eine Stellungnahme, ob Jürgen für eine Privatpflegestelle geeignet sei, ob eine anderweitige Unterbringungsmöglichkeit in Frage käme und ob die Entlassung aus den Alsterdorfer Anstalten überhaupt zu befürworten sei. Gerhard Schäfer, leitender Arzt in Alsterdorf, lehnte jedoch Jürgens Entlassung ab, für eine Privatpflegestelle sei er nicht geeignet.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Juli/August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, zur "Entlastung" der Anstalt mit mehreren Transporten in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 7. August 1943 wurden 52 Jungen im Alter von zwei bis zwölf Jahren in die "Heil- und Pflegeanstalt" Kalmenhof bei Idstein abtransportiert. Zu den 52 Jungen gehörte auch Jürgen Puls.

Die 1888 gegründete ursprünglich pädagogisch fortschrittliche Einrichtung für Behinderte, der Kalmenhof, war in der Zeit des Nationalsozialismus in das "Euthanasie-Programm" der "Aktion T4" einbezogen worden. Er fungierte als Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar. Im August 1941, nach dem offiziellen Ende der "Aktion T4", wurde im Kalmenhof eine "Kinderfachabteilung" des "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" eingerichtet und nun weiter durch Überdosierungen von Medikamenten getötet.

Dort wurde auch Jürgen Puls ermordet. Er starb am 8. November 1943, drei Monate nach seiner Verlegung. Angeblich starb er – so auf der Sterbeurkunde beim Standesamt Idstein angegeben - an "Idiotie, Ernährungsstörung, Marasmus". Geburtsort und Namen seiner Eltern galten als unbekannt.

Jürgens Mutter war über die Verlegung ihres Sohnes nicht informiert worden. Sie hatte nach ihrer Ausbombung in der Bismarckstraße 105 in Eimsbüttel eine neue Unterkunft gefunden. Am 22. Januar 1944 wandte sie sich schriftlich an die Leitung der Alsterdorfer Anstalten und bat um Auskunft, wo Jürgen sei und wie es ihm gehe. Zwei Tage später erhielt sie die Nachricht, Jürgen sei wegen Beschädigung der Anstalt durch Feindeinwirkung in die "Heil- und Erziehungsanstalt" Idstein verlegt worden. Dass er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben war, wurde ihr nicht mitgeteilt. Ob und wann sie vom Tod ihres Kindes erfuhr, wissen wir nicht.

Stand: Januar 2020
© Susanne Rosendahl

Quellen: Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Sonderakte 77 Puls, Jürgen; StaH 332-5 Standesämter 980 u 215/1931; ancestry: Heiratsurkunde von Hermann Ernst Eduard Puls und Wilhelmine Sofie Marie Unbescheiden vom 16.2.1901 in Hannover (Zugriff 23.9.2019); ancestry: Sterbeurkunde von Jürgen Puls am 8.11.1943 in Idstein, Hessen (Zugriff 23.9.2019); ancestry: Einwohnerbuch des Stadt- und Landkreises Celle, 1931-1932 (Zugriff 23.9.2019); Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 2. Aufl. Hamburg 1988.

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